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Dawn
-Magdalena Elmecker-
„Dies Geschöpf der Finsternis, ich nenn es mein!“
-William Shakespeare„
Erster Teil: Wüste
Das Jahr 7044. Rötliche Blitze legen den Himmel über der Stadt in Trümmer. Nicht irgendeine Stadt. Die Stadt. Stadt aller Städte. Ihre Bewohner tauften sie einst auf den Namen Horizon, da sie den Horizont für sich allein beansprucht. Zwei Milliarden Menschen bevölkern Horizons endlose Häuserschluchten. Bezirke oder erkennbare Strukturen gibt es nicht mehr. Die Mühlen der Zeit haben Straßen und Häuser miteinander verwoben. Zu einem Labyrinth ohne Zweck. Ein außer Kontrolle gewachsener Irrgarten, der den Verstand bezwingt.
Höhen, die einst der Natur vorbehalten waren, wurden vor langer Zeit entthront. Horizons Wolkenkratzer, aus Stahl und Beton gegossene Titanen, bohren sich in den Himmel. Sie durchstoßen den grau-giftigen Wolkenteppich, der so alt ist wie die Stadt selbst. Die höchsten Etagen faulen verwaist und verlassen vor sich hin. Horizons toxischer Atem hat die Menschen schon vor langer Zeit zurückgedrängt. Als Folge dessen, begannen sie zu graben. Beharrlich bohren sich die Wurzeln der Stadt in die verseuchte Erde. Tag um Tag. Stunde um Stunde. Die Sonne, Mutter aller Dinge, gehört nicht mehr dazu. Ihre Kinder haben sie verstoßen. Zahllose Leitungen speisen dieses erschöpfte Land mit Strom, Licht und Wasser.
In Horizon existiert der Einzelne nicht. Die Bewohner sind die Sandkörner, die diese Stadt zur Wüste werden lassen. Milliarden von Seelen flechten in quälender Einsamkeit ein apokalyptisches Herz der Finsternis. Einen zum bersten angespannten Muskel ohne Aufgabe. Ohne Ziel. Engel liegen in Ketten. All die Götter und Propheten sind verdammt. Ihr Vermächtnis, es schreit um Hilfe.
In den Straßen sorgt die Horde weitestgehend für Recht und Gesetz. Die Horde, stark maskierte Schutzmänner mit der Anweisung das Chaos im Keim zu ersticken. Koste es, was es wolle. Feuer gegen Feuer. Blut gegen Blut. Eine von menschlichem Wahnsinn erzogene Kontrollmaschinerie ohne jegliches Gespür für Gnade oder gar Mitleid.
Die Droge Ghost hat eine Kirche erschaffen, für die Müden und die Gebrochenen. Eine synthetische Religion ohne Hoffnung. Wer ihr verfällt, dem öffnet sie schon bald den Schädel um den Geist zu sezieren. Menschen verkaufen ihren Rest klaren Verstandes für ein paar Stunden der Ruhe. Ruhe vor dem Ständigen und dem Fortwährenden. Ghost verspricht Stille gegen Seele. Denn die Stadt schläft nie. Erbarmungslos pumpt Horizons Motor die Menschenmassen durch seine unergründlichen Pfade.
Es ist nie wirklich hell und es wird auch nie wirklich Dunkel. Tag ist Nacht und Nacht ist Tag. Gewaltige Fabriken und Aufbereitungsanlagen halten den zerstörerischen Fluch der Bevölkerung am Leben. Erntemaschinen durchpflügen vertrocknete Felder. Jahr um Jahr setzen durch Staub verblasste Finger aussichtslose Saaten. Noch nie schlugen so viele Herzen zur selben Zeit, an ein und demselben Ort. Noch nie waren so viele Menschen, so unwiederbringlich verloren. Willkommen in Horizon.
Die Nacht ist hereingebrochen. Wasserfallartig strömt schwerer Regen in die stählernen Abgründe der Stadt. Ein junges Mädchen eilt durch eine der zahllosen Gassen. Die Kapuze ihrer Jacke liegt ihr tief im Gesicht. Ein verbeultes Stück Blech schützt sie vor dem peitschenden Regen. Mit beiden Händen balanciert sie es dicht über ihren Kopf. Ihre schweren Stiefel versinken in tiefen, dreckigen Pfützen. Blitzende Reklametafeln tauchen die enge Gasse erst in violettes, dann in grünes Licht. Sie rempelt einen älteren Herrn an.
„Hey! Pass doch auf!“
„Entschuldigung!“, ruft sie und läuft weiter.
Ein schweres Wetterleuchten flutet die Straße kurzzeitig mit Licht. Sie wirft das Blech zur Seite und hastet eine rostige Treppe hinauf bis vor eine große Tür. Stampfende Musik dröhnt aus dem Gebäude in die Nacht hinaus. Ein bulliger, grimmig drein blickender Mann versperrt ihr den weiteren Weg.
„Kapuze runter!“, knurrt er.
Sie kommt seiner Aufforderung nach. Sofort liegen ihr die Haare klatschnass im Gesicht. Der Mann zückt eine kleine Taschenlampe.
„Augen!“, brummt er.
Das Mädchen stöhnt genervt auf: „Sehe ich aus, als hätte ich Geld für diesen Ghost -Scheiß?“
„Deine Augen!“, wiederholt er desinteressiert.
Sie streicht sich die Haare aus dem Gesicht und öffnet mit den Fingern die Lider ihrer Augen. Der Mann leuchtet mit der Taschenlampe hinein.
„Okay. Zunge!“, zischt er.
Sie öffnet den Mund und streckt ihm die Zunge entgegen. Systematisch leuchtet er ihren Mundraum ab.
„Gut“, sagt er nun etwas gelassener, „Name?“
„Dawn!“
„Alter?“
„Siebzehn!“
Der Mann zieht einen flachen Computer aus seiner Jackentasche. Er hält ihn Dawn vors Gesicht und schießt ein Foto von ihr.
„Hab dich. Versuch keinen Ärger zu kriegen!“, sagt er und öffnet die Tür.
„Danke. Werd mir Mühe geben!“
Sie zieht ihre Kapuze über und verschwindet in dem Club.
Blaues Neonlicht flackert hypnotisch durch die Räumlichkeiten der Bar. Sperriges Klanggemetzel bringt Mauern wie auch Fleisch zum pulsieren. Zielstrebig sucht sich Dawn einen Weg durch die schwitzende Menge. Die Luft ist dampfig und schwanger von Alkohol und Zigarettenqualm. Männer und Frauen liegen sich in den Armen. Viele sehen sich heute zum ersten Mal und werden sich nach Tagesanbruch auch nie wieder sehen. Ein Junge rennt an Dawn vorbei in Richtung Ausgang und reißt ihr die Kapuze vom Kopf. Er kann sich kaum noch auf den Beinen halten.
„Hey Süße, Bock auf ´nen Fick?“, lacht er.
Ein anderer Junge stößt lachend herbei, packt ihn am Arm und zieht ihn zur Tür hinaus.
„Ruf mich an!“, brüllt er noch.
Dann verschwinden die Beiden in der nächtlichen Unendlichkeit. Dawn blickt ihnen kurz nach und setzt dann ihren Weg fort. Durch einen schmalen, mit alkoholisierten Leibern verstopften Gang gelangt sie schließlich in einen größeren Raum. Die Luft wird etwas milder. Menschen schlängeln sich in dichtem Rauch aneinander. Im Boden montierte Scheinwerfer werfen ihr Licht in die Gesichter der Tanzenden und verleihen ihnen dämonische Züge. Viele tragen Masken um sich eine Persönlichkeit zu verschaffen. Aus Dutzenden Lautsprechern an den Wänden branden wütende Klänge über die tobende Meute hinweg.
