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Das Wiedersehen

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24.10.2001
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Das Wiedersehen

[Anmerkung: Die ersten beiden Sätze (bis "erbleichte") sind nicht von mir, sondern entstammen einer Keuner-Geschichte von Berthold Brecht - liegt an der Inspirationstechnik des Seminars, in welchem die Urfassung der Story einst entstanden ist.]

Das Wiedersehen

Ein Mann, der Herrn K. lange nicht gesehen hatte, begrüßte ihn mit den Worten: "Sie haben sich gar nicht verändert."
"Oh!" sagte Herr K. und erbleichte. "Sind Sie sicher?"
"Nicht das kleinste bißchen", versicherte der andere.
"Wirklich?"
"Wirklich."
Herr K. sah mißtrauisch an sich herunter. "Absolut sicher?"
"Ohne jeden Zweifel."
"Verdammter Mist!" sagte Herr K. Panik malte sich mit gletscherhafter Unaufhaltsamkeit auf seine Miene. "Wie konnte ich das nur vergessen?"
"Sind hektische Zeiten heutzutage", erwiderte der andere gelassen. "Da kann einem schon mal das eine oder andere entfallen."
"Überhaupt nicht verändert..." murmelte Herr K. abwesend vor sich hin.
"...das heißt, in diesem Fall ist es natürlich besonders unangenehm", fuhr der andere unbeirrt fort, "um nicht zu sagen, eine Peinlichkeit beinahe fatalen Ausmaßes..."
"Wie furchtbar", keuchte Herr K. "Dabei bin ich doch für gewöhnlich sehr gewissenhaft."
"Gewissenhaftigkeit ist aller Laster Anfang", witzelte der andere.
"Aber man kann doch nicht an alles denken", entschuldigte sich Herr K. händeringend. "Ich war ziemlich beschäftigt in den letzten Jahren."
"Verstehe", meinte der andere. "Geld verdienen, die Dinge in Bewegung halten, Schritt halten mit dem gewaltigen Laufrad der Zeit und so. Geht mir ähnlich. Was natürlich nicht heißen soll", fügte er mit einem schelmischen Augenzwinkern hinzu, "daß ich mir nicht hin und wieder ein wenig Zeit für die wirklich wichtigen Dinge nehme, falls Sie verstehen." Er zündete sich eine Zigarette an. "Möchten Sie auch eine?" fragte er und hielt Herrn K. die Schachtel unter die Nase, der sie ziemlich verwirrt anglotzte.
"Ich rauche eigentlich nicht", sagte er unsicher.
"Na, dann ist das wohl der beste Zeitpunkt damit anzufangen, nicht wahr? Die Sache mit der Veränderung, schon vergessen?"
"Ähm. Also wenn Sie's so sehen..."
Herr K. nahm eine Zigarette, ließ sich Feuer geben und machte vorsichtig einen Zug. Als er mit Husten fertig war, fragte er: "Ich bin nicht unbedingt sicher ...hustkeuchröchel..., ob mir diese Veränderungssache Spaß macht. Ich meine, ist das denn wirklich notwendig? Passiert irgendwas schlimmes mit einem, wenn man's nicht tut?"
Der andere zog überrascht eine Augenbraue nach oben. "Interessante Frage", sagte er. "Nun, genaugenommen passiert natürlich überhaupt nichts mit einem. Ist sogar einer der wesentlichen Aspekte des Sich-nicht-veränderns, wenn man's genau überlegt. Ich meine, daß absolut nichts mit einem passiert. Andererseits..." Er machte eine bedeutungsvolle Pause und saugte hingebungsvoll an seiner Zigarette.
"Ja? Was?" hakte Herr K. unruhig nach. Seine Füße scharrten nervös über den Fußboden und er fixierte den anderen mit einem erwartungsvollen Blick, als sei dieser sein großer Bruder und gerade kurz davor, ihm die Sache mit den Mädchen zu erklären.
