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DBD /w V
Als ich aus dem Zug steige, wartet am Bahngleis ein Typ, der so aussieht, wie sich russische Namen anhören. Er hält ein Schild hoch, auf dem „Brghudde“ steht, und weil Gott mich hasst, sieht der Kollege, der auf ihn zugeht, richtig gut aus.
Natürlich wünscht man sich bei einem Doppel-Blind-Date, dass der andere Typ hässlich ist. Erhöht die Chancen auf Dinge, die sonst nur Franzosen tun. Und damit meine ich nicht, Croissants in Kaffee tunken.
Der „Brghudde“-Typ fährt einen rostblauen Ford Taunus und so wie es uns durchschüttelt, fährt er ihn schon sehr lange.
Der Kollege und ich sitzen auf der Rückbank, halten uns mit einer Hand an den Griffen fest und ziehen unsere Bäuche ein. Draußen schneit es; drinnen ist es laut. Wir huppeln über die Piste. Wenn es besonders huppelt, schlage ich mit dem Kopf gegen das Dach. Die meiste Zeit denke ich daran, wie wichtig Stoßdämpfer sind, aber als ich gerade weiterdenken will, und mich frage, wie die Frau wohl so sein wird und was für Frauen sich überhaupt auf so etwas einlassen und ob man sich auch unterhalten kann oder ob von einem erwartet wird, die Nacht durchzurackern wie ein Arbeiter in der Salzmine, huppelt es und ich fang wieder von vorne an. Stoßdämpfer.
Der andere sagt irgendwann: „Ich heiße Rose! Freut mich, dich kennenzulernen!“
Ich denke, dass Rose ein ganz schön schwuler Name ist. Und sage: „Winter, freut mich auch!“ Weil Sommer auch irgendwie schwul klingt. Zu nah an Frühling.
„Rustikales Ambiente!“, schreit Rose. „Hat was von Libyen, nur mit Schnee statt Sand.“
„Erinnert mich eher an Hoth!“, schreie ich zurück.
„Was?“
„Nicht so wichtig!“
„Ist ja Bombenstimmung in Libyen gerade!“, schreit Rose. „Und Japan geht einer strahlenden Zukunft entgegen!“
Während ich mich frage, ob man ihn vermissen würde, wenn er von dem Trip nicht zurückkäme, schlägt er mir mit der freien Hand auf den Oberschenkel und ruft: „Strahlend! Wegen der Kernschmelze. Strahlend! Verstehst du?“
Ich schenke ihm das kleinste Lächeln der Welt.
Als der Wagen hält, ist es still. Die Welt ist verstummt. So muss sich Beethoven gefühlt haben. Dann räuspert sich Rose und macht ein „Uah!“-Geräusch, das blieb Beethoven sicher erspart.
Die letzte halbe Stunde sind wir Serpentinen nach oben gefahren, halsbrecherische, verwinkelte, kleine Dinger. Und als ich nun aus dem Wagen steige, habe ich eher das Gefühl, eine Rummelplatzattraktion zu verlassen, die von einem echt fiesen Känguru bedient wurde, als irgendetwas in der echten Welt zu tun.
Die Hütte sieht von außen überraschend gut aus. Wie frisch von einer Horde Biber zusammengezimmert. Schnee liegt auf dem Schrägdach, das war zu erwarten. Man sieht ein paar Fenster, sicher doppelt verglast, damit die Wärme drin bleibt, oder wie man das nennt.
Brghudde steigt auch aus dem Gefährt, schüttelt den Kopf beim Aussteigen, als könne er selbst es nicht fassen, dass die verdammte Schrottkiste ein weiteres Mal den Weg geschafft hat. Mit festen Schritten stapft er durch den Schnee und hält dabei einen Schlüssel vor sich, ausgestreckt als sei es irgendein sakrales Objekt. Wir trotten ihm nach. Brghudde sperrt die Tür auf, bückt sich unter ihr hindurch, hält sie dann mit seinem Rücken hinter sich, verbeugt sich halb und macht eine britisch-einladende Geste. Dazu sagt er: „Heiße Sie willkommen! Biedde treten Sie ein!“
Ein bisschen klingt er wie Chekov nach einer wirklich schlechten Nachtschicht. Ich sollte ihn fragen, ob er mal Captain, Captain sagen kann.
