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Das Weihnachtswunder vom Wiener Christkindlmarkt
Dies ist der Versuch, eine Geschichte, wie sie weihnachtlicher nicht sein könnte, so aufzuschreiben, dass sie nichts an ihrer zauberhaften Essenz verliert, die ihr inne wohnt. Diese Geschichte würde es verdienen, bei Kerzenschein und Bratäpfeln erzählt zu werden, während im Hintergrund die Katze am Kamin sanft vor sich hin schnurrt und die dicken Schneeflocken beobachtet, die vor ihr am Fenster vorbeihuschen. Ohne diese Elemente ist es schwer, jene Stimmung zu erzeugen, die eine Geschichte erst zu einem richtigen Weihnachtsmärchen macht. Dann müsste es schon eine unglaubliche Erzählung sein, mit großen Gefühlen, tapferen Helden und einem magischen Weihnachtswunder. Glücklicherweise ist es genau so eine Geschichte, die sich vor nicht allzu langer Zeit im wahren Leben ereignet hat.
Das Weihnachtsmärchen begann vor zwei Jahren am Wiener Christkindlmarkt. Es war ein Sonntagabend Ende November, es war bitterkalt und Wind zog durch die Reihen unzähliger Weihnachtsmarkthütten und trieb die Leute regelrecht zu den Punsch- und Glühweinständen. Hunderte Menschen, huschten hektisch von einer Hütte zur anderen, bildeten riesige, singende Gruppen vor den Punschständen und schimpften lautstark ihren Kindern nach, die angesichts der bevorstehenden Weihnachtszeit in ihrem Drang zu Unsinn nicht mehr zu bändigen waren. Es sei ihnen auch nicht zu verdenken. Viele Stände warben mit grell-bunten Spielwaren um die Gunst der Kleinsten und das meiste Spielzeug befand sich natürlich in Augen- und Griffhöhe der Kinder.
Doch der eigentliche Ort des Geschehens befand sich etwas abseits der Spielwarenhütten, Punschstände und Weihnachtslied grölenden Glühweintrinker, direkt vor einem Stand für Bilderbücher. Dieser Stand gehörte einem alten Mann mit freundlichen Augen und einem gutmütigen Lächeln. Er strahlte so viel Wärme und Herzlichkeit aus, dass man sich ihn unmöglich an einen anderen Ort oder zu einer anderen Jahreszeit hätte vorstellen können. Und seine große Begabung war es, Bilderbücher nachzuerzählen. Doch er las sie nicht vor, sondern erzählte die Geschichte zu den Bildern und das meist lebhafter und liebevoller als es der zugehörige Text je vermocht hätte. Dabei blätterte er regelmäßig weiter und zeigte auch die kleinsten Details in den Bildern auf, jene, die sonst nur Kinder entdeckten.
Vielleicht lag es an der Grundstimmung des Wieder Christkindlmarktes, vielleicht auch an der Stimme und der Ausstrahlung des Mannes mit den bunten Bilderbüchern auf dem Arm, jedenfalls schaffte er es, ständig eine Gruppe von Erwachsenen vor sich zu versammeln, die mit einem kindlichen Staunen im Gesicht den Geschichten der Bilderbücher lauschten.
An jenem Sonntagabend erzählte der alte Mann folgende Geschichte: „Das Buch handelt von einem Mädchen namens Melanie, das sich nichts sehnlicher zu Weihnachten wünscht, als eine Prinzessinnen Puppe, mit langem goldenen Haar, das es frisieren und einer Krone, die sie aufsetzen kann und vielen Kleidern, die es der Puppe den ganzen Tag lang an- und ausziehen kann. Man sieht richtig, wie ihre Wangen leuchten, als sie noch am Tag vor Weihnachten an diese Puppe denkt und sie freut sich schon so auf diese Puppe, dass sie die Nacht davor gar nicht schlafen konnte.
Und dann ist endlich Weihnachten. Alle bekommen das, was sie sich gewünscht haben. Der Papa bekommt seine Lieblingskrawatte, die Mama ihr Lieblingsparfum und der große Bruder den Fußball, den er sich schon lange gewünscht hat. Und als Melanie ihr Packerl in die Hände bekommt, ist sie schon ganz aufgeregt. Sie freut sich schon so auf diese Puppe, dass sie nicht einmal die Süßigkeiten auf dem Christbaum beachtet. Sogar die riesige Zuckerstange hat sie achtlos in die Ecke geworfen, wobei die Mäuse in der Mauer ihre Freude haben. Wie man sieht, lachen sie und freuen sich über dieses unverhoffte Weihnachtsgeschenk.