"Nun, es ist nicht unbedingt gefährlich, falls Sie das meinen", sagte der andere, "ich meine, es ist ja nicht so, daß es einem von der Regierung vorgeschrieben wird oder so. Sie sperren einen nicht ein oder hetzen einen durch Talkshows, wenn man's zufällig vergessen haben sollte. Aber es ist auch nicht unbedingt empfehlenswert, es allzu lange vor sich herzuschieben, Sie verstehen? Nehmen Sie nur die alten Ägypter - haben sich auch mächtig lange drum herumgedrückt, und als sie dann merkten, was schiefgelaufen war, steckten sie schon bis zum Hals in Schwierigkeiten. Standen am Ende ziemlich dumm da, wenn ich mich recht erinnere. Eine ziemlich peinliche Geschichte, und sehr lehrreich, gerade für jemanden in Ihrer Situation."
Herr K. legte seine Stirn in topologisch äußerst interessante Falten, während er kurz über Ägypten nachdachte. "Können Sie mir helfen?" fragte er schließlich.
Der andere überlegte einen Augenblick. "Sicher", entgegnete er dann. "Kein Problem. Immerhin kennen wir uns ja schon eine ganze Weile. Da ist es ja wohl selbstverständlich, daß ich einem alten Freund in einer mißlichen Lage ein wenig unter die Arme greife, nicht wahr?" Er klopfte Herrn K. jovial auf die Schulter. "Machen Sie sich keine Sorgen, das kriegen wir schon wieder hin."
"Hoffentlich", seufzte Herr K.
"Ziehen!"
"Hä?"
"Ihre erste Lektion", sagte der andere und deutete auf die Zigarette, die Herr K. noch immer in der Hand hielt. "Ziehen Sie an der Zigarette. Nur zu!"
"Äh, ja, natürlich..."
Herr K. saugte pflichtbewußt an der Zigarette, ignorierte die unüberhörbaren Proteste seiner Bronchien und kämpfte sich tapfer bis zum Filter durch. Dann sank er hustend und röchelnd auf die Knie. Einige Passanten drehten sich belästigt um.
"Er ist in Ordnung!" verkündete der andere in Richtung der Passanten und machte eine abwinkende Geste. "Er ist nur gerade dabei sein Leben zu verändern."
Die Passanten verzogen pikiert die Gesichter und hasteten weiter. Einer von ihnen zeigte den beiden einen Vogel.
"Kümmern Sie sich nicht um die", sagte der andere und tätschelte Herrn K. beruhigend den Kopf. "Das wird nicht das letzte Mal sein, daß man Sie schief ansieht. Aber Sie dürfen nie vergessen, um was es geht. Es kommt darauf an, sein Ziel nicht aus den Augen zu verlieren. Dabei sollte man sich nicht durch die Meinung anderer Leute irritieren lassen. Sie sind hier schließlich die Hautperson."
"Glauben Sie", keuchte Herr K., der sich gerade wieder aufrappelte, "an Lungenkrebs zu sterben zählt auch als tiefgreifende Veränderung?"
"Na, wir wollen es doch nicht übertreiben, oder? Immer hübsch langsam!"
"Aber ich habe immerhin einiges nachzuholen", erwiderte Herr K. und klopfte sich den Staub von den Hosenbeinen. "Ich habe schon genug Zeit vergeudet."
"Aber sie wollen ihr Leben doch nur verändern, nicht es beenden, oder? So verzweifelt ist ihre Lage nun auch wieder nicht."
"Es ist also nicht hoffnungslos?"
"Keineswegs. Aber natürlich läßt sich sowas nicht an einem Tag regeln. Ich denke, Sie werden noch ein wenig länger auf meine Hilfe angewiesen sein. Wir müssen Schritt für Schritt vorgehen. Sorgfältig und nach Plan, falls Sie verstehen."