„Hole jetzt die Lahdies! Wünsche angenehmen Aufenthalt, die Herren!“, sagt Brghudde und das nächste, was Rose und ich hören, ist das Tuck-Tuck des Fords.
„Wenn der vom Berg fällt, sterben wir hier oben“, sagt Rose vor dem Kamin stehend.
„Hm“, mache ich.
„Ist doch so, kein Mensch weiß, dass wir hier sind. Wenn der clever ist, kommt er einfach in drei Wochen wieder hier hoch, rollt unsere Leichen den Berg runter und räumt uns die Taschen aus.“ Während er das sagt, streicht er mit einer Hand über die Armbanduhr an seinem Handgelenkt.
„Wenn er clever ist …“, sage ich, um mich zu beruhigen.
Rose schmeißt ein paar Holzscheite in den Kamin, ich schaue mich derweil in der Hütte um. Es gibt zwei kleine Zimmer mit nicht viel mehr als einem Bett und zahlreichen Thermodecken, im Hauptzimmer steht der Kamin, davor ein scheußliches Sofa, zwei Holzstühle und in einer Ecke ist noch eine Kochnische. Keine Lebensmittel da, nur ein paar Flaschen Wodka.
„Du hast Recht“, sagt Rose. „Wenn er wirklich clever ist, dann schmeißt er unsere Leichen nicht den Berg runter, sondern verkauft die Organe. Kriegt man bestimmt ein paar Tausend für.“
Irgendwie hat es Rose geschafft, sich auf das Sofa zu schmuggeln. Sitzt dort nun mit übergeschlagenen Beinen und sieht feingliedrig aus und mysteriös. Wenn er nichts sagt, könnte man ihn für einen wirklich gut aussehenden, smarten Typen halten.
Ich sitze auf einem Holzstuhl, den Kamin zu meiner Rechten, und sehe aus dem Fenster. Draußen wird es dunkel.
Rose macht einige „Uah“- und „Mmmh“-Geräusche, um keinen Zweifel an seiner Anwesenheit aufkommen zu lassen, immer wieder sucht er meinen Blick, ich sehe es aus den Augenwinkel, aber gucke nach draußen. Ich bin nicht wie er.
„Hoffentlich sind sie sauber“, sagt er. „Ich meine, ich bin ja nicht deswegen da, aber wenn das so Osteuropäerinnen sind. Kein Bock, da erst mit Nagelschere und Sagrotan ranzugehen, wenn du verstehst, was ich meine.“
Ich sage nichts.
„Und hoffentlich sind die schon achtzehn. Keine Ahnung, wie du das siehst, aber ich hab da meine Prinzipien.“
„Ich auch“, sage ich.
„Aber es geht ja nicht darum, ist ja das Ambiente. Ich meine, da hat man doch was zu erzählen. Stell dir mal vor, du sagst deinem Sohn später: Mama hab ich auf ’nem Survival-Trip kennengelernt. Das ist doch mal eine Geschichte.“
„Ich will nicht darüber reden“, sage ich.
„Und hier hat man ja wirklich Zeit, sich kennenzulernen. Ich meine, sich richtig kennenzulernen. Hier lenkt ja nichts ab. Und auf der Arbeit, also von der Arbeit will ich keine. Gibt nur Drama.“
Der Holzscheit im Kamin knistert, ich reibe über meine Oberarme, während ich nach draußen schaue.
„Es kostet halt auch ordentlich was. Wer will schon eine, die man nach drei Stunden kriegt, einmal Kino, ein Salat und zwei Colas. Ich meine, wir haben hier eine eigene Berghütte. Wir investieren ein Wochenende.“
Es ist Nacht. Wir lauschen. Kein Tuck-Tuck zu hören, nur das Knistern der Scheite.
„Wenn er in zwei Tagen nicht wieder da ist, esse ich dich“, sagt Rose und lächelt smart.
„Dann wirst du zu einem Wendigo“, sage ich.
„Wieso sollte ich zu einem Auto werden, wenn ich dich esse?“, fragt er.
Als wir endlich die Lichtaugen des Ford Taunus sehen, steht er schon fast vor der Hütte. Ich muss mich zwingen, sitzen zu bleiben. Rose zieht auf der Couch sitzend seine Jacke aus und legt sie hinter sich, wie meine Mutter früher ein Handtuch auf die Strandliege gelegt hat in den Sommerferien.