Hinter der Tanzfläche thront auf einer Anhöhe eine lange, chaotisch befüllte Bar. Dawn bahnt sich ihren Weg durch das aufgeheizte Heer. Sie erreicht die schmalen Stufen, die zum Bartresen führen und steigt empor. Dawn schüttelt ihren Rucksack ab und lässt ihn neben einen der Stühle fallen. Flaschen und Getränke in den unterschiedlichsten Farben, nehmen die gesamte Wand hinter der Bar ein. Der heuchlerisch verlockende Geruch von Alkohol flammt auf. Ruinöser Tempel der gefälschten Freuden. Ein Mädchen, jünger als Dawn selbst, eilt herbei um sie zu bedienen.
„Willkommen im Voodoo, was darf´s sein?“
„Soda bitte!“, antwortet Dawn.
Das Mädchen nickt und macht sich auf. Dawn beobachtet sie. Dass sie nicht aus freien Stücken hier arbeitet, stellt kein Geheimnis dar. Weit mehr als die Hälfte der Bürger lebt in Armut. Dawn hat einmal gehört, dass von vier Babys nur ein einziges aus Liebe geboren wird. Die anderen erblicken das Licht dieser Welt nur, um rechtzeitig von der Kühle des Systems verschluckt zu werden. Nachwuchs bedeutet für viele Familien lediglich ein weiteres, arbeitendes Paar Hände. Horizon frisst seine Kinder.
„Hier bitte!“, sagt das Mädchen und stellt Dawn ein Glas Soda vor die Nase.
„Danke!“, antwortet Dawn und trinkt gierig.
Die Musik wird jetzt rasender, tiefer und betörender. Das blaue Licht des Clubs weicht einem teuflischen Rot. Der Totentanz ist eröffnet. Still beobachtet Dawn den sich windenden Sumpf aus taumelnden, menschlichen Körpern. Ruhelose Geister auf der Suche nach Erlösung. Erlösung in Form von Alkohol, Tanz und schnellem, irrelevantem Sex.
„Tanzt du gerne hier?“
Dawn dreht sich herum. Ein junger Mann tritt an sie heran und stellt sein Getränk neben das ihre. Ihr Blick wandert zu seinem Glas. Ebenfalls nur Soda.
„Nein“, antwortet sie beiläufig, „Ich bin einfach nur durstig. Und draußen geht die Welt unter! Brauch ´ne kurze Pause“.
„Kein festes zu Hause?“
„Keines in der Nähe!“
„Ich hab dich hier noch nie gesehen!“
Dawn leert ihr Glas und gibt der Bedienung ein Zeichen, dass sie noch nicht genug hat.
„Das hier ist auch eigentlich nicht meine Gegend!“, antwortet sie kalt.
„Du redest wohl nicht gerne!“
Der Junge widmet sich wieder seinem Getränk. Schweigend nimmt Dawn ihre Bestellung entgegen. Abweisend hält sie den Kopf gesenkt. Die nassen Haare fallen ihr ins Gesicht. Ein Gewitter aus Lichtblitzen und krachender Musik bringt die Menge hinter ihr zum grölen. Der DJ bringt die Lautsprecher an ihre Grenzen und setzt einen Virus frei. Dawn wirft einen Blick über die Schulter. Die Menschen recken ihre Hände gen Himmel. Ächzend und schaudernd ergeben sie sich der Ekstase. Ein abtrünniger Gottesdienst für den Lärm und die niedersten Triebe.
„Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Leute zum Reden herkommen!“, sagt sie.
„Tja. Hast dich nicht gerade in die eleganteste Bar verlaufen!“
Er antwortet ohne sie an zu sehen. Dawn beginnt, den Jungen eingehend zu mustern. Sein Äußeres gefällt ihr. Sie schätzt ihn auf Mitte zwanzig. Er wirkt auf eigenwillige Weise überlegen und rätselhaft auf Dawn. Gleichwohl strahlt er eine selten gewordene Ruhe aus.
„Du wirkst auf mich auch nicht gerade wie ein Stammgast!“, sagt sie.
„Tja. Das bin ich aber. Gibt nicht allzu viel Auswahl in dieser Gegend. Dieser Schuppen hier gehört noch zu den normalen Läden!“
„Schwer zu glauben!“
„Tja. Tu dir selbst einen Gefallen und glaube es!“
„Ich habe nicht vor mir die Nacht in euren Clubs um die Ohren zu schlagen, falls du das meinst!“
Er wirft ihr einen kritischen Blick zu: „Ganz allein unterwegs?“
Dawn sieht ihn an. Sie zögert die Antwort lange hinaus. Er hält der Prüfung stand.
„Ja“, sagt sie, „und das bleibt auch so!“
„Schon gut“, lacht er, „so war´s nicht gemeint!“
Ohne sie weiter zu beachten, zündet er sich eine Zigarette an. Er nimmt einen großen Zug und stößt den Qualm aus. Für einen Moment verschwindet sein kantiges Gesicht hinter blau-grauem Dunst.
„Dawn!“, sagt sie und versucht möglichst lässig zu klingen.
„Bitte?“
„Ich heiße Dawn!“
Er nimmt noch einen Zug. Dann streckt er ihr die Hand entgegen.
„Nathan!“
Sie geben sich die Hände. Die Musik im Hintergrund wird monotoner. Die Bässe bringen die Gläser auf der Theke zum vibrieren. Er wirft einen Blick auf seine Uhr.
„Keine Eltern, die sich um dich sorgen?“
„Nein!“
„Arbeiterkind?“
„Meine Mutter starb bei meiner Geburt. Mein Vater hat mich dann alleine groß gezogen. Doch mein Vater war krank. Schwer krank. Er gab sein Bestes bis zum Schluss!“
„Okay. Tut mir leid!“
„Schon gut!“
„Hat er im Untergrund gearbeitet?“, fragt er und drückt seine Zigarette aus, „Dort werden die meisten Kinder zu Waisen. Ich muss es wissen!“
Dawn drückt ihr Beileid in Form eines sanften Nickens aus. Jeder weiß von den Zuständen unter Tage und was es bedeutet, dort arbeiten zu müssen. Menschen die nichts mehr zu verlieren haben, suchen dort nach dem letzten Strohhalm um ihre Familien zu zu ernähren. Wenn es nach Horizon noch eine Hölle gibt, gibt es dort einen passenden Vorgeschmack darauf.
„Nein“, beginnt Dawn mit gefasster Stimme, „Er war ein Wissenschaftler und arbeitete bis zuletzt in einem der hellen Türme!“
„In den hellen Türmen? Dann gehörte er doch wohl eher zu den Forschern als zu den Wissenschaftlern!?“
„Stimmt schon!“
„Woran hat er geforscht?“
Dawn trinkt ihre Soda aus und stellt das Glas weit von sich. Sie stützt ihre Arme auf dem Tresen ab. Ihre Augen schweifen ab. Erinnerungen keimen in ihr auf. Nathan bereitet seine nächste Zigarette vor.
„Er hat genau genommen an uns geforscht. Am Mensch sein! Genauer gesagt, am Mensch bleiben!“
„Wie meinst du das?“
„Naja, er wollte den Tod austricksen!“
Nathan gönnt sich seine zweite Zigarette. Er blickt Dawn fragend an. Seine Stirn legt sich in Falten und seine Mundwinkel verziehen sich zu einem ungläubigen Grinsen.