Doch was muss Melanie entdecken, als sie das Packerl öffnet? Es befindet sich gar keine Prinzessinnen Puppe mit langen Haaren und vielen bunten Kleidern darin. Ein alter grauer Teddybär mit zersaustem Fell und nur einem einzigen Knopfauge kommt zum Vorschein. Für das Mädchen bricht eine Welt zusammen. Sie ist so enttäuscht, dass sie den Teddybären an den Füßen packt und durch das ganze Zimmer in die hinterste Ecke wirft.
Da liegt er nun, der alte, graue Teddybär in der hintersten Ecke und als Melanie ganz zornig in ihr Zimmer läuft, kümmern sich nur die Mäuse um das arme Stofftier, das gar nicht verstehen kann, wieso es nicht gemocht wird.
Aber die Mäuse haben Mitleid mit dem alten Bären und als alle schlafen, tragen sie ihn ganz mühsam die Stufen hoch, um ihn in Melanies Schlafzimmer zu bringen. Alle Mäuse helfen mit, selbst das kleine Babymäuschen hilft da schon tatkräftig mit. Oben angekommen, setzen sie ihn in Melanies Bett und hoffen, dass das Mädchen den alten Teddybären mit nur einem Knopfauge doch noch liebhaben kann.
Von all dem Gepolter, das die Mäuse gemacht haben, ist Melanie aufgewacht. Im ersten Moment glaubt sie noch, das Christkind wäre zurückgekommen, um ihr die Puppe, die sie sich noch immer so sehr wünscht, nun doch noch zu bringen. Aber als sie die Augen öffnet, sieht sie nur, wie der hässliche alte Teddybär auf ihrem Bett sitzt und sie mit dem einen Knopfauge anglotzt. Ganz wütend springt sie auf, packt das Stofftier und wirft es aus dem Fenster ihres Schlafzimmers.
Da liegt er nun, am Heiligen Abend, mitten auf der Straße und hat niemanden, der ihn lieb hat. Zu allem Übel beginnt es nun auch noch zu schneien und man sieht, wie der Bär friert, man kann es beinahe nachfühlen, wie ihm die Knie schlottern. Und je mehr es schneit, desto mehr wird er von Schnee bedeckt. Man kann jetzt schon nur noch den grauen Kopf mit dem einen Knopfauge sehen.
Nun kommt Melanie in ihrem warmen Bett aber doch ganz schön ins Grübeln, als sie die dicken Schneeflocken sieht, die an ihrem Fenster vorbeiziehen und den Wind hört, der ganz wild um das Haus pfeift. Er ist zwar keine Prinzessinnen Puppe, denkt das Mädchen, hat keine langen Haare und keine bunten Kleider, die man ihm anziehen könnte, aber hat er es verdient, auf der Straße zu liegen? Hat es denn nicht jeder verdient, geliebt zu werden, vor allem zu Weihnachten?
Und es lässt dem Mädchen keine Ruhe. Es steht auf und sieht aus dem Fenster. Da liegt er, der alte, zersauste Teddybär. Riesige Schneeflocken fallen auf ihn herab und bedecken beinahe schon seinen ganzen Kopf.“
Der Erzähler machte eine kurze Pause, um die nächste Seite aufzuschlagen. Es hatten sich bereits mehr und mehr Zuhörer eingefunden, allesamt Erwachsene, die mit teils offenem Mund auf die bunten Bilder schauten und den Worten des Mannes lauschten.
„Und da sieht es Melanie plötzlich ein. Sie huscht die Stiegen herab, rennt raus auf die Straße und läuft zu der Stelle, die sie vom Fenster aus gesehen hat. Sie hätte den Teddybären beinahe nicht gefunden, so eingeschneit war er schon. Nur das Knopfauge ragte aus einem Schneehaufen neben der Straße heraus.
Sofort befreit sie den Teddybären aus dem Schnee und bringt ihn schnell ins warme Haus. Sein Fell ist ganz durchgefroren, ganz kleine Eiszapfen hängen an seinen Ohren. Melanie tut der Bär sehr leid. Egal wie hässlich er auch ist, ob er nur ein Auge hat oder ein zersaustes Fell, es war ihr Teddybär und er hatte es verdient, geliebt zu werden. Sie macht jetzt auch alles, damit es ihm besser geht. Sie bereitet ihm eine Tasse Kakao zu, fönt sein Fell und nimmt ihn dann sogar mit unter die Decke.
Und als am nächsten Morgen die ganze Familie beim Frühstückstisch zusammensitzt, hat sogar der alte, zersauste Teddybär mit dem einen Auge einen Sessel auf dem er sitzt und als ihm Melanie ein Stück Butterbrot streicht, sagt sie zu ihren Eltern: ,Das ist das schönste Geschenk, das mir das Christkind je gebracht hat!’