Ich frage mich, was dem Wagen im schlimmsten Fall entsteigen könnte. Pia, denke ich. Das würde Gott gefallen: Wenn ich acht Stunden Zug fahre und vierhundert Euro ausgebe, um dann meine Ex-Freundin zu treffen. Diesen widerlichen kleinen Gnom!
Wenn wir dürften, würden Rose und ich jetzt mit dem Gesicht an der Glasscheibe hängen, hecheln, bis sie beschlägt, so sehr begehren wir zu wissen, wer da aus dem Auto steigt, und als dann schließlich die Tür aufgeht – Rose zuckt ein wenig vom Sofa hoch, ich nicht, ich bin cool, ich bleibe sitzen – steht da nur Brghudde. Hält die Tür hinter sich, macht einen Knicks, breitet den Arm aus und sagt: „Biedde, kommen Sie rein, die Lahdies!“
Als erstes tippelt ein blonder Zwerg hinein, einsachtundsechzig in hohen Schuhen und an einem guten Tag, blonde Ponyfrisur, dass einem die Enden der Haare auf Backenhöhe entgegenzeigen wie drohende Finger, Brille auf der Nase, um zu zeigen, dass man nicht eitel ist. Pia wie aus dem Gesicht geschnitten. Trägt so eine Thermo-Daunen-Jacke, dass man gar nicht erkennen kann, ob’s ein Männlein oder ein Weiblein ist; nur die Nase ist spitz, alles andere irgendwie rund.
Ich kann mein Glück kaum fassen, als sie kurz im Raum umherschaut – wie eine Hyäne, um Witterung aufzunehmen - und sich dann auf die Couch setzt neben Rose.
Danach betritt die zukünftige Frau Sommer den Raum! Wie ein wunderschönes Tier sieht sie aus. Die Haare sind auf dem Kopf und fließen den Rücken herunter, wie es sein soll. Raubtieraugen, leicht schräg stehend, und einen wunderbaren Hals hat sie. Den Hals eines Schwans, hohe Wangenknochen, eine Dame, die Stirn hoch, die Nase ein Zwinkern und Beine wie die einer Hürdenläuferin. Sie lächelt, wie Frauen im Himmel lächeln sollten, verheißend und verlockend, wie der Biss in eine süße Frucht, dann gleitet sie auf mich zu, ich kann gar nicht sehen, wie sich ihre Füße bewegen, und sie setzt sich – Rose wird sich in den Hintern beißen – auf meinen Schoß. Ihre Beine auf meinen. Sie riecht wie ein Korb voll Äpfel.
„Wünsche angenehme Nacht!“, sagt jemand.
„Woher wissen wir, dass Sie wiederkommen?“, höre ich Rose.
„Ja, woher?“, quäkt eine hohe Stimme.
Ich spüre nur ein zartes Tippen auf meiner Schulter. Das einzige, was ich sehen kann, ist ihr Hals, ihr wunderbarer Hals, und ich rieche sie. Ich glaube, sie gurrt. Ich glaube, sie gurrt mich an. Ein Niederfrequenz-Gurren, mir wird warm im Bauch.
Wieder das Quäken: „Also Sie müssen der Herr Sommer sein.“
„Rose“, sagt Rose.
„Oh“, sagt das Quäken.
Und die zukünftige Frau Sommer entschwebt mir, sie enteilt, ist auf und davon, im Hauche eines Flügelschlags. Ich erhasche noch den Apfelgeruch, dann sitzt sie auf der Couch, und auf mich zeigen zwei drohende Haarenden und der Zwerg mustert mich mit hochgezogenen, runden Brauen und fragt: „Athletisch?“
Dann zeigt sie auf Rose, dessen Gesicht nun aufblüht, als sich die kurzzeitige Frau Sommer neben ihn setzt. „Der ist athletisch, aber du? In welcher Realität bist du denn athletisch?“
Ich hebe die Hände ein wenig hoch.
Der Zwerg setzt sich auf den Stuhl weit entfernt von mir, Rose hat derweil schon den Kopf im Schlüsselbein der Schwarzhaarigen versenkt.
„Warum schreibst du denn in dein Profil athletisch, wenn du es gar nicht bist?“
Gott hasst mich.