„Was ist?, fragt sie.
„Nichts, ich … ich will nicht unhöflich sein, tut mir leid. Es wundert mich nur, dass nach all der Zeit, noch immer jemand an dieser Vorstellung festhält.“
„Du findest es falsch!“
Nathan klopft die Asche seiner Zigarette ab, legt den Kopf in den Nacken und legt sich die nächsten Worte zurecht.
„Wir zerfallen nun mal, Dawn“, beginnt er, „Alles andere ist und bleibt ein Traum! Ein bizarrer Wunsch, der den Menschen seit je her den Verstand vernebelt hat und es noch immer tut! Fatale Ablenkung vor dem Wesentlichen. Das ist meine Meinung dazu!“
Dichter Nebel dringt von der Tanzfläche rauf an die Bar. Die Musik hat sich nun endgültig in etwas Unergründliches und Dunkles verwandelt. Stampfende, elektronische Hymnen dringen wie Fieber in die Tanzenden ein.
Dawn legt das Geld für die beiden Gläser Soda auf den Tresen und steht auf. Nathan beobachtet sie dabei. Sie zieht sich die Kapuze über und geht einen Schritt auf ihn zu.
„Es ging ihm eigentlich nie darum, unsere Körper am Leben zu erhalten!“, sagt sie stolz.
Nathan lässt den Qualm seiner Zigarette aus seinen Nasenlöchern steigen.
„Ach nein? Worum dann?“
Sie wirft sich ihren Rucksack über die Schulter und streckt Nathan die Hand entgegen. Er lächelt und legt den Rest der Kippe zur Seite. Dann gibt er Dawn die Hand.
„Wie man sie rechtzeitig verlässt!“, antwortet sie.
Nathan sieht sie fragend an. Dann nickt er lächelnd
„Okay. Hat mich gefreut, Dawn. Gute Nacht!“, sagt er.
„Gute Nacht!“
Sie lässt seine Hand los und dreht sich um. Nathan lässt sie nicht aus den Augen. Dawn verlässt die Empore und betritt die Tanzfläche. Augenblicklich wird sie von dem künstlichen Nebel eingehüllt. Nathan lehnt sich an den Tresen und blickt ihr nach. Geschickt schlängelt sich Dawn durch das hypnotisierte Menschenmeer zum Ausgang. Sie sieht sich nicht noch mal um. Sie sieht nicht, wie Nathan einer Gruppe Männer am Rand der Tanzfläche ein Handzeichen gibt. Sie sieht nicht wie die Männer ihm zunicken und sich erheben. Nathan nimmt den letzten Zug seiner Zigarette und schnippt den Rest auf die Tanzfläche. Dann steht auch er auf.
Das Gewitter ist abgeklungen und macht sich nur noch durch weit entfernten Donner bemerkbar. Dem pechschwarzen Himmel entrinnen nach wie vor dünne Wasserfäden. Dawn zieht ihre Jacke fester zu und legt sich die Kapuze tief ins Gesicht. Vor dem Club hat sich eine Schlange gebildet. Der Türsteher hantiert mit seiner Taschenlampe herum und knipst eifrig Fotos. Sie geht die Treppe hinunter. Ein paar Meter Abseits der Stufen entdeckt sie den Jungen, der sie beim Betreten des Clubs angesprochen hat. Sein Freund stützt ihn, während er sich die Seele aus dem Leib kotzt.
Auch hinter anderen Mauern dringt grotesk wirkende Musik nach außen. Eiligen Schrittes entfernt sich Dawn. Die Gebäude um sie herum werden höher, die Graffiti wirrer und die Straßen dunkler. Nur vereinzelt noch werfen die Clubs und Bars ihr Licht auf den nassen Asphalt. Die Stimme des Windes spukt durch Horizon´s Täler. Ein kleines Mädchen mit asiatischen Gesichtszügen steht am Straßenrand und schaut in den Nachthimmel. Es trägt keine Schuhe. Mit den Händen fängt sie den Regen auf und trinkt. Unter einem Torbogen hinter dem Kind entdeckt Dawn mehrere, schlafende Menschen. Ihre Blicke kreuzen sich einen Augenblick lang. Der Moment geht vorüber und sie setzt ihren Weg fort. Dawn bemerkt keinen der Schatten, die ihr bereits seit mehreren Minuten folgen.
Die Musik entfernt sich und verblasst bald gänzlich. Dawn beschleunigt ihren Gang. Sie biegt in eine schmalere Straße ein. Finsternis empfängt sie. Hoch über ihrem Kopf brennen vereinzelt Lichter in und an den gewaltigen Bauten. Wasser fließt an den kahlen Betonwänden herab und bildet kleine Rinnsale. Es wird still. Von Weitem erkennt Dawn Licht am Ende des Pfades. Eine der Hauptstraßen. Ihre Schritte werden größer.
Jäh zerreißt ein zischendes Geräusch die Stille. Dawn fährt herum. Eine rote Signalleuchte entsteigt der Dunkelheit und schwingt sich hoch in die Luft. Starr folgt Dawn dem Flug der Fackel, bis diese wenige Meter vor ihr auf dem Boden aufschlägt. Sie hält den Atem an und lauscht. Stille. Dawn dreht sich um. Das Licht am Ende der Straße ist erloschen. Etwas blockiert ihr die Sicht. Ein brummendes Geräusch nähert sich aus dem Dunkel. Fauchend haucht die Fackel ihr kurzes Leben aus. Ihr rotes Licht zuckt an den kahlen Mauern entlang. Dawn geht in die Hocke und reißt sich den Rucksack vom Rücken. Mit einer gezielten Handbewegung greift sie hinein und zieht ein langes Kampfmesser heraus. Die Klinge erwacht im flackernden Fackelschein. Blitzschnell ist Dawn wieder auf den Beinen, tritt den Rucksack beiseite und lauscht in die Dunkelheit.
Sie blinzelt nicht. Jeder Muskel ist angespannt. Roter Regen trommelt auf sie hinab. Reglos hält sie die Messerklinge vor sich. Fest entschlossen, alles in Stücke zu hacken was Horizons Tiefen für sie vorbereitet haben Dann stirbt der rote Schein und taucht die Straße in tiefstes Schwarz. Dawn lauscht. Nur die Melodie des Regens. Dann plötzlich dumpfe, schnelle Schritte. Sie kommen näher. Ein schwerer Atemstoß dicht vor ihr. Dawn holt mit der Klinge aus. Ein heller Blitz zerpflückt die Finsternis. Eine zweite Fackel entflammt direkt vor ihren Augen. Geblendet lässt sie das Messer nach vorne schnellen und trifft auf weiches Fleisch. Ein schmerzdurchtränkter Schrei hallt aus dem gleißenden, roten Licht. Ein Phantom entsteigt dem Lichtblitz. Dawn zieht die Klinge zurück und holt erneut aus. Dann ein weiteres Zischen. Und noch eines. Mehrere Fackeln werden gezündet und wehen auf Dawn herab. Ihr gesichtsloser Angreifer greift sich in den Nacken und zieht eine Machete. Dawns nächster Schlag trifft auf puren Stahl. Ein brutaler Fausthieb hämmert sich in ihren Magen. Sie ringt nach Luft und fällt auf die Knie. Die roten Feuer schlagen neben ihr auf. Ein bizarres Schattenspiel tanzt um die Kämpfenden herum. Die Machete des Angreifers zischt auf sie zu. Instinktiv rollt sich Dawn zur Seite. Die Klinge rammt sich dicht neben ihrer Schulter in den Untergrund. Dawn zögert nicht. Mit all der ihr zur Verfügung stehenden Kraft holt sie aus, lässt das Messer durch die Luft pfeifen und schlägt ihrem Angreifer die Hand ab.
