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Das zerbrochene Spiegelbild

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01.09.2003
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Das zerbrochene Spiegelbild

DAS ZERBROCHENE SPIEGELBILD

Eine hauchdünne Glasscheibe umgibt mich. In ihr sehe ich tausendfach mein Spiegelbild. Ich schlendere der Scheibe entlang, zusammen mit meinem reflektierten Ich. Allmählich bohrt sich Dunkelheit in meinen Körper und lässt mich erblinden. Erbarmungslos langsam. Zitternd bleibe ich stehen und warte. Warte darauf, was geschehen wird.
Ich spüre, wie die Stille hastlos in mir fliesst und leere Spuren hinterlässt. Leere Spuren. Sonst nichts.
Von Panik ergriffen taste ich nach der Glasscheibe. Sie fühlt sich kalt an, wie ein Stück Eisen. HILFE, ICH BIN GEFANGEN!, schiesst es mir plötzlich durch den Kopf. HILFE! Ich hämmere mit beiden Fäusten auf die hauchdünne Glasscheibe ein. Sie vibriert ganz leicht. HILFE! KANN MICH DENN KEINER HÖREN? Verzweifelt hole ich mit aller Kraft aus und donnere meine rechte Faust mit voller Wucht ins Glas. Ein dumpfer Schmerz im Handgelenk lässt mich aufschreien. Die Scheibe allerdings scheint aus Beton zu sein! ICH WILL HIER RAUS!, dröhnt es in meinem Kopf. Wieso-wieso-wieso?, hallt es zurück. Hm, vielleicht, weil ich diese dunkle Leere nicht ertragen kann. Ich schliesse die Augen und versuche, mir Tageslicht vorzustellen. Stattdessen scheint die Dunkelheit noch intensivere Töne anzunehmen. Farbtöne, die ich bisher noch nirgendwo gesehen habe. Erschrocken öffne ich die Augen. Da! Weit entfernt sehe ich ein kleines Licht! Hastig stolpere ich ihm entgegen. Doch es scheint immer schwächer zu werden, je näher ich ihm komme. Ich beschleunige meine Schritte, fange an zu laufen. Immer schneller. Rede mir ein, die Lichtquelle irgendwann zu erreichen. Je sicherer ich mir dessen bin, desto mehr beeile ich mich.
Plötzlich erlischt der Schimmer. Verdutzt bleibe ich stehen. Erst jetzt bemerke ich, wie mein Puls rast und die Lungen bei jedem Atemzug schmerzen. WO IST DAS LICHT? ICH – ICH BIN VERLOREN OHNE ES! V-E-R-L-O-R-E-N!
Ich will schreien, doch meine Stimme verliert sich in der Dunkelheit.
Ich will weinen, doch die Stille hat meine Tränen bereits aufgefressen.
Unerwartet wird es ein klein wenig heller um mich herum – ins Schwarze mischt sich ein dunkler Blauton. Ich blicke mich um. Die Glasscheibe ist noch nicht zerbrochen. Und mein Spiegelbild blickt mich höhnisch an. Ich will es nicht sehen. Nein, ich will es nicht! Ertrage mich einfach nicht mehr länger um mich herum. Mein Blick sinkt zu Boden. Dabei entdecke ich einen schmalen Rotstreifen. Ich folge ihm und sehe einen kleinen Riss in der Glaswand, durch den das neblige Rot hineinströmt.
Dicht vor der Glasscheibe bleibe ich stehen und berühre mit den Fingerspitzen vorsichtig die kleine Spalte. Sofort bröckeln kleine Glassplitter unter dem sanften Druck meiner Finger ab. Erstaunt ziehe ich die Hand zurück. Dann presse ich die ganze Handfläche erneut auf die dünne Oberfläche. Klirren von Glas ist zu hören. Die rötliche Lichtquelle wird immer intensiver, je mehr Glas unter meinem Druck zerspringt.
Als das Loch gross genug zum Durchschlüpfen ist, bücke ich mich. Im selben Moment fängt der Boden unter meinen Füssen zu beben an. Risse bilden sich. Sie werden binnen Bruchteilen von Sekunden grösser. Kleine Abgründe entstehen, die immer tiefer werden. Gelähmt vor Überraschung bleibe ich in geduckter Haltung direkt unter der Glasscheibenmauer stehen. Plötzlich verliere ich den Halt unter den Füssen und kippe nach vorne. Im letzten Moment kann ich mich am Abgrund festhalten. Er hält meinem Gewicht stand. Doch wie lange noch? HILFE!, kreische ich. Mein Spiegelbild schreit zerbrochen am Boden mit.