Weil wir nicht über den ganzen Raum schreien wollen, um Rose und den Schwan zu stören, die schon bei Soft-Petting angelangt sind, hat der Zwerg den Stuhl unter großem Aufwand und mit Ächzen zu mir herübergeschleppt.
„Also ihr habt unser Profil gesehen?“, frage ich und schaue dabei auch auf die Couch.
„Ich fahr doch nicht anonym zu so was“, ihre Augen ruhen auf meinem Bauch.
Roses Finger haben sich hinter dem Rücken der Schwarzhaarigen verknotet, halten sie dicht über ihrem Hintern; sie hat sich halb auf ihn gelegt, gerade wird er sie überall spüren, wo man eine Frau nur spüren will.
„Im Gegensatz zu anderen Leuten rede ich, weißt du.“
„Hm?“
„Bin ein Modell mit Sprachausgabe“, sagt sie und lächelt.
Ich lächle auch. „Ist witzig“, sage ich. Denke dabei aber: Wenn ich lachen wollte, wäre ich mit einem Komiker zusammen.
„Also du bist Akademiker?“
Oh Gott, was hab ich nur alles in das Profil geschrieben?
Während wir reden, gleitet mein Blick immer wieder zur Couch, dann spricht Tina lauter, und ich muss sie wieder anschauen.
Tina studiert Kommunikationswissenschaften und neue Medien in Münster. Tina hofft, dass sie die Erfahrung hier in einem Artikel verarbeiten kann, sobald sie ihre Volontariatsstelle angetreten hat. Tina glaubt, Leute, die sich zu so was ernsthaft verabreden, sind einfach armselig. Ironisch sei es aber okay.
Unterdessen kann ich Roses Hände nicht mehr sehen. Seit einer Viertelstunde nicht mehr. Tina hält eisern einen sechzig Zentimeter Abstand zu mir ein, als sei sie gesetzlich dazu verpflichtet.
„Ich guck mal, ob ich etwas zu trinken finde“, sage ich und stehe auf. „Etwas soziales Schmiermittel.“
„Für mich nicht, danke“, sagt Tina.
Gerade als ich aufgestanden bin, kracht etwas von oben auf die Decke. Ich bleibe in der Bewegung stehen und schaue nach oben. Ich kann Schritte hören, höre Rose atmen, Tina schaut auch nach oben, da sind Schritte. In stetem Abstand.
„Jemand ist auf dem Dach!“, sage ich.
Die Schwarzhaarige dreht träge ihren Kopf von Rose weg und streicht mit dem Kinn über ihre Schulter, sieht dabei aus wie eine satte Katze. Rose ist nun wieder sichtbar.
„Ich hör nix!“, sagt er.
„Kein Wunder“, zischt Tina, „kein Blut mehr im Schädel.“
Wieder Schritte. Etwas Staub fällt nach unten, ich verenge die Augen. In meiner Hand habe ich eine Flasche mit klarer Flüssigkeit, Wodka wie ich vermute. Komisch, dass sie mir erst jetzt auffällt.
„Psst“, mache ich und lege einen Finger an die Lippen.
Die Schritte auf dem Dach sind gut hörbar, es knarzt, das alte Holz knarzt.
„Hallo!“, ruft Rose. „Ist da wer?!“
Tinas und mein Kopf rucken zeitgleich zu ihm.
Er hebt die Schwarzhaarige ein Stück weit von sich – sie erträgt es ohne Protest – und setzt sich auf. „Ich geh mal raus, nachsehen“, sagt er. „Kommst du mit?“
„Spinnst du!“, flüstere ich.
„Wieso nicht?“
„Weil ich in meinem Leben schon mal einen Scheiß Film gesehen habe. Man geht nie raus und sieht nach!“
Rose hält sich den „Du spinnst“-Finger an die Schläfe und dreht ihn, gibt seiner Freundin einen Schmatzer auf die Wange und steht auf.
„Bin gleich wieder da“, sagt er.
Tina und ich schrecken zusammen.
„Recht hast du“, flüstert mir Tina zu, ich stehe jetzt hinter ihr, die Wodka-Flasche immer noch in der Hand.
Rose ist schon an der Tür und stößt sie auf, Eiswind fährt in die Hütte, das Feuer im Kamin flackert. Frische Luft, denke ich. Nach was hat es denn die ganze Zeit gerochen? Ich spüre Tinas Hand auf meiner, sie führt meine Hand nun auf ihre Schulter.