Ein animalischer, gequälter Schrei steigt in den Himmel auf. Blut ergießt sich über das Straßenpflaster. Stöhnend hechtet sich Dawn auf die Füße. Zwei Scheinwerfer flammen auf und fluten die Gasse mit Licht. Sie wirbelt herum. Ein schweres Fahrzeug versperrt den Weg zur Hauptstraße und lässt seinen Motor aufheulen. Wuchtige Räder drehen durch und schießen auf sie zu. Dawn lässt ihren schattenhaften Angreifer zurück und beginnt zu rennen.
„Nein. Nein wartet!“, hört Dawn ihn brüllen.
Sie dreht sich nicht um. Ein gellender Schrei jagt ihr durch den gespenstischen Tunnel nach, bevor dieser von massigen Reifen erstickt und zermalmt wird.
Dawn stürmt aus der Gasse. Laternen und Lichter kehren bedingt zurück. Der Wind treibt ihr den Regen in den Rücken. Hinter ihr schießt das stählerne Ungetüm auf die Straße. Sie vernimmt Gejohle und jauchzendes Rufen. Feuer stößt durch Dawns Glieder, doch sie rennt weiter. Das Kreischen des Motors hallt von den hohen Wänden um sie herum wider. Dawns Lungen sind leer. Ihr Herz geht in Flammen auf. Sie vernimmt das Knattern von Motorrädern und riskiert einen Blick auf ihre Verfolger. Zwei Maschinen brettern hinter dem schweren Vehikel hervor und nähern sich ihr mit immenser Geschwindigkeit. Dawns Beine beben vor Erschöpfung. Erbarmungslos treiben die Fahrer ihre Bikes auf sie zu. Sie umklammert den Griff ihres Messer. Ein Choral aus wirrem Gebrüll und krachendem Motorengezeter verwischt ihr die Sinne.
Die beiden Motorräder holen sie ein und drängen sie in die Mitte. Einer der Biker schwingt eine Eisenstange. Gnadenlos rammt er Dawn das schwere Metallstück auf die Kniescheibe. Sie schreit auf. Taumelt. Fällt. Dawn schlägt hart auf. Das Messer entgleitet ihr. Klimpernd rutscht die scharfe Klinge über den nassen Belag davon. Die Fahrer gehen hart in die Eisen. Benommen versucht sie aufzustehen. Die Bikes ziehen wie Haifische ihre Kreise um Dawn. Der Fahrer des Wagens bremst ab. Die Spikes der Reifen fressen sich in die Straße und bringen das Gefährt schlitternd zum Stillstand. Dawns Kräfte versagen. Die beiden Motorräder kommen nun ebenfalls krachend zum Stehen und versperren ihr schließlich den Weg nach vorne. Dann entledigen sich die Fahrer ihrer Helme und steigen ab.
Schwere Schritte kommen auf Dawn zu. Zwei weitere Personen verlassen den Wagen hinter ihr. Ein dicker Stiefel presst sich gegen Dawns Schulter und wirft sie auf den Rücken. Ihr Hinterkopf prallt hart auf. Sie keucht. Bedrohlich bauen sich die vier Angreifer vor Dawn auf. Die Scheinwerfer des Wagens werfen ihr kaltes Licht auf die Gruppe. Die Männer sind dunkel gekleidet und tragen schwere Macheten auf dem Rücken. Halbmasken aus Eisen, die Dawn an Maulkörbe erinnern, zieren ihre Gesichter. Einer der vermummten Männer tritt vor und geht vor ihr in die Hocke.
„Guten Abend, Dawn!“, seine Stimme klingt blechern und dumpf unter der Maske.
Ihre Brust hebt und senkt sich. Ein reißender Schmerz nagt sich durch Beine und Kopf. Der Sturz hat ihr die Haut von den Handflächen gezogen. Darunter brennendes Fleisch.
„Wer seid ihr?“
Der Unbekannte greift sich in den Nacken. Mit einem klickenden Geräusch löst er die Halterung des Maulkorbes. Heißer Atem zischt unter dem Metall hervor. Er umschließt die Maske mit beiden Händen und zieht sie sich vom Gesicht.
„Du …!“, wispert Dawn.
„Nicht viele Menschen in Horizon treffen sich zweimal in ein und derselben Nacht!“, höhnt Nathan.
Dawn wirft einen Blick auf die silbrig glänzende Maske in Nathans Hand. Sie spürt, dass diese nicht grundlos wie ein Maulkorb anmutet. Ein beklemmendes Gefühl keimt in ihr auf.
„Was wollt ihr von mir?“, zischt sie ihm entgegen.
Nathans Miene verfinstert sich. Er wirkt jetzt älter als noch zuvor in der Bar. Abscheu spiegelt sich in Dawns Blick wider und sie beginnt, sich selbst zu verfluchen. Hinter ihr dröhnt noch immer der Motor des Wagens. Der beißende Gestank von Benzin liegt in der Luft.
„Du siehst mich an, als wäre ich ein Monster!“, stellt Nathan fest.
„Achja? Bist du keines?“
Sie versucht stark zu klingen doch ihre Stimme zittert. Sie wünscht sich, ihre Frage wäre irrelevant. Doch Dawn erkennt die grausame Gefahr, die von Nathan und seinem Gefolge ausgeht. Horizons Abgründe hatten Jahrhunderte lang Zeit, um in die zerbrechliche Psyche der Menschen zu blicken. Und nicht jede Seele hält dem dunklen Auge stand. Wer die schwarze Iris kennt, kennt das Reich des Verdrehten.
Nathan starrt Dawn mehrere Augenblicke schweigend an. Dann schnellt seine Hand nach vorne und packt sie brutal an den Haaren. Sie schreit auf. Er zieht sie zu sich. Sein Atem riecht noch immer nach Soda und Zigaretten.
„Wenn ich in den Himmel sehe, Dawn, sehe ich Dunkelheit. Und steige ich empor und sehe nach unten, ebenfalls Dunkelheit!“
Seine Hand zieht sich fester zu. Grob reißt er ihr mehrere Haare aus.
„Also wo verdammt noch mal sind wir hier?“, fragt er mit frostiger Stimme. „Wo bin ich hier, Dawn?“
Sie versucht sich zu befreien, fügt sich dadurch jedoch nur noch mehr Schmerzen zu. Nathan steht auf. Sie muss es ihm gleich tun. Er lässt ihr Haar los und packt sie nun am Hals.
„Du solltest mich gehen lassen!“, rät sie mit erstickter Stimme.
„In den Ozeanen gibt es Regionen, in die sich noch nie ein Lichtstrahl verirrt hat. Nicht ein einziges Mal, in der Geschichte dieses verdammten Planeten. Und doch gibt es dort Leben, Dawn. In reiner Dunkelheit, entstandenes Leben. Macht das diese Geschöpfe deswegen zu Ungeheuern? Zu Monstern?“
Seine Hand schließt sich stärker um ihren Hals. Seine Augen weiten sich.
„Monster, Dawn? Weil sie nicht wissen dürfen das Licht existiert? Weil sie die Sonne nicht sehen können?“
„Lass mich einfach gehen!“, fleht sie.
„Ich bin kein Monster, Dawn!“, faucht Nathan. „Ich zeig dir jetzt, was ich bin!“
Er wirft sie zu Boden.
„Dreht sie um. Haltet sie fest!“, brüllt Nathan.
