Das Weihnachtsgeschenk
Der Hauptmann hatte das, was von seiner Kompanie übrig war, auf beiden Seiten eines Waldweges positioniert. Seine Kompanie bestand nur noch aus einem Leutnant und einer Handvoll Soldaten. Sie hatten eine harte Woche hinter sich in den Ardennen.
Der Hauptmann war 1939, bald nach seiner Ordination zum evangelischen Priester, zur Wehrmacht eingezogen worden. Es hatte den Anschein gehabt als wollte man ein Exempel statuieren, indem man Priester zur Waffe rief. Aber er tat seine Pflicht gegenüber seiner Familie und seinem Vaterland, ohne seinen Glauben zu verlieren. Seine größte Sorge galt immer seinen Mitmenschen, was ihm den Ruf eines zuverlässigen Kameraden einbrachte. Er kam zur Wehrmacht als einfacher Soldat, aber die Fähigkeit sich mit Menschen zu verständigen und der Mangel an Führungskräften je länger der Krieg dauerte, brachten ihn in immer anspruchsvollere Positionen, bis er der Chef einer Infanteriekompanie wurde. Wer ihn kannte, wunderte sich, wie ein ausgebildeter Theologe den Widerspruch zwischen Religion und dem Gebrauch der Waffe für sich rechtfertigen konnte. Er tat es, indem er nie seine Waffe willkürlich benutzte und nie den Wert eines Menschenleben aus den Augen verlor. Außerdem war ihm bewusst, sollte er den Dienst an der Waffe verweigern, wäre er und seine Familie folgenschweren Schwierigkeiten ausgesetzt.
Als er mit seiner Kompanie im Hürtgenwald lag, war der Krieg längst verloren, doch Hitler setzte auf einen letzten Schlag, um in eine bessere Verhandlungsposition zu gelangen, falls es zu Waffenstillstandsverhandlungen mit den westlichen Alliierten kommen sollte. Trotz herbeigerufener Verstärkung seitens der Amerikaner gelang es der Wehrmacht, sie um das belgische Städtchen Bastogne einzukesseln. Dabei spielte die Wetterlage in die Hände der Deutschen, denn die seit Wochen andauernde niedrige Wolkendecke, die schlechte Sicht und die sich wiederholenden Schneefälle, verhinderten die Unterstützung der amerikanischen Truppen aus der Luft. Weder Jagdbomber noch Versorgungsflugzeuge konnten eingesetzt werden.
Der Kampf um Bastogne ging hin und her. Des Hauptmanns Kompanie hatte Gehöfte und Dörfer in der Umgebung von Bastogne mehrmals besetzt und dann wieder aufgeben müssen. Nach einem erneuten Rückzug lag sie jetzt in einer Verteidigungsposition, denn ein erneuter Versuch der amerikanischen Truppen aus dem Kessel um Bastogne auszubrechen, hatte begonnen. Die Männer hatten sich Mulden in den Boden gegraben, tiefere Schützenlöcher zu graben war unmöglich wegen des gefrorenen Bodens und der zahlreichen Wurzeln der riesigen Tannen darin. Also drückten sie sich in die Mulden und bedeckten sich zur Tarnung mit Reisig.
Es wurde dunkel. Ein eisiger Wind pfiff durch den Wald. Nicht weit entfernt feuerte ein Maschinengewehr immer wieder kurze Salven und aus der Ferne hörte man Artillerieeinschläge. Das Warten auf ein schicksalhaftes Ereignis zermürbt den Geist. Der Mensch tendiert sich zu schützen, indem er sich in seine Gedanken flüchtet. Manch ein Soldat findet Gedanken an seine Geliebten, an die Heimat oder einfach an etwas Schönes ein Hilfsmittel zur Aufrechterhaltung seines Verstandes. Des Hauptmanns Gedanken gingen zurück in die Zeit vor dem Krieg. An sonnige Tage, in denen er, jung verheiratet, mit seiner Frau mehrtägige Faltbootfahrten auf süddeutschen Flüssen machte und auf mit Blumen bedeckten Wiesen im mitgebrachten Zelt übernachtete. Und an die Kinder, die jetzt auf ihn warteten. Er wunderte sich ob und wann er seine Familie wiedersehen würde. Seine Familie hatte sich während der letzten fünf Jahre vergrößert – nach jedem Heimaturlaub kam Nachwuchs. Das jüngste Kind hatte er noch nicht gesehen. Das Weihnachtsgeschenk, nach dem er sich am meisten sehnte, war es das Kind wenigsten einmal in seinen Armen zu halten, bevor ihn das Schicksal ereilte.