„Hallo?“, ruft Rose. „Perestroika, Sputnik, Glasnost. Ist da wer? Hallo?“
Tina und ich finden das nicht witzig. Noch können wir seinen Rücken in der Tür sehen. Jeden Moment rechne ich damit, dass ihn irgendetwas packt, etwas von oben auf ihn fällt – fast immer kommt es von oben – und ihn beißt, zerfleischt und aussaugt. Ihm die Gedärme ausreißt, sich in ihn bohrt und Eier ablegt.
Der Schnee quietscht unter seinen Schritten, als er sich aus dem Türrahmen entfernt. Tina streichelt meine Hand nun fester.
Wir lauschen jedem seiner Schritte nach, ich sehe mich in der Hütte um, ein Schürhaken, im Kamin ist ein gusseiserner, schwarzer Schürhaken. Ich merke, wie Tinas Herz klopft. Wo hab ich eigentlich gerade meine Hand?
Die Schwarzhaarige sitzt auf ihren Beinen, hat sie unter sich geschlagen und sitzt dort auf der Couch auf Roses Jacke, als habe sie nie etwas anderes gemacht. Als säße sie da auf einer Ohnmachts-Couch, jederzeit bereit – Tinas Hand wieder, ich wende den Blick von ihr ab und lausche nach.
„Was meinst du?“, flüstert Tina. „Psychopathen?“
„Und wenn nicht? Ein Kreuz? Hast du ein Kreuz?“
„Atheistin.“
„Schöne Scheiße“, flüstere ich. „Wir hätten es echt besser wissen müssen.“
„Dabei liebe ich Horrorfilme, From Dusk till Dawn hab ich fünfmal geguckt.“
„Was?“, zische ich. „Und warum labern wir dann eine halbe Stunde über dein Volontariat?“
Sie zuckt entschuldigend mit den Schultern.
Dann wird das Gerappel auf dem Dach lauter, ein Galoppieren, es ist unüberhörbar, das Dach zittert. Rose ruft draußen: „Hallo?“ Dann ein Rappeln. Es tut einen Schlag. Ich weiß nicht, was es für ein Geräusch ist, ich zittere. Rose flucht. Wir hören Schritte, mein Blick flieht rüber zu dem Schürhaken, Tinas Herz klopft, ich kann es fühlen, es steckt mich an, schwingt durch meine Hand mit nach oben, dann steht Rose in der Tür, hat etwas Schnee auf den Haaren und schüttelt sie ab.
„Was?“, frage ich.
„Ein Tier, ein Fuchs, ein Eichhörnchen oder so. Was denkst du denn?“
„Hat’s dich gebissen?“, frage ich.
„Spinnst du?“, Rose zuckt die Schultern und setzt sich wieder auf die Couch.
„Hand“, sagt Tina.
Und als ich meinen Arm hinunterschaue, sehe ich, wo meine Hand gerade ist.
„Sofort“, sagt Tina.
Ich ziehe sie schnell weg.
Weil die Schwarzhaarige und Rose mittlerweile verschwunden sind, sitzen wir nun auf der Couch. Nebeneinander, artig wie Bruder und Schwester.
Tina sagt: „Das ist deine Schuld, du hast mich angesteckt.“
„Ich kann nichts dafür.“
„Erstarrst da panisch, nur weil ein Eichhörnchen auf dem Dach ist und machst mich ganz kirre. Und so was will ein richtiger Mann sein?“
„Na hör mal, du hast mir die Hand doch richtig an deine Brust gezogen.“
„Weil du so getan hast, als wären wir kurz davor, von irgendwelchen Hinterwäldern abgeschlachtet zu werden.“
„Ich dachte an Vampire“, verteidige ich mich.
„Guckst die ganze Zeit Schneeflittchen auf die Titten, erzähl mir doch nichts von Vampiren, du hast das mit den Horrorfilmen in meinem Profil gelesen. Das war geplant.“ Tina verschränkt die Arme über der Brust.
„Ja, natürlich. Ich denke mir einen Plan aus, in dem ich wie der letzte Arsch da stehe. Brillant.“
„Du hast ja auch geschrieben, du wärst athletisch, was soll man denn von einem erwarten, der“, sie schlägt mir mit einer Hand auf den Bauch, „damit behauptet, er sei athletisch!“
„Vielleicht bist du ja auch nicht mein Typ“, sage ich und halte sie am Handgelenk fest.