Zwei der Männer packen Dawn und legen sie auf den Bauch. Sie greifen ihre Handgelenke und strecken ihre Arme aus. Der Dritte drückt seinen schweren Stiefel auf ihren Kopf. Der harte Asphalt bohrt sich in ihre Wange.
„Nein. Tut das nicht!“, schreit Dawn.
Nathan legt sich den Maulkorb wieder an. Die psychopathische Meute lacht, grölt und lässt ihre Zähne aufeinander schlagen. Ein wildes, irres Klappern erfüllt die Luft.
„Dieser Hunger, Dawn!“, stöhnt Nathan witzelnd.
Dawns Angreifern entgeht, dass es urplötzlich aufhört, über ihren Köpfen zu regnen, während der Rest der Stadt noch immer zu ertrinken droht. Etwas hält den Regen von ihnen ab. Etwas Großes.
Nathan geht hinter Dawn auf die Knie und zieht den Reißverschluss seiner Hose auf.
„Nein …!“, schreit sie, „Nicht!“
Dawn kämpft und windet sich, doch starke Hände halten sie erbarmungslos in ihrer Gewalt. Das Klappern der Zähne wird exzessiver, gieriger.
„Fleisch schmeckt so wunderschön anders, wenn es zuvor Angst verspürt hat!“, brüllt Nathan und entfaltet seine vollkommene, kannibalische Natur.
Ein Blitz fährt vom Himmel herab. Aus dem Augenwinkel erblickt Dawn den monströsen Schatten, der über ihnen thront.
„Es wird wehtun!“, seufzt sie mit schmerzverzerrtem Gesicht.
„Oh ja, das wird es!“, schreit er.
„Nein, Nathan! Ich meine dich!“
Ein zischender, pfeifender Klang fegt durch die Straße. Dawn spürt, wie der Stiefel auf ihrem Gesicht seinen Druck verringert und dann zur Seite weg kippt. Das Zähneklappern verstummt und etwas landet klatschend auf der Motorhaube des Wagens. Der Körper über ihr fällt leblos in sich zusammen und landet zuckend wie blutüberströmt auf der Straße. Die Männer lassen von Dawns Handgelenken ab und springen auf. Nathan starrt zum Wagen, von wo aus ihm der sauber abgetrennte Kopf des Toten entgegen starrt. Dawn dreht sich herum. Nathan wirft ihr einen Blick tiefster Verwirrung zu.
„Er hat nie aufgegeben!“, zischt sie ihm entgegen.
Still und leise löst sich der riesige Schatten von der Hauswand und landet dafür mit ohrenbetäubendem Lärm direkt hinter Nathan. Der Aufprall bringt die Straße zum erzittern. Laternen flackern. Nathan stürzt herum. Zischend und keuchend erhebt sich eine gewaltige
Maschine vom Boden und breitet ihre stählernen Glieder meterweit zu allen Seiten aus.
„Hölle! Was ist das?“, brüllt einer der beiden Biker.
Ein undurchschaubares Konstrukt aus Stahl, Eisen und Schläuchen blüht vor Dawn und ihren Angreifern auf. Es gibt weder Anfang noch Ende. Die Maschine kennt kein oben und kein unten. Rotierende Klauen aus Metall graben sich kraftvoll in die Straße, während sich tonnenschwere Gliedmaßen an Wänden und Laternen festkrallen. Massige Eisenplatten panzern den künstlichen, formlosen Körper von allen Seiten.
Starr vor Entsetzen beobachten die Kannibalen die Entstehung der schier grenzenlosen Konstruktion. Eisen kämpft mit unvorstellbarer Last. Drähte schaben aneinander. Inmitten des mechanischen Geflechts erstrahlt hinter einer bulligen Glaskugel, ein rotes Licht. Eine massive, aus edelstem Stahl gegossene Klinge prangt an einem der vielen Arme. Warmes Blut rinnt an ihr herab.
Nathan kann sich als Erster seiner Starre entziehen und flieht über die am Boden kauernde Dawn hinweg. Sie greift nach seinem Bein und bringt ihn zu Fall. Irritiert wirbelt er herum und tritt Dawn brutal gegen die Stirn. Benommen sackt sie zusammen.
„Erschießt … erschießt es!“, befiehlt Nathan.
Die Maschine setzt sich schnaufend in Gang. Einer der Männer zieht eine Waffe und richtet sie auf die albtraumhafte Erscheinung. Die gewaltige Klinge weht durch den Regen und spaltet den Asphalt vor seinen Füßen. Seine Hand ist abgeschlagen, noch bevor er sich dazu entschieden hat den Abzug zu betätigen. Vor Schmerz aufheulend, bricht er zusammen.
Nathan hastet in den Wagen, schlägt die Türe zu und legt den Rückwärtsgang ein. Schlitternd setzt sich das Gefährt in Gang und entfernt sich. Der zweite Biker schwingt sich auf sein Motorrad.
„Helft mir ...!“, brüllt der Verletzte.
Die Maschine baut sich vor ihm auf. Abwehrend streckt er ihr seinen blutigen Armstumpf entgegen. Eine stählerne Pranke zerquetscht seinen Arm und dreht ihn spielend aus dem Gelenk. Er brüllt vor Schmerz. Die Maschine hebt ihn in die Höhe, wirbelt ihn herum und schlägt ihn mit unermesslicher Wucht gegen die Hauswand. Der Aufschlag lässt Beton vibrieren und Scheiben zerplatzen. Dawn rollt sich zusammen, hebt sich die Arme schützend vors Gesicht und beginnt zu schreien. Glas und Blut regnen auf sie herab. Der amorphe Roboter lässt den vollends zerstörten Körper fallen und stürzt nach vorne. Der zweite Biker lässt seinen Motor aufheulen. Er gibt Gas und reißt das Motorrad herum. Das Hinterrad wirbelt kleine Steinchen auf und säbelt auf die am Boden liegende Dawn zu. In letzter Sekunde rollt sie sich zur Seite. Der Reifen pflügt sich wenige Zentimeter vor ihrem Gesicht in den Boden. Das Motorrad schnellt nach vorne. Der Kannibale wirft einen Blick zurück. Mit einem gewaltigen Sprung erhebt sich Dawns Beschützer in die Luft, hangelt sich gekonnt an der Wand entlang und schneidet ihm schlussendlich den Weg ab. Der Biker reißt das Lenkrad herum und stürzt. Scheppernd rutscht das Motorrad über das Pflaster hinweg und rauscht in eine Gruppe Müllbehälter.
„Nein. Warte!“, brüllt er als sich der Koloss auf ihn stürzt.
Doch die Maschine lässt ihr ganzes Gewicht auf ihn niedergehen. Ächzend und pumpend drückt sie ihn immer tiefer in den festen Untergrund. Der Beton bricht geräuschvoll auf. Knochen und Fleisch gehen ineinander über und werden eins. Gurgelnd haucht der Psychopath sein Leben aus.
Nathan bringt den Wagen quietschend zum Stehen und versucht in den ersten Gang zu schalten. Er verspielt seine Beherrschung. Das Getriebe kreischt auf. Seine Hand zuckt unkontrolliert umher.
„Fuck. Scheiße!“, flucht er zornig.
Dawn erhebt sich stöhnend aus dem Chaos. Nathan entdeckt sie im Lichtkegel der Scheinwerfer und verliert vollends die Kontrolle über seinen Wahnsinn. Rasend vor Zorn wirft er den Gang ein und drückt das Gaspedal durch. Er hält das bebende Lenkrad umklammert und steuert auf Dawn zu. Die Lichtkegel nähern sich ihr mit bestialischer Geschwindigkeit. Sie wirbelt herum. Gleißendes Licht nimmt ihr die Orientierung. Die massiven Reifen prügeln den Asphalt. Noch bevor sie abwehrend die Arme heben kann, landet die riesige Maschine zwischen Dawn und dem sich nähernden Wagen.
