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DAS WIEDERSEHEN

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18.02.2002
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DAS WIEDERSEHEN

Sechs Uhr dreiunddreißig. Der Berufsverkehr fängt an, und langsam wird es voll auf der Autobahn. Meine Augen brennen. Ich bin die ganze Nacht durchgefahren, um nur ja rechtzeitig in der Klinik zu sein. Um acht sollst du entlassen werden. Entlassen in meine Obhut.

Dein behandelnder Arzt hat mir bereits am Telefon erzählt, was auf mich zukommt. Ich höre noch seine Worte:

„Ja, einen sehr schweren Schlaganfall. Wir können vom Glück sagen, dass er den überhaupt überlebt hat. Nein, außer seinem Kopf und dem Daumen der linken Hand kann er gar nichts mehr bewegen. Totale Lähmung. Richtig, das Sprach- und das Sehzentrum sind ebenfalls in Mitleidenschaft gezogen. Natürlich wären wir Ihnen gern behilflich, einen Platz in einem entsprechenden Pflegeheim.... Ach, das kommt für Sie nicht in Frage? Sie möchten die Pflege selbst übernehmen? Dann gestatten Sie mir, dass ich Ihnen meine Bewunderung ausdrücke... Nein, das ist kein Kompliment, sondern mein völliger Ernst. Sie sind eine außergewöhnlich mutige Frau. So etwas findet sich heute eher selten, wenn es mir gestattet ist, das anzumerken.“

Mutige Frau, ha. Wenn der gute Mann wüßte...

Seit zwei Tagen kommen nun noch unerklärliche Panikattacken hinzu, hat man mir bei meinem letzen Anruf gestern abend berichtet. Du musstest mehrfach mit Luminal und Valium ruhiggestellt werden.

Wirklich eigenartig. Du hast dein ganzes Leben lang vor nichts Angst gehabt, eher im Gegenteil. Für meinen Geschmack warst du immer ein bisschen zu furchtlos. Was also fürchtest du jetzt?

Du kommst also heute mit zu mir. Warum auch nicht? Mich hat beinahe selbst der Schlag getroffen, als ich vor über einem Monat den Brief des Sozialamtes im Kasten fand. Gott, was habe ich gekämpft, habe Eingaben gemacht, einen Widerspruch nach dem anderen eingelegt. Doch nicht einmal mein Anwalt konnte mir helfen. So sind die Gesetze, hieß es. Da beißt die Maus keinen Faden ab. Zahlen müsste ich, hatte er mir erklärt, und dass die Sozialbehörde nicht in Vorleistung treten werde, solange ich das Meine noch nicht getan hätte. Natürlich könnte ich auch vor Gericht ziehen, doch es könnte dauern, bis irgend jemand irgendwo irgendwann zu irgendeiner Entscheidung kommt. Und in der Zwischenzeit wäre ich dennoch für dich verantwortlich.

Da nehme ich die Dinge doch lieber selber in die Hand.

Oh Mann, der Döner, den ich mir vor einer halben Stunde gegönnt habe, liegt mir wie ein Stein im Magen und verursacht mir Sodbrennen. Ich konnte es kaum erwarten weiterzufahren, deshalb habe ich die köstliche Brottasche achtlos in mich hineingestopft, die einzelnen Bissen nur halb zerkaut hinuntergewürgt, schnell, schnell, und mit zu viel kalter Cola runtergespült. Und jetzt brennt mir die Säure Löcher in die Magenwände. Oder sollte es etwas anderes sein, was da brennt?