Ihr Kopf ruckt zu mir, eine Haarspitze streift meine Wange, wir schauen einander in die Augen.
„Vielleicht“, sagt sie. Dann höre ich Roses Stöhnen aus dem anderen Zimmer und das Gequietsche des Bettes.
Wir sitzen nebeneinander und tun beide so, als hörten wir nichts. Nach einer Weile sage ich: „Wusstest du, dass die Eskimos achtzig verschiedene Wörter für Schnee haben.“
„Die heißen Innuit“, sagt Tina. „Und sie haben keine achtzig Worte für Schnee, ihre Sprache funktioniert nur anders, sie machen aus allem ein neues Nomen.“
Ich lasse eine Hand auf die Couch fallen.
„Tut mir leid“, sagt Tina nach einer ganzen Weile.
Wir hören Rose stöhnen.
„Wusstest du, dass Karaoke japanisch ist für leeres Orchester?“, frage ich.
„Ich glaube, ich gehe schlafen. Morgen wieder so lange im Zug, da kann ich nie schlafen. Nimmst du die Couch, ja? Gute Nacht.“
Ich nehme einen Schluck von der klaren Flüssigkeit, lege noch zwei Scheite in den Kamin und rolle mich auf der Couch zusammen
Gott hasst mich.
Natürlich kann ich nicht einschlafen. In meinem Kopf hab ich drei Gedankenstränge, wild ineinander verknotet, verwoben wie ein Krebsgeschwür.
Einer sagt mir, dass ich vierhundert Euro ausgegeben habe, damit ich eine Geschichte erlebe, die ich nie jemandem erzählen werde, weil ich darin wie ein Vollidiot aussehe, der einer Frau, die er nicht mal leiden kann, für vierhundert Euro an eine Brust gefasst hat, ohne es richtig mitzukriegen.
Der zweite Gedankenstrang dreht sich darum, dass ich für vierhundert Euro zwanzigmal Kino mit Salat und zweimal Cola bekommen hätte oder vier mal garantierten Sex mit irgendeinem netten Mädchen von der Königsstraße.
Und der letzte Strang befasst sich damit, wie ich doch noch bei Tina landen kann.
Ich stehe eine ganze Weile vor ihrer Tür, hab die Wodkaflasche noch in der Hand und lege immer wieder eine Hand auf die Tür, um zu klopfen. Energisch zu klopfen. Viel getrunken hab ich noch nicht.
Schließlich schaffe ich es, hebe meine Hand und höre einen sehr lauten Schrei. Er geht durchs Mark. Ich habe das bisher nie verstanden. Ein Schrei, der durchs Mark geht, aber ich fühle es, ich spüre diesen Schrei in meinem Rücken. Er hallt nach.
Die Tür vor mir geht auf, Tina immer noch in der dicken Daunenjacke, aber unten rum fast nackt, nur eine Pyjamahose oder so etwas, wie kann ich darauf achten?
„Warst du das!“, sie schreit mich an. „Warst du das? Ist das irgendein Plan, um mich in Bett zu kriegen, nur weil du weißt, dass mich das anmacht? Sag es!“
„Leck mich! Nein“, sag ich. Ihre Hände sind dicht an meiner Kehle, sie muss sich ganz schön strecken, weil sie ja ein Zwerg ist.
„Wer kann dann geschrien haben?“
Unser beider Blicke wandern zu der Tür, hinter die Rose mit der Schwarzhaarigen verschwunden ist.
„Rose?“, rufe ich.
„Psst!“, Tina schlägt mich auf die Schulter. „Bist du verrückt?“
„Sei nicht albern“, zisch ich.
„Aber du hast den Schrei doch auch gehört.“
„Vielleicht schreit die Schwarzhaarige so, was weiß ich.“
Ich mache einen Schritt von ihr weg, Tina hält mich am Rücken fest. „Sei kein Idiot!“, zischt sie.
Mit langen Schritten gehe ich auf die Tür zu, am knisternden Kamin vorbei, Tina tippelt hinter mir. Ich klopfe an Roses Tür. Zweimal.