"Äh, ja, sicher", bestätigte Herr K. hastig. "Sie haben völlig recht. Schritt für Schritt."
"Natürlich müßten wir uns von nun an regelmäßig treffen", sagte der andere. "So ungefähr einmal im Monat, würde ich sagen. Damit ich ihre Fortschritte überwachen kann, Sie wissen schon."
"Ja, ja, ja. Kein Problem." Herr K. nickte heftig.
"Ich könnte auch...äh, streng mit Ihnen sein, wenn sie meinen, das hilft", schlug der andere vor.
"Das wäre sehr freundlich", sagte Herr K. überglücklich. "Je strenger desto besser. Schließlich geht's hier ja um einiges."
"Also, abgemacht!" Der andere streckte ihm die Hand hin und Herr K. schüttelte sie sehr ausgiebig. Seine Augen glänzten in jener besonderen Art von hündischer Dankbarkeit, die Sektenmitglieder so frappierend draufhaben, bevor sie anfangen, ihren Guru mit Geldscheinen zu bewerfen.
"Ich weiß gar nicht, wie ich ihnen danken soll..."
"Danken Sie mir erst, wenn alles vorbei ist", sagte der andere mit der herablassenden Selbstzufriedenheit eines Gurus, der in Gedanken gerade einen Rolls-Royce-Katalog durchblättert, "und bis dahin ist es noch ein langer und steiniger Weg. Aber ich verspreche Ihnen: Am Ende werden Sie sich selbst nicht mehr wiedererkennen."
"Großartig!" rief Herr K. euphorisch. "Womit fangen wir an?"
"Hmm..." Der andere machte eine Pause und kratzte sich nachdenklich am Kinn. "Wie sind Sie denn so für gewöhnlich?"
Herr K. reagierte auf diese Frage mit verständlicher Hilflosigkeit. Jemanden zu fragen, wie er denn so ist, hat den gleichen Effekt, als ob man jemanden auffordert, sich selbst in die Augen zu sehen, ohne einen Spiegel zu benutzen: Man kann sich bei dem Versuch leicht eine Zerrung zuziehen. Für eine Weile wand er sich in stummer Verzweiflung.
"Nur raus damit!" ermutigte ihn der andere. "Wir müssen uns doch einen Überblick über das Ausgangsmaterial verschaffen, damit wir wissen, wie wir weiter vorgehen müssen. Wir wollen doch schließlich keinen Fehler machen, nicht wahr?"
"Ja, äh...also, ich denke, ähm..." brachte Herr K. letztendlich hervor, "nun, ich schätze, unscheinbar wäre vielleicht das richtige Wort..."
"Aha. So kommen wir doch weiter."
"...irgendwie nichts besonderes", fuhr Herr K. kleinlaut fort. "Eigentlich ganz normal ... äh."
"Aha, aha. Verstehe. Hm. Sie meinen so was wie berechenbar."
"Nun, ja..."
"Sie tun immer das richtige, was. Sind immer nett zu allen und so."
"Äh, schätze, so ist es", erwiderte Herr K. verlegen.
"Soso. Interessant..." Der andere kratzte sich ein weiteres Mal nachdenklich am Kinn. "Hm. Ich schätze, hier sind wohl etwas drastischere Maßnahmen vonnöten", erklärte er dann. "Sind sie verheiratet?"
"Ja."
"Sehr gut." Der andere klatschte zufrieden in die Hände, dann legte er Herrn K. den Arm auf die Schultern und begann ihm seinen Plan zu erklären: "Also, hören Sie zu! Ich möchte, daß sie jetzt nach Hause gehen und ihre Frau den ganzen Abend wie Dreck behandeln. Haben sie keine Hemmungen. Seien Sie richtig mies, ein totales Arschloch, klar?"
"Äh, wenn Sie meinen..."
"Und morgen zertrümmern Sie ihren Fernseher, kaufen sich eine Lederjacke, eine Haschischpflanze und fangen an, Tibetanisch zu lernen. Haben sie Kinder?"
"Ja..."