Komisch, dass ich mich trotz der endlos langen Zeit noch so gut an dich erinnern kann. Nicht an dein Aussehen, natürlich. Aber an alles andere. Vor allem an deinen Geruch. Nach Bier, nach kaltem Zigarrettenrauch, nach Schweiß. An deine Stimme – nicht, wie es klingt wenn du sprichst, aber dein Röcheln, dein Stöhnen, deinen stoßweisen Atem habe ich noch wie gestern im Ohr. Hastige Nummern im Keller, wenn ich die Wäsche aus der Maschine holen musste. Oder im Badezimmer. Oder auch im Bett, nachts, heimlich, verstohlen, meine Schreie erstickt von meiner kleinen Nackenrolle. Und immer die Angst, dass "sie" nichts davon mitbekommt. Sie, die eigentlich dafür zuständig gewesen wäre, deine Lust zu stillen, längst aber selbst schon keine Lust mehr dazu hatte. Nicht nur meine Angst hast du mich tragen lassen – nein, auch deine. Ich habe deine Drohungen noch ihm Ohr, falls sich meine Schuld erweisen sollte, wenn es aufflöge. Trennung war noch die harmloseste davon.

Ich habe den Mund gehalten. All die lange Zeit. Habe kein Sterbenswort gesagt. Als die Trennung dann tatsächlich erfolgte, ging sie von mir aus. Seither haben wir uns nicht mehr gesehen, nichts mehr voneinander gehört. Natürlich habe ich nie im Leben damit gerechnet, überhaupt je wieder von dir zu hören. Aber da habe ich meine Rechnung eben ohne das Sozialamt gemacht.

Ich weiß noch, ich hatte eines Tages ein Buch geschrieben, und ich habe in diesem Buch von dir erzählt. Von meinem Hass, meiner Trauer, meiner grenzenlosen Verlassenheit. Und als es dann fertig war, bin ich damit in den Wald gefahren. Dort habe ich es verbrannt, und dann bin ich auf den noch glühenden Ascheresten herumgetrampelt, habe geheult und getobt wie eine Verrückte. Jesus, wenn mich da jemand gesehen hätte! Aber es hat mir gutgetan. Danach war es vorbei. Zumindest bis vor kurzem dieses elende Schreiben kam.

Nun gut, da man es scheinbar unbedingt von mir erwartet, habe ich alles vorbereitet für dich. Vor einem Zustand wie dem, in dem du dich jetzt befindest, hast du dich doch immer gefürchtet? Doch der wird nicht lange anhalten, das verspreche ich dir.

Wusstest du, das einer meiner Ex-Lover Vertreter für einen Pharmakonzern ist? Mit ziemlich zuverlässigen Quellen? Nein? Vierundzwanzig Ampullen Morphium, und Bargeld ist immer noch das beste Mittel gegen lästige Fragen.

Da kommt schon die Ausfahrt, hier muss ich rechts ab. Die Klinik ist dann nur noch etwa fünfhundert Meter weiter, in dem Waldstück da drüben.

In ein paar Minuten bin ich bei dir, Vater.

[Beitrag editiert von: Pipilasovskaya am 12.04.2002 um 10:12]

 

Kompliment!!!
Eine wirklich tolle Geschichte!
Vor allem der letzte Satz.

 

Hallo Pipilasovskaya,

Gelungene Geschichte! Vor allem der Überraschungseffekt zum Schluss. Habe lange geglaubt, es handele sich um den Mann der Erzählerin und mich gewundert, dass sie an manchen Stellen ziemlich lieblos über ihn spricht.
Auch die Stimmung, in der sich die Protagonistin befindet (sarkastisch / verbittert), konnte ich gut nachvollziehen.

Viele Grüße

Cat

 

Hallo Quentin, hallo Kätzchen,

lieben Dank für die netten Komplimente *rotwerd*.

Aber, Cat, wie bist Du darauf gekommen, dass die Protagonistin mit dem Mann verheiratet war? Weshalb hätten sie dann hastige Nummern im Keller schieben und immer Angst haben müssen, von der eigentlichen Partnerin entdeckt zu werden? Ein heimliches Fistanöllchen zwischen Geschiedenen wäre denkbar gewesen, wobei die neue Partnerin des Mannes die Betrogene gewesen wäre. Aber warum sollte die Protagonistin dann die Wäsche ihrer Rivalin aus dem Keller holen? :confused:

Nee, wie du auf die Idee gekommen bist, musst du mir vielleicht doch noch mal erklären!