„Rose!“, rufe ich. „Ist bei dir und deiner kleinen Freundin alles okay?“
„Oh Gott, oh Gott, oh Gott“, Tina hinter mir. „Das fühlt sich nicht gut an.“
„Rose!“, rufe ich. „Ich komm jetzt rein, nicht dass du einen Herzinfarkt hast und ich dann dran bin wegen unterlassener“, in dem Moment ziehe ich die Tür auf und kriege den Satz nicht mehr zu Ende.
Das Fenster ist auf, der Wind weht mir entgegen und ich kann das Blut riechen und die Gedärme. Wie in einer Schlachterei riecht es auf einmal. Und es sieht auch so aus.
Rose liegt bleich und nackt auf dem Bett, alle Viere von sich gestreckt. Auf seiner Brust kann man ein paar Haare sehen, die Bauchhöhle ist offen, Gekröse ist zu erkennen. Ein Würgereiz steigt in mir hoch, hebt sich aus der Bauchgegend, als hätte man sich verschluckt, als sei da gar nichts, was man hoch drücken könne, als sei da nur Luft. Als ziehe man Luft an.
Roses Kehle ist aufgeschnitten, die Brust, die Haare auf der Brust saugen sich mit Blut voll, es ist dunkelrot. Über seinem linken Arm, als sei sie ein Requisit, das man abgestellt hat, liegt die Schwarzhaarige, ihre Haare fallen ihr bis über den Rücken, sie liegt dort auf ihrem Bauch und auf Roses Hüfte. Ihr Po sieht wunderbar aus. Wie eine Skulptur.
Roses Blick ist tot, die Augen aufgerissen. So wie Rose vor Stunden, kaum dass er sie kennengelernt hatte, seinen Kopf in ihrem Schlüsselbein vergraben hatte, liegt sie nun da. Ich denke: Ein One-Night-Stand, auf ewig vereint.
„Vielleicht lebt sie noch, ich glaube, sie bewegt sich“, Tina spricht mechanisch. Kein Quäken mehr in der Stimme. Als hätte man ihr die Bässe und Höhen abgestellt. Als sei ihr Equalizier verstellt. Völlig verstellt.
Ich sehe auf die Füße der Toten. Absurd, die Füße sind noch heil. Ganz ganz. Roses Zehen stehen nach oben, fünf auf jeder Seite, wie in einem Kinderlied, pedikürt, man kann das sehen. Sogar seine Zehen sind schöner als meine. Von der Schwarzhaarigen sieht man die Sohlen, kleine Linien darin. Wie in Zeitlupe tritt nun Tina ins Bild, geht an mir vorbei, nimmt zwei Finger der linken Hand und hält sie an den Hals der Schwarzhaarigen. In die kommt Bewegung: Sie wirbelt herum, ihr Mund ist voller Rot. Es spritzt, ich schaue nach oben, auf Tinas Gesicht sind kleine rostrote Spritzer, ich schaue wieder auf die Schwarzhaarige, auf den Rotmund. Zähne. Spitze Zähne. Tina ist erstarrt, ich strecke eine Hand aus, alles holpert und stolpert, rostrotes Blut wirbelt, ich kriege eine Hand nach oben, die freie, nicht die mit der Flasche Wodka, erwische Tina an der Daunenjacke und reiße an ihr, reiße sie zu mir.
Ich sehe wie ihre beiden Finger, mit denen sie den Puls der Schwarzhaarigen fühlen wollte, zurückgerissen werden, im letzten Moment, kurz bevor sich die Kiefer des roten Mundes um sie schließen.
Der Rotmund macht ein furchtbares Geräusch, als er nach oben schnellt. Es schmatzt, aus Roses Hals sprudelt das Blut, als hätte man einen Finger von einer undichten Wasserleitung genommen.
Schürhaken, denke ich. Dann springt mich der Rotmund an.
Es ist eine Hackbewegung, wie ein Zucken, es folgt keinem fassbaren Ablauf, in einem Moment liegt sie noch auf Rose und saugt an seinem Hals wie ein Tier, im nächsten sind all ihre Gliedmaßen in der Luft und sie jagt auf mich zu. Ich reiße die Hand mit der Wodkaflasche hoch, alles instinktiv, als wolle ich einen scharf geworfenen Basketball fangen, sie kracht gegen meine Schulter, ich falle nach hinten um, knalle mit dem Hinterkopf gegen den Boden und höre das Klacken ihres Kiefers. Rotmund riecht immer noch nach Äpfeln. Ganz intensiv nun. Als sei ich mitten in einer Kelterei, wenn sie die Äpfel zu Most zerquetschen, die Bauersfrauen mit ihren stämmigen, haarigen Waden.