"Fein. Schmeißen Sie sie raus. Sagen sie ihnen, sie hätten die Nase voll, und sie sollen sich einen Job suchen oder sowas."
"Äh. Aber er ist erst neun..."
"Um so besser. Das gibt der Sache noch mal einen entscheidenden Kick in die richtige Richtung..."
Der andere brach ab und bedachte Herrn K., der seinen Gegenüber mit weit aufgerissenen Augen anstarrte und verblüfft nach Luft schnappte, mit einem eiskalten Blick.
"Sehe ich da etwa ein Zögern in Ihren Augen?" fragte er mit herrischem Tonfall.
"Äh, also..."
"Sie wollten doch, daß ich streng mit Ihnen bin, oder?"
"Naja..."
"Also! Jetzt wird es wohl Zeit, streng mit Ihnen zu sein. Wie Sie eben selbst bemerkten: Sie haben bereits genug Zeit vergeudet. Sie wollen hier schließlich kein Auto kaufen, sie wollen ihr Leben verändern, also lassen Sie sich nicht so hängen, verdammt noch mal!"
"Also, äh... wenn Sie meinen..."
"Allerdings!"
"Nun, äh..." Herr K. straffte seine zusammengesunkene Gestalt ein wenig und blickte dem anderen mit neu erwachtem Selbstbewußtsein in die Augen. "Wenn das so ist, dann werde ich mein bestes geben", verkündete er mit fester Stimme.
"Sehr gut", meinte der andere und klopfte Herrn K. anerkennend auf die Schulter. "So gefallen sie mir schon besser. Tun Sie einfach, was ich Ihnen sage, und Sie werden sehen, daß alles ein gutes Ende nimmt."
"Ich vertraue mich voll und ganz Ihrer Führung an", versicherte Herr K.
"Fein. Sie werden es nicht bereuen. Hängen Sie sich richtig rein. Die Zeiten des Zögerns sind vorbei!"
"Jawoll!" Sein Körper war das einzige an Herrn K., das nicht salutierte.
"Und wenn wir uns in einem Monat hier wieder treffen, dann sind sie gefälligst Alkoholiker, geschieden und haben eine Affäre mit einer sechzehnjährigen Prostituierten, die Sie nur wegen ihres Geldes liebt, verstanden?"
"Alles, was Sie sagen!"
"Und jetzt ab mit Ihnen. Verlieren Sie keine Minute mehr!"
"Sofort!" Jetzt salutierte Herr K. tatsächlich. "Und vielen Dank."
"Keine Ursache. Ich freue mich immer, wenn ich helfen kann."
Sie schüttelten sich die Hände, dann eilte Herr K. überglücklich davon.
Der andere sah ihm eine Weile nach, dann wandte er sich ab und zündete sich noch eine Zigarette an. Nach einigen Schritten begann er lauthals zu lachen. Ein Passant starrte ihn mißtrauisch an. Der andere schnippte ihm die Zigarette ins Gesicht und ging, noch immer laut lachend, davon. Er hatte gerade beschlossen, mit dem Rauchen aufzuhören, einfach so. Es konnte ja nichts schaden...

 

Horni, kennst du etwa Alpha O'Droma persönlich? Der macht solche Sachen auch immer, zumindest auf dem Papier. :D

Gute Geschichte, hab mich köstlich amüsiert und hatte kein bißchen Mitleid mit dem Weichei.
Satire ist deine Welt, stimmts? (Hab mir deine HP angeschaut)


Gruß.....Ingrid

 
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Mahlzeit!

Hey! Danke fürs Lesen - und vor allem für das beinahe überschwengliche Lob! :)
(Wunder...Gab's denn wirklich so gar nix zu meckern??? :confused: )

Sowas gibt doch neuen Mut für Zukünftiges... (Das war eine Drohung...HARHARHAR(tm) :smokin: )

@Ingrid: Willkommen in der weltweiten Gemeinde der HWWW-Abhängigen! :D Und...naja, Satire ist zumindest eine meiner Welten... ;)

Hocherfreut,
Horni

 

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