Bis dannemann
P.

[Beitrag editiert von: Pipilasovskaya am 26.03.2002 um 08:21]

 

Hi,

deine Geschichte ist wirklich sehr gut. Der letzte Satz hat mich ebenfalls am meisten beeindruckt, doch das mit der Kettensäge und der Badewanne usw...
Das war irgendwie zuviel...

Trotzdem gut geschrieben.

Gruß shimmeringLight

 

Hallo shimmeringLight,

danke für Dein Statement.

Ja, auch ich bin kein Fan von Kettensäge-Massakern. Deshalb habe ich das Ende ja völlig offen gelassen.

Vielleicht rächt sich meine Protagonistin ja wirklich und zerlegt den Peiniger ihrer Kinderjahre in mundgerechte Stückchen. Vielleicht zieht sie es auch in die Länge, "pflegt" ihn auf ihre Art und zahlt es ihm über Jahre und mit Zinseszinsen zurück? Es mag aber auch sein, dass die Hilflosigkeit ihres ehemals so übermächtigen Erzeugers dazu beiträgt, etwas in ihr anzurühren, ihren Hass zu besiegen und ihr so zu einer völlig neuen, spirituellen Größe verhilft, indem sie sie im Verzeihen über sich selbst hinauswachsen lässt?

Glaubst du mir, wenn ich dir sage, dass ich selbst nicht weiss, wie es ab hier weitergeht?

Such' dir das schönste Ende aus, und bleib mein Freund ;) !

Gruss
P.

[Beitrag editiert von: Pipilasovskaya am 26.03.2002 um 14:48]

 

Hallo Pipilasovskaya,

upps... Da ist mir ein Fehler unterlaufen - Ich meinte natürlich nicht ihren Mann, sondern ihren Geliebten, sonst ergibt das Ganze ja keinen Sinn.
Tut mir sehr leid, wenn ich dadurch verwirrt haben sollte.

Grüße

Cat

 

Hi Cat,

macht garnix :D . Ich wollte nur wissen, ob ich eventuell den Satzbau umstellen muss, damit sich keine Fehlinterpretationen einschleichen können.

Damit ist das dann ja geklärt.

Ach ja - ich bin 42 Jahre alt. Da hat sich einiges an "Ex-Geliebten" angesammelt (aus meiner Sturm- und Drangzeit, hihi). Es wäre ja entsetzlich, wenn es irgendwo ein Gesetz gäbe, nach dem mich das Sozialamt zur Pflege oder Unterstützung von jedem einzelnen heranziehen dürfte... :sconf:

Danke für die Antwort und bis bald
P.

[Beitrag editiert von: Pipilasovskaya am 27.03.2002 um 09:16]

 

Hi P.

Gerade eben habe ich an einer anderen Geschichte kritisiert, daß immer die Opfer am Ende sterben (sich umbringen, umgebracht werden, etc.). Da lese ich deine Geschichte und war von der (zwar späten, aber immerhin) Rache des Opfers begeistert. Auch der Stil, den du gewählt hast ist sehr schön eindringlich. Nur der Satz:

Nun gut, da man es nun unbedingt von mir erwartet, habe ich alles vorbereitet für dich.
Hat mir nicht so gut gefallen. Sind mir ein Paar zu viele "nun" drin.

So long

Signore Salami

P.S.: Ich weiß es ist schwer zu lesen, aber hast du nicht mal Lust meine kleine Geschichte DISS CONN ECCTEDzu lesen?

 

Hallo SignoreSalami,

werde mich gleich auf deine Geschichte stürzen.

Danke für den Tipp mit dem doppelten "nun". Ist mir gar nicht aufgefallen, wurde umgehend eliminiert.

Bis später bei DIS CON NECTED.

Pip

 

Hey.