* * *

Hi zusammen! Würde mich sehr interessieren, was ihr von diesem Text haltet...
Liebe Grüsse:)

 

Hey Nädle!
Willkommen hier auf kg.de :D
Dein Text ist faszinierend geschrieben, er gefällt mir!

Besonders der Schlusssatz ist krass. :)

Liebe Grüsse,
Manuela

 

Hi Bücherwurm,

Deine Geschichte gefällt mir, wenn ich sie vielleicht auch nicht unter Philosophisches gepostet hätte.

Hier einige deiner Formulierungen, die ich gelungen finde:

Ich will weinen, doch die Stille hat meine Tränen bereits aufgefressen.
Mein Spiegelbild schreit zerbrochen am Boden mit.

Und hier noch eine kleine Kritik:

wie die Stille hastlos in mir fliesst
Du hast mit "hastlos" ein Kunstwort kreiert, das nicht passt. Da "Hast" von der Sprache her ein schnelles Wort ist, wird es auch nicht langsamer, wenn du "hastlos" schreibst.

bohrt sich Dunkelheit in meinen Körper und lässt mich erblinden.
Da dein Prot ja kurz darauf Farbe sieht, ist erblinden vielleicht nicht ganz das richtige Wort. Mir ist zwar klar, was du meinst, aber ich musste doch erst einmal überlegen, wieso der Prot plötzlich wieder sieht, wenn er doch erblindet ist. Es ist nur eine Nuance.

Alles in allem ein guter Einstieg. Herzlich willkommen auf kg.de!

LG
merenhathor

 

Hey merenhathor!
Vielen Dank für deine Kritik! Ich habe mir sehr lange überlegt, was ich für ein Wort benutzen könnte, das langsam bedeutet, ruhig, ohne Hast. Dann hab ich mal im Synonymwörterbuch nachgeschaut und bin auf "hastlos" gekommen. Es ist ein nicht sehr alltägliches Wort und wahrscheinlich nur im Schweizer-Hochdeutsch zulässig, aber mir hats ziemlich gut gefallen und deswegen hab ichs genommen. Was ich sagen wollte: "hastlos" ist keine Eigenkreation von mir. Aber wenns den Leser so stört werde ich es wohl ändern..
Was mich noch interessieren würde: Wo hättest du denn "Das zerbrochene Spiegelbild" gepostet? Für "Experimentelles" fand ich es zu wenig experimentell, für Alltag zu speziell und unter Märchen/Fantasy wollte ich es nicht posten, da die Geschichte für mich ebenfalls nicht in die "Märchenwelt" gehört. Vielleicht wäre "Gesellschaft" noch eine Rubrik?

LG,
Buecherwurm

 

@Manuela: Merci für deine Antwort! Einige haben mich schon gefragt, ob ich eine Depression hätte... Cool, wenn die Geschichte eine solche Wirkung hat! :-)
LG,
Nädle

 

Hi Bücherwurm,

die Schweizer sind doch ein seltsames Völkchen, wenigstens sprachlich. Hätte nie gedacht, dass es das Wort hastlos wirklich gibt.

Und gepostet hätte ich deine Geschichte in Seltsam. Aber wichtig ist doch, dass ich sie gefunden und gelesen haben, denn sie gefällt mir wirklich ausgezeichnet.

LG
merenhathor

 

Hi merenhathor,

ja ja, die Schweiz als Insel in Europa - ob sprachlich oder sonst irgendwie.. ;)

Freut mich jedenfalls sehr, dass dir meine Geschichte gefällt! :cool:

LG, Bücherwurm

 

hi buecherwurm
deine geschichte hat mir sehr gut gefallen. die "idee" mit hastlos fand ich lustig... ich las den satz etwa dreimal durch, bis ich begriff dass dies eine eigenkreation und nicht ein schreibfehler ist...
der schlusssatz regt zum nachdenken an, finde ich sehr gut/gelungen...
än lüba gruass dini snooze

 

hey snooze!
danke für dein kompliment :-). na ja, "hastlos" ist leider keine eigenkreation, sondern steht im schweizer synonymwörterbuch für "langsam"... wie dem auch sei, es ist lustig, dass ein einziges wort so viele reaktionen auslösen kann! :-)
liebe grüsse,
nadja

 

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