Nathan brüllt auf, das Gesicht zu einer teuflischen Fratze verzerrt. Mit einem surrenden Geräusch hebt der Gigant einen seiner Arme, lässt ihn nach vorne peitschenund stampft ihn mit einer gezielten Bewegung in den Motorraum des Fahrzeugs.
Ein sonderbarer Moment der Stille tritt ein. Dawn schließt die Augen. Die Scheinwerfer erlöschen. Der Wagen überschlägt sich, weht über sie und den Roboter hinweg. Funken rauschen an Dawn vorbei. Glassplitter ergießen sich wie kleine Kristalle zwischen ihren Füßen und fluten die Straße. Der Wagen wirbelt durch die Luft, schlägt hinter ihnen scheppernd auf der Straße auf, wuchtet mehrere Laternen um und bleibt schließlich liegen.
Dawn keucht auf und ringt nach Atem. Sie zittert am ganzen Körper. Ihre nassen, schweren Kleider lasten auf ihr. Spinnenartig setzt sich die Maschine in Gang und nähert sich dem Autowrack. Eiserne Krallen schälen das verbogene Blech auseinander. Nathan stürzt heraus und landet im Regen. Blut spuckend und keuchend kriecht er auf allen Vieren umher. Sein Gesicht kommt einer einzigen Wunde gleich. Der Aufprall hat ihm den Maulkorb tief zwischen die Kiefern getrieben. Nach Luft japsend, speit er seine eigenen Zähne aus. Er droht zu ersticken.
Gewaltige Scheren legen sich um Nathan und heben ihn in die Höhe. Lediglich ein klagendes Husten gelingt ihm. Die Maschine zieht ihre Umklammerung zu. Er röchelt. Nathan blickt in das rote Auge des mechanischen Riesen. Ein weiterer Greifarm umfasst seine Beine. Die Knochen brechen wie Zahnstocher unter der enormen Last.
„Monster …!“, gluckst er kaum hörbar.
Zahnräder setzen sich in Gang. Unnachgiebig beginnt die Maschine damit, Nathan zu dehnen. Qualvoll stößt die Luft aus seinen Lungen. Das Rückgrat verlässt seine ihm vorbestimmte Position. Der Quell des Lebens sprudelt aus Nathan heraus und plätschert auf die Straße. Ober- und Unterkörper entfernen sich voneinander. Statisch lässt der Henker aus Stahl den geteilten Leib zu Boden sinken. Teile von Nathans Maske liegen stark verformt, in einer Pfütze aus Benzin und Blut. Die Bestie ist geschlagen.
Zitternd kauert Dawn auf der Straße, die Arme um ihren Körper geschlungen. Glasscherben liegen meterweit verstreut und bringen den Asphalt zum glitzern. Langsam nähert sich ihr die Maschine. Sanft reicht ihr der Titan einen seiner Arme und hilft ihr beinahe zärtlich auf die Beine. Dankbar presst sich Dawn an das kalte Metall und kämpft mit den Tränen. Bedächtig schließen sich die voluminösen Gliedmaßen um das frierende Mädchen. Was eben noch Tod und Qual verursacht hat, spendet nun Schutz und Trost. Der Regen klingelt auf der gepanzerten Oberfläche.
Dawn legt ihre Hand auf das riesige Auge. Sie drückt die Stirn gegen das Glas und schließt ihre Lider. Das rote Licht fügt sich schleichend einem wärmenden Orange.
„Es tut mir so Leid!“, flüstert sie.
Ein zeitloser Moment zwischen Dawn und ihrem Beschützer vergeht. Metallische Tentakel schlängeln und winden sich durch die Gasse. Ein dumpfes Gewirr aus Stimmen und lauten Rufen kriecht aus dem Labyrinth der Straßen heran. Eine unheilvolle, tiefe Sirene steigt empor. Das Signal der Horde. Dawn horcht auf.
„Sie kommen!“
Die Maschine richtet sich auf, das Auge zuckt suchend und alarmiert umher.
„Nein. Geh!“, bittet Dawn, „ich schaffe das!“
Der Koloss beugt sich zu seinem Schützling herunter. Sein Gewicht bringt den Beton zum knirschen. Eine seiner Gliedmaßen vollführt mehrere, bedeutsame Bewegungen und zeigt letzten Endes auf Dawn. Sie tut es ihm gleich und legt ihre Hand in die riesige Pranke. Die heimliche Sprache zweier Seelen.
„Und ich träume von dir“, sagt sie.
Die Sirene dröhnt ein weiteres mal durch Horizon´s Schluchten. Dawn tritt mehrere Schritte zurück.
„Und jetzt geh!“, fordert sie eindringlich.
Das Auge des Roboters weilt noch einen Augenblick auf ihr. Dann wendet sich Dawns Retter ab. Seine Glieder surren in die Lüfte, graben sich in die Betonwänden. Knarrend setzen sich unzählige Mechanismen in Gang. Die Maschine erhebt sich. Glassplitter rinnen an ihr herab und gehen rasselnd zu Boden. Gezielt klammern sich Eisen wie Stahl fest und klettern in den Nachthimmel empor. Dawn blickt dem riesenhaften Schatten mehrere Sekunden nach. Dann rennt sie los, rennt der Armee aus Stimmen entgegen. Ihre Füße jagen über den Boden hinweg. Sie wirft sich ihre Kapuze über. Dawns Schutzengel erreicht indes gewaltige Höhen, sprintet dem Himmel entgegen. Wuchtig schlagen seine Arme gegen die gewaltigen Fassaden. Er erreicht die Wolkendecke. Dawns brennender Atem verflüchtigt sich in die kalte Nachtluft. Ihre Beine schmerzen. Egal. Menschen kommen ihr entgegen gerannt. Das Grauen fasziniert sie wie Licht das Insekt.
Mitglieder der Horde stürmen schwer bewaffnet herbei. Dawn wird langsamer. Sie senkt den Blick, vergräbt die blutenden Hände in ihren Taschen. Die Maschine lässt den immerwährenden Schleier hinter sich und sprintet weiter. Der Sternenhimmel tut sich auf. Das silberne Licht des Mondes bricht sich auf den Gipfeln der gigantischen Bauten und den Wolken. Speere, die dieser Ära des Nebels entsteigen.
Menschenmassen schieben sich an Dawn vorbei. Sie geht weiter und erreicht das Viertel der schweren Klänge und der ruhelosen Geister. Die Horde bahnt sich ihren Weg durch das Gedränge. Bereit, für das blutige Ritual der Rache.
„Aus dem Weg!“, brüllt einer der seelenlosen Soldaten
Blind und taub hetzen sie an dem durchschnittlichen Mädchen mit der gewöhnlichen Kapuze vorbei. Dawn wirft einen letzten, verstohlenen Blick zurück in den Nachthimmel. Dann, das Gesicht im Schatten verborgen, lässt sie sich vollends in die Ewigkeit Horizons zurückfallen. Zurück zu den Dünen des Kummers. Abermals wird Dawn Teil der endlosen Wüste. Ein einzelnes Sandkorn unter Milliarden. Verborgen wenn auch einzigartig.