Plötzlich ertönte Motorengeräusche und das unverwechselbare Knirschen und Quietschen, das Kettenfahrzeuge begleitet. Der Soldat auf Spähposition signalisierte: Panzer. Die Anspannung war groß, jeder wartete auf den Befehl des Kompaniechefs, das Feuer zu eröffnen. Dessen Plan war es jedoch den ersten Panzer nicht frontal anzugreifen. Der Panzer ratterte immer näher. Als er näherkam, konnte der Hauptmann den Panzerkommandanten im Turm des Panzers stehen sehen. Er wunderte sich über den Leichtsinn des Amerikaners, er wäre ein leichtes Ziel für ihn und seine Männer gewesen. Er wartete jedoch in der Absicht, den Panzer passieren zu lassen und ihn dann von hinten anzugreifen.
In dem Moment, als der Hauptmann den Befehl zum Angriff geben wollte, geschah etwas Unerwartetes: Der Panzer hielt abrupt an und die Kanone drehte sich im Kreis herum, während der Amerikaner im Turm eine schweifende Geste machte und wiederholt, „raus, raus, alle raus!“, in Richtung der auf Lauer liegenden Deutschen rief. Offensichtlich hatte der Panzerkommandant den Hinterhalt erkannt und wusste ziemlich genau, wo die Landser sich verschanzt hatten. Verblüfft vom Mut des Panzerkommandanten und dessen Vertrauen in sein Glück, blieben die Deutschen wie an den Boden gefroren liegen. Der Hauptmann sah keine Chance, für seine Männer aus dieser Lage lebend herauszukommen. Rückzug war unmöglich. Es wäre ein Leichtes gewesen den Panzerkommandanten zu erschießen, das wäre aber das Ende seiner Kompanie gewesen, denn mehr Panzer kamen in Sicht. Er dachte sich, gegen derartige Dreistigkeit, wie der amerikanische Offizier in die potenzielle Falle gefahren war, war nichts entgegenzusetzen. Er schaute fragend zu seinem Leutnant. Der Leutnant erkannte in dem Blick die Frage, ob es doch nicht klüger wäre sich zu ergeben, anstatt ein sinnloses Gemetzel einzuleiten, in dem hauptsächlich die eigenen Leute gelitten hätten. Als der Leutnant einwilligend nickte, entschloss sich der Hauptmann den Krieg für die ihm anvertrauten Männern und sich selbst zu beenden. Er stand auf mit erhobenen Händen und befahl seiner Kompanie dasselbe zu tun.
Die beiden deutschen Offiziere wurden von ihren Soldaten getrennt und zu einem Gefechtsstand, der sich in einem Bauernhaus befand, gebracht. Dort führte man sie in einen Raum zur Vernehmung. Sie wussten nicht, was passieren würde. Sie standen in Erwartung ihres Schicksals und vermieden sich in die Augen zu sehen. Die Schmach sich geschlagen gegeben zu haben bedrückte sie schwer. Jeder der beiden war mit seinen Gedanken beschäftigt.
Dem Hauptmann war klar, dass alles, was nun kommen würde, Gefangenschaft oder Tod, dazugehört, dass er sich diese Uniform aufdrängen ließ. Er hatte es nicht mit schlechtem Gewissen, nicht nur aus Schwäche getan. Er hatte sich vorgestellt, viel Sinnvolles im allgemeinen Wahnsinn tun zu können. Er hatte wegen der Uniform nicht nur gelitten, sondern von ihr auch profitiert. Kriegsdienstverweigerer wurden geprügelt und erschossen oder gingen in Strafbataillonen zugrunde. Er hatte zu essen, wenn Zivilisten hungerten. Nicht zu denken, wie es den Familien von Kriegsdienstverweigerern erging.
Die Gedanken wurden unterbrochen, denn die Tür öffnete sich und herein trat der Offizier, der im Turm des Panzers gestanden hatte. Er musterte die zwei Gefangenen sorgfältig, was ihnen wie eine Ewigkeit erschien. Seine Augen hatten einen traurigen Blick, obwohl sein Gesichtsausdruck nicht unfreundlich war. Dann zog er eine Packung Zigaretten aus seiner Tasche, zündete zwei Zigaretten an und legte die brennenden Zigaretten auf die Kante des Tisches, der sich im Raum befand, und verließ wortlos den Raum.
Die deutschen Offiziere schauten sich gegenseitig an. Es war ihnen plötzlich bewusst, dass sie soeben das beste Weihnachtsgeschenk erhalten hatten, das sie sich wünschen konnten: Der Krieg war zu Ende für sie und sie hatten überlebt. Es war Heiligabend 1944.