Und da freuen sich alle. Sogar die Mäuse in der Ecke freuen sich einen Haxen aus, denn sie haben dem Teddybär geholfen, geliebt zu werden, dem Mädchen, dass sie zu einer großen Einsicht kommt und nun können sie endlich in Ruhe die übergroße Zuckerstange essen, die ihnen am Tag zuvor zugekommen ist.“
Der Erzähler schloss die Geschichte mit dem Hinweis, wie schön die Bilder gezeichnet waren, wie liebevoll die Details ausgearbeitet sind, und dass es eine der schönsten Geschichten sei, die er in diesem Jahr ausstellte.
Wundersamerweise kauften beinahe alle Zuhörer das Buch. Alle, auch die, die keine Kinder hatten, waren so mitgerissen von der Geschichte, dass sie es unbedingt haben mussten. Für die meisten von ihnen war die Weihnachtszeit gerade etwas weihnachtlicher geworden.
Doch das eigentliche Wunder ereignete sich, als alle Zuhörer ihr Exemplar gekauft hatten und weitergezogen waren. Eine junge Frau in einem dicken schwarzen Mantel und einer roten Haube blieb über. Ihr Gesicht war voller Tränen.
„Was ist denn los, junge Frau?“, fragte der Geschichtenerzähler.
Die Frau schluchzte und holte ein Taschentuch hervor, um sich die Tränen von den Augen zu wischen. Ihr Gesicht sah so aus, als hätte sie diese Handbewegung in letzter Zeit sehr oft machen müssen. Sie blickte sich verstohlen um und als sie sah, dass außer dem Geschichtenerzähler niemand mehr da war, der sie hören konnte sagte sie: „Ich bin schwanger. Zuerst lief alles gut, doch vor einigen Tagen haben mir die Ärzte gesagt, dass das Kind geistig behindert zur Welt kommen wird. Es bestünde keine Chance, dass es gesund sei, aber ich hätte die Chance, mich zu entscheiden. Sie rieten mir, es wegmachen zu lassen.“ Sie schluchzte nun wieder und musste eine kurze Pause machen.
Dann sah sie dem Erzähler in die Augen. Ihr Make-up war nun verronnen und ihre Augen glänzen, als sich neue Tränen bildeten. „Hat es denn nicht jeder verdient, geliebt zu werden? Egal ob er nur ein Knopfauge hat oder nicht so denkt, wie es die meisten anderen Menschen tun?“ Wieder schluchzte sie und diesmal schlug sie die Hände vors Gesicht.
Der Erzähler dachte, es sei nun an der Zeit für ihn, etwas zu sagen, wusste aber nicht so recht, was. Er konnte Geschichten erzählen, aber um Ratschläge in so großen Fragen des Lebens zu geben, dafür fehlte ihm jegliche Begabung.
Doch er musste auch nichts sagen, die junge Frau nahm seine Hand und sah ihm wieder mal ins Gesicht. Doch diesmal war ihr Ausdruck nicht verweint und unsicher, sondern stark und entschlossen. „Sie haben mir diese Entscheidung heute abgenommen. Am Punschstand da hinten war ich noch fest entschlossen, es abtreiben zu lassen und nie wieder an das Kind zu denken. Jetzt aber weiß ich, was zu tun ist: Ich werde das Kind bekommen, meinen Liebling, und ich werde ihn genau so lieben, wie er es verdient hat, und kein bisschen weniger.“
Die junge Frau kaufte ein Buch, verabschiedete sich und ging davon.
Etwa ein Jahr später, es war früher Nachmittag und der Geschichtenerzähler breitete gerade seine Bücher aus, besuchte ihn die junge Frau erneut. Sie grüßte ihn lächelnd und er grüßte zurück. Er konnte sich nur zu gut an ihre letzte Begegnung erinnern, genauer gesagt, sie war ihm seit damals nicht aus dem Kopf gegangen.
Die Frau schob einen Kinderwagen näher an den Stand heran. Sie nickte dem Erzähler mit einem Lächeln zu, als würde das alle seine Fragen beantworten. Dann hob sie das Kind aus dem Kinderwagen und hielt es so hoch, dass der alte Mann in dem Stand voller Bilderbücher es sehen konnte. Das Baby öffnete etwas verschlafen die Augen und blickte dann in das große, gutmütige Gesicht des Erzählers.
„Er heißt Michael. Er ist kerngesund“, sagte die junge Frau.
Der Geschichtenerzähler lachte vor Freude und das Kind lachte zurück.
Wäre dies nun eine Geschichte, dann hätten nun die Kirchenglocken angefangen zu läuten oder es hätte zu schneien begonnnen. Vielleicht wäre auch ein Christbaum hell erbrannt und eine Sternschnuppe wäre über den Himmel gehuscht. Natürlich ist dies alles nicht passiert, so etwas passiert bei einer wahren Geschichte nie, obwohl sie einem derartigen Wunder gerecht geworden wären. Doch, wenn man ganz genau hinhörte, dann klang das Lachen des Kindes, das ganz dem Mann galt, der ihm mit seinen Geschichten das Leben gerettet hatte, wie der schönste Engelschor.