Die Maschine hievt ihren massiven Körper auf die Spitze des Gebäudes. Stille und klirrende Kälte herrschen über der Stadt. Das ewige Sternenmeer wacht noch immer über der Welt. Am Horizont keimt jedoch, in roten und gelben Farben, ein neuer Tag auf. Die Sonne wird einweiteres Mal um die Gunst ihrer Kinder kämpfen.
Beinah geräuschlos lässt sich die Konstruktion auf den Untergrund sinken. Heiße Luft entweicht aus zischelnden Ventilen. Gezielt klappen sich die schweren Glieder ein und legen sich an den Körper an. Die Maschine beginnt zu erstarren. Ein metallisches Flüstern schneidet die Stille. Die schweren Panzerplatten setzen sich in Gang, um sich wie Blütenblätter zu schließen. Das Auge der Maschine blickt gen Himmel, während sich ihr Panzer allmählich zu zieht.
Die Sterne, von den Menschen ignoriert und auch vergessen, spenden noch immer ihr altes, heilendes Licht. Aus rätselhafter Finsternis leuchten sie unaufhörlich den Weg. Empfindsam und allwissend für ausnahmslos jeden, der auf sie vertrauen möchte.
Allmählich verblasst das rote Auge. Die Verriegelung zieht sich zu. Alle Systeme fahren herunter. Künstlicher, traumloser Schlaf legt sich über den riesigen Roboter. Eisblumen sprießen auf und zaubern einen schimmernden Mantel über die reglose Rüstung. Ein erster Sonnenstrahl fließt über das eisige Kleid und entlockt ihm ein goldenes Funkeln.
Die Maschine wird lauern. Und sie wird wachen. Nur ein einziges, kleines Leben lang. Jeden Moment dazu bereit alles zu werden, was Horizons Höllen von ihr verlangen. Alles, was es zum Wohle dieses Lebens braucht. Um ein Versprechen zu wahren, das einst gegeben wurde. Ausgesprochen in Minuten von tiefster, menschlicher Verbundenheit. Ein Versprechen von solcher Kraft, das es die Gesetze der Zeit zu brechen vermochte und sich auch in Zukunft, allen Regeln der Existenz verweigern wird.
Die Wartehalle vor der Entbindungsstation ist bis auf den letzten Platz gefüllt. Männer warten schweigend und vielmals mit geschlossenen Augen auf ihre Kinder und Frauen. Weißes Licht, das von weißen Wänden zurückgeworfen wird, erschafft eine ausdruckslose Atmosphäre. Eine Lautsprecheranlage ruft im Minutentakt Namen auf. Männer stehen auf, gehen, kommen nicht
mehr wieder. Neue Gesichter kommen hinzu. Mehrere große Uhren an den Wänden zählen die Sekunden. 05:24 Uhr. Vereinzeltes Räuspern. Niemand spricht.
„William Urban!“, krächzt die Lautsprecheranlage.
Ein schlaksiger, müde aussehender Mann mit eingefallenem Gesicht erhebt sich aus der Menge. Er klemmt sich seine Jacke unter den Arm und läuft eilig durch die Reihen. Er verlässt die Wartehalle über eine große Schiebetür. Ein langer Flur führt ihn an mehreren geschlossenen Räumen vorbei zu einem langen Tresen. Ein Mann und eine Frau in nüchternen Krankenhausuniformen sitzen dahinter. Als die Frau ihn ankommen sieht, erhebt sie sich von ihrem Stuhl. Der Mann ruft währenddessen bereits zwei weitere Namen auf.
„Dr. William Urban?“, fragt ihn die Frau beiläufig.
„Ja!“
„Ihre Frau hat es nicht geschafft. Der Leichnam ist für 10 Minuten in Raum C90 aufgebahrt, falls sie Abschied nehmen möchten. Ihr Kind liegt in wenigen Minuten im zwölften Stockwerk zur Abholung bereit. Hier haben sie Geburtszeit und Nummer!“
Die Frau drückt dem versteinerten Mann eine Karte in die Hand: „Bitte geben sie beides bei Abholung des Kindes an. Gehen sie bitte von hier aus nach rechts. Sie gelangen dort zu Raum C90 als auch zu den Aufzügen!“
Vor William öffnet sich ein Abgrund. Er starrt auf die Karte in seiner Hand. Hinter ihm nähern sich Schritte.
„Bitte gehen sie weiter!“, fordert ihn die Frau auf.
William blinzelt ein paar mal, schluckt schwer und geht los. Die Worte der Frau folgen ihm als verzerrtes Echo. Ein nasser Schleier legt sich über seine Augen. Eine Krankenschwester kommt ihm entgegen, er nimmt sie kaum wahr. Sie muss ihm ausweichen. Williams Blick folgt den Schildern an den Türen. C86. C87. C88.
„Wo bist du?“, flüstert er selbstvergessen.
Er erreicht Raum C90. Eine Tür wie all die anderen. Eine betäubende Schwere legt sich auf seinen Körper. Nur unter größter Anstrengung schafft es William, den Arm zu heben und den Knopf neben der Türe zu betätigen. Summend gleitet sie zur Seite und er tritt ein.
Der Raum unterscheidet sich kaum von der großen Wartehalle, in der William noch vor wenigen Augenblicken gesessen hatte. Nur gibt es hier keine Uhren mehr.
In der Mitte des Raumes erstrecken sich, in einer präzise aufgeführten Reihe, mehrere Edelstahltische. Darauf liegen, verdeckt mit einem weißen Laken, die toten Frauen. William schätzt die Zahl der Tische auf ca. zwanzig. Einige sind (noch) leer geblieben. Ein merkwürdiger, chemisch anmutender Geruch liegt in der Luft.
Am Fußende der Tische klemmen Plastikbretter mit den Namen der Verstorbenen. William geht auf die Toten zu. Das Geräusch seiner Schritte hallt durch den Raum. Erst jetzt bemerkt er, dass er nicht alleine ist. Neben dem letzten Tisch kniet ein Mann, den Kopf gesenkt. Der Trauernde nimmt keine Notiz von ihm.
William geht die Namen der Aufgebahrten durch und bleibt schließlich vor einem der Tische stehen. Er legt die Jacke vor sich auf den Boden und tritt an den Leichnam heran. Williams Kiefer pressen sich zusammen. Zitternd aber rücksichtsvoll streift er das Laken vom Kopf seiner Frau und knickt ein. Seine Beine geben nach und er muss sich an dem kalten Edelstahl abstützen. Der Tisch verrutscht mit einem quietschenden Geräusch. William ergibt sich. Schluchzend versinkt sein Kopf zwischen seinen Schultern. Seine Frau ist nicht friedlich entschlafen. Blass liegt sie vor ihm. Ihre Haare liegen ihr verschwitzt und zerzaust auf dem Kopf. Die Anstrengungen und Kämpfe aus den letzten Sekunden ihres Lebens, sind ihr ins Gesicht gemeißelt. Versteinert in dem Moment, in dem sie neues Leben hervorgebracht hat.
„Ich bin krank!“, stößt er hervor.
William schüttelt den Kopf. Seine Worte hängen verzweifelt im Leeren. Er ringt nach Atem, während die Minuten vergehen. William wischt sich die Tränen aus dem Gesicht. Erst da bemerkt er, dass er noch immer die Karte mit der Nummer seines Kindes in der Hand hält. William ordnet die vergangenen Minuten vor seinem inneren Auge. Er schließt die Augen und konzentriert sich auf den zerbrechlichen Gedanken, dass ihm nicht nur etwas genommen, sondern auch etwas gegeben wurde. Seine Hand berührt die noch feuchte Stirn seiner Frau. Zärtlich streift er eine Haarsträhne beiseite.