Die rechte Hand hab ich an ihrer Kehle, unter ihrem Kinn, ich drücke sie von mir weg, sie wiegt nichts, besteht nur aus Kanten und Sehnen, aus ihrem roten Mund tropft Blut auf mich herab, ich schließe die Augen, will nichts in die Augen kriegen, mit der anderen Hand schlage ich einfach an ihren Schädel, von links nach oben, meine Schulter brennt. Schlage und schlage. Wie bei einer Gymnastikübung. Es klirrt, Wodka nun auf ihrer linken Seite. Es macht ihr nichts, sie beißt weiter, ihr Hals springt gegen meinen Arm, wie eine Säge gegen Holz, sie strampelt, alles an ihrem Körper hackt auf mich ein, drückt sich gegen mich, schneidet und beißt und ist bissgeil.
Biss um Biss scheint sie mir näher zu kommen, zielt auf meine Augen, auf meine Nase, ihre Zähne funkeln, aber das bilde ich mir ein, ich beiße meine Zähne zusammen, schlage weiter mit einer Hand auf sie ein – nichts, als schlüge ich gegen eine Platte aus Stein. Ich atme flach, habe die rechte Hand immer noch unter ihrem Kinn.
Dann wird es heiß. Funken stieben auf, etwas Metallisches kann ich sehen. Ein Auge, es riecht, dem Rotmund fehlt ein Auge, aber das Drängen nimmt zu.
„Hoch!“, schreit jemand. „Halt Sie hoch!“
Ich drück meine Hand weiter nach oben: Der Rotmund brennt im Gesicht. Die linke Gesichtshälfte von der makellosen Stirn bis hinunter zum blutdurchtränkten Kiefer. Es lodert wie ein Fichtenwald. Tina hat ihr den Schürhaken auf die Seite gedroschen, die ich vorhin mit dem Wodka erwischt habe. Blutmunds Haare brennen. Aber noch immer jagen ihre Klauen nach mir. Noch immer presst sie sich gegen mich.
„Höher!“, schreit jemand.
Mit aller Kraft reiße ich meinen Arm nach oben, für einen Moment gibt sie nach, und ich kann den zweiten Arm unter ihren Körper bringen und sie nach oben drücken.
Tina donnert ihr den Schürhaken voll auf die Schnauze. Zähne brechen. Als Tina den Schürhaken wieder herausziehen will, verhakt er sich im Mundwinkel. Fleisch wird von innen nach außen gestülpt, Blut und Haut fliegen herunter.
Ein Knie landet in meinem Bauch, mir bleibt kurz die Luft weg.
„Sommer!“, schreit jemand.
Als ich wieder nach oben schaue, sehe ich, dass wir mittlerweile im Hauptzimmer sind, ich liege auf dem Rücken und kann mich kaum bewegen, Tina krabbelt auf allen Vieren, Blutmund hat eine Hand an ihrer Wade, hängt auf ihr wie ein Parasit.
Tina schreit. Blutmund krabbelt nach oben, rankt sich an ihr hoch wie Efeu an einer Wand, wächst die Beine hoch, über den Rücken, ist am Hals, hebt den Kopf in den Nacken, auf der einen Seite hat sie noch Zähne, ich kann sie sehen, und will ihn nach unten donnern.
Da erwische ich sie am Haarschopf, bekomme sie zu fassen, packe die Schlampe und reiße sie an dem Haarschopf nach oben, schleudere sie von mir weg, auf den Kamin zu.
Sie schreit, Flammen spritzen nach oben, alles fängt Feuer, ich packe Tina an ihrer Daunenjacke und trage sie nach draußen.
Während hinter uns die Hütte abfackelt, sitzen Tina und ich im Schnee und schauen dem Sonnenaufgang bei der Arbeit zu.
„Der Typ müsste bald kommen“, sagt sie.
„Also du stehst auf Horrorfilme?“, frage ich.
Dann fängt sie an zu lachen.
Manchmal hat mich Gott so richtig gern.