Also, der Verlauf der Geschichte ist erstens sehr vorhersehbar, was die Pointe ziemlich abschwächt. Außerdem halte ich die Sache mit der Kettensäge in der Badewanna für eher erheiternd...hab's zwar noch nicht ausprobiert, jemanden dadrin zu zersägen, aber klappt bestimmt gut! :rolleyes:

Auf sprachliche Sachen habe ich nicht geachtet, ist nur mein erster Eindruck von der Geschichte...haut mich nicht um, ehrlichgesagt.

Gruß,
Sandra

 

...schade... :(

Naja, ich habe versucht zu retten, was zu retten ist, und die Kettensäge jetzt 'rausgenommen. Du hattest recht: Klang wirklich irgendwie zum Lachen, und das war nicht beabsichtigt.

Gracias!

[Beitrag editiert von: Pipilasovskaya am 11.04.2002 um 11:13]

 

Pip,

gefällt mir jetzt besser, betrachte die ganze Geschichte jetzt automatisch ernster. Guter Kompromiss!

San

 

Hey P.

Ich habe gerade deine Geschichte gelesen, leider schon, nachdem der Teil mit der Kettensäge entfernt wurde. Nachdem so viel darüber geschreiben wurde, wollte ich schon sehen was dahinter steckt.
Wie dem auch sei, hat sie mir sehr gut gefallen.
Vor allem auch, weil du auf die Ängste das vaters eigegangen bist, was ein deutliches Bild von seiner Schuld gibt.
Eindrucksvoll, ganz ehrlich.

Rub.

 

Hallo Pips!
Jetzt hab ich auch mal was von Dir gelesen! :read:
Am Anfang dachte ich ja noch: "Mmhh... ziemlich langweilig. Nur Erinnerungen. Fast keine Handlung.", und wartete geduldig darauf, dass endlich etwas passieren würde.
Als ich beim Lesen dann schon fast am Schluss angelangt war, dachte ich schon voreilig, auch den Rest der Geschichte bereits vorzeitig zu kennen. Der Knalleffekt in der letzten Zeile hat mich dann aber trotz aller hochmütigen Vorrausberechnung meinerseits zu meiner eigenen Überraschung schließlich doch noch spontan in meinen Gedankengängen überrumpelt :eek: (verdammt, verdammt... ;) ).
Ein paar Ungereimtheiten sind mir noch aufgefallen:

Sie möchten die Pflege selbst übernehmen? Dann gestatten Sie mir, dass ich ihnen meine Bewunderung ausdrücke... Nein, das ist kein Kompliment. Sondern mein völliger Ernst.
Ich verstehe den angedeuteten Widerspruch zwischen "Kompliment" und "Ernst" nicht. Und warum sollte der Arzt sagen, dass seine Bewunderung kein Kompliment ist? Außerdem klingt "voller Ernst" anstatt "völliger Ernst" stilistisch besser.
Weshalb kann sich die Protagonistin nicht an das Aussehen ihres Vaters erinnern? (eine äußerst merkwürdige Stelle, finde ich)
Ich weiß noch, ich hatte eines Tages ein Buch geschrieben, und ich habe in diesem Buch von dir erzählt.
Hier wechselst du ohne Grund die Vergangenheitsform (hatte, habe). Außerdem kam mir dein verwendeter Ausdruck "Buch" etwas seltsam vor. Ein Buch kann man doch immer nur lesen, aber nicht schreiben, oder? (aber eigentlich nicht mal das: Lesen kann man immer nur den Inhalt eines Buches, aber nicht das Buch selbst ;) ). Und schreiben kann man Texte, nicht aber ihre greifbare, äußere Form (das macht dann der Buchbinder...).
Übrigens hat San alias Rabenschwarz vor einigen Monaten eine (sehr gute) Geschichte mit ganz ähnlichem Hintergrund wie bei deiner, aber mit einer anderen Herangehensweise geschrieben. Sie heißt Trauer .

[ 22.04.2002, 00:36: Beitrag editiert von: Die philosophische Ratte ]

 

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