„Ich bin krank und habe es dir nicht gesagt ...“, flüstert er. „Du wurdest immer schwächer. Immer schwächer … Doch dein Blick nach vorne immer stärker!“
William greift unter dem Laken nach der Hand seiner Frau und umschließt diese sanft.
„Wie konnte ich also?“
Der andere Mann im Raum steht auf und verlässt eiligen Schrittes die Halle. William hört die Türe ins Schloss gleiten Er ist jetzt allein. Er schließt die Augen. Die letzten Minuten brechen an. Er gibt seinem Atem die Zeit, sich zu beruhigen. Seine Beine hören auf zu zittern. William umschließt nun mit beiden Händen die leblosen Finger seiner Frau. Stumm sortiert er die Worte in seinem Kopf. Dann, nach einer empfundenen Ewigkeit, weiß er, was er tatsächlich sagen will:
„Wir haben jetzt ein Kind. Wir sind jetzt Eltern. Wir können es jetzt endlich besser machen. Vielleicht ändert unser Kind ja irgendwann alles, weißt du noch? Ich werde das tun, was wir uns vorgenommen haben. Werde ihm alles beibringen. Ich werde nicht zulassen, dass es dort draußen verloren geht!“
Die Türe öffnet sich. Ein junger Mann vom Krankenhauspersonal tritt ein und lehnt sich lässig an die Wand. Unbekümmert tippt er auf einem Tablet-Computer herum. William beobachtet ihn einen Moment lang. Der Junge sieht nicht auf. Es ist diese Gleichgültigkeit, die William letztendlich den Weg weist. Er widmet sich wieder seiner Frau.
„Ich verspreche dir, es wird keines von Horizons Kindern werden. Es gibt einen Weg. Irgendeinen. Und ganz gleich, was ich auch tun muss, ich finde diesen Weg. Ich verspreche es dir. Ich lasse unser Kind nicht allein!“
William legt die Hand der Toten sanft auf den Tisch zurück. Dann beugt er sich vor und küsst sie auf die Stirn.
„Schlaf schön!“, flüstert er.
Der junge Mann räuspert sich. Die Zeit ist abgelaufen. William lässt sich nicht beirren. Behutsam legt er das Laken zurück auf das Gesicht seiner Frau. Er hebt seine Jacke auf und dreht sich noch einmal zu ihr um.
„Ich werde bleiben!“, sagt er leise.
Dann dreht er sich um und geht zum Ausgang. Der junge Mann öffnet die Türe für ihn. William würdigt ihn keines Blickes und geht hinaus.
Die Türen des Fahrstuhls öffnen sich und William betritt Stockwerk 12. Die Räumlichkeiten hier erweisen sich als weniger kühl. Die Außenfassade ist verglast. Alle Lichter der Stadt leuchten von hier bis an den Rand dieser Welt. Krankenschwestern laufen eilig durch die Flure. Das Geschrei von Neugeborenen hallt durch die Wände. William tritt an einen Empfangstresen. Eine in die Jahre gekommene Frau schaut zu ihm auf.
„Hallo. Ich möchte zu meinem Kind!“
„Uhrzeit und Nummer?“
William reicht ihr die Karte. Sie wirft einen Blick darauf und weist ihm dann mit den Fingern den Weg.
„Gleich die Türe dort rechts!“, sagt sie und gibt ihm die Karte zurück.
William nickt ihr zu und geht. Ein Mann schiebt einen Wagen mit Neugeborenen an ihm vorbei. Er sieht ihm nach. Der Mann biegt ab und verschwindet in einem der Räume.
Die ihm zugewiesene Tür steht offen. William tritt ein. Es ist ein kleines, schwach beleuchtetes Eckzimmer. Zwei Wände besten komplett aus Glas. An der Wand stehen mehrere, kleine Betten.
Eine junge Frau steht mit dem Rücken zu ihm an einem der Kinderbetten und schreibt etwas auf ein Plastikbrett. William klopft gegen den Türrahmen. Die Frau dreht sich um. Sie ist die erste Person im Krankenhaus, die ihm zulächelt. Sie ist jung, hübsch und William ist sich sicher, dass sie noch nicht lange dabei ist. In ihren Augen erkennt er unberührte Ideale.
„Entschuldigung“, sagt er, „Ich heiße William Urban. Ich möchte mein Kind abholen!
Sie kommt auf ihn zu.
„Na dann zeigen sie mal her!“, sagt sie lässig und doch freundlich.
William legt seine Jacke ab und reicht ihr die Karte. Das Mädchen dreht sich zu den Kindern um und vergleicht die Nummern. Vor dem letzten Bett, mit Blick auf das Lichtermeer, bleibt sie schließlich stehen.
„Sie müssen schon herkommen!“, fordert sie ihn charmant auf.
Langsam nähert sich William dem Kinderbett. Seine Handflächen schwitzen und sein Mund wird trocken. Das Mädchen greift vorsichtig in das Kinderbett und hebt ein Bündel aus mehreren Decken hoch. Es bewegt sich. Ein leises Glucksen ertönt. Gefühlvoll legt sie das Bündel in Williams Arme.
„Ihre Tochter Mister Urban!“
„Eine Tochter …?“, flüstert er und kämpft erneut mit den Tränen.
Das Mädchen greift nach einem Taschentuch und will es ihm reichen.
„Nein. Nein lassen sie“, sagt er leise, „Das ist in Ordnung so! Ist in Ordnung.“
Zaghaft befreit er das Gesicht seiner Tochter von den Decken und wiegt sie sanft im Arm.
„Noch ziemlich erschöpft die Kleine was?“, sagt das Mädchen und stellt sich neben William.
Er nickt und lauscht den Atemzügen des Kindes.
„Ich habe von dir geträumt!“, sagt er zu seiner Tochter und streicht ihr über den Kopf.
„Bringen Sie sie jetzt zu ihrer Mutter?“, fragt das Mädchen.
William sieht die junge Frau an und presst die Lippen aufeinander. Sie versteht und nickt ihm zu. Von draußen hämmern die Geräusche der Stadt gegen die Fensterscheiben. William dreht sich um und starrt in den Ozean aus sich bewegenden Lichtern und Farben. Das Mädchen stellt sich neben ihn. Schweigend beobachten sie die lebendigen Straßen, Gassen und Häuserschluchten.
„Willkommen in Horizon, Kleine!“, sagt das Mädchen mit lieblicher Stimme und schüttelt die kleine Hand des Säuglings.
William lächelt ihr dankbar zu. Sein Herzschlag normalisiert sich. Still beobachtet er seine schlafende Tochter. Ruhe dringt in seine aufgewühlte Seele ein.
„Es dämmert!“, sagt die junge Frau und deutet auf ein rötlich-violettes Licht, das am Horizont durch die Wolkendecke schimmert.
Er folgt ihrem Fingerzeig. Das Licht bahnt sich allmählich seinen Weg. William malt sich aus, wie es wohl sein muss, solch einen Tagesanbruch über den Wolken zu durchleben. Ohne künstliche Lichter. Ohne den Herzschlag der Straße. Nur das sich ankündigende Inferno der Sonne. Wie es sich wohl anfühlen muss, auf Horizons Krone zu balancieren.
„Haben sie denn schon einen Namen für die Kleine?“, fragt die junge Krankenschwester.
William sieht seine Tochter an. Noch immer geht vor seinem inneren Auge die Sonne auf. Heller als jedes Licht, das die Menschen dieser Stadt je gesehen haben und auch je sehen werden.
„Ja“, sagt er leise. „Ja ich denke den habe ich!“