Das Weihnachtsgedicht
Das Weihnachtsgedicht
Bei uns war es Brauch, dass am ersten Advent, wenn sich die Familie mit Spekulatius und Dominosteinen um den Adventskranz versammelte, mein Vater im Schein der einsam brennenden Kerze anhub und sprach: "Es wird Zeit, ein Gedicht auszusuchen, das ihr am Weihnachten aufsagen wollt."
Ich sah die Gesichter meiner beiden Schwestern erbleichen und lächelte zufrieden. Die Erfahrung meiner fünf Lebensjahre hatte mich gelehrt, dass diese Aufforderung stets nur ihnen galt, die drei und fünf Jahre älter waren als ich. Erinnerungen an vergangene Adventswochen zeigten mir Bilder, wie Hertha, die Älteste, und Elisabeth, die Mittlere, sich vom vielen Gebrauch zerknitterte und stockfleckige Zettel in die Hand drückten mit der Aufforderung: "Hör mal, ob ich’s schon kann!"
Dann rezitierte die eine mit zittriger Stimme, und die andere sagte: "Es heißt `sitzen´, nicht `blitzen´", und zwischendrin wurde ich angezischt: "Hast du’s gut, dass du das nicht machen musst. Nur, weil du jünger bist. Das ist ungerecht!"
Aber, wie sich zeigte, musste ich schon in zartem Alter lernen, dass die Umstände selten die gleichen bleiben und die Welt sich ändert. In diesem Jahr sah mein Vater nicht nur die beiden Älteren an, sondern auch mich und verkündete: "Du, Verena, bist jetzt auch alt genug, um eins aufzusagen."
Erschrocken starrte ich Papa an: "Ich bin doch erst fünf!"
"In dem Alter hab ich auch mein erstes Gedicht aufsagen müssen", versicherte Elisabeth, und ihre Augen leuchteten vor Schadenfreude.
Hierauf holte Papa seine blaue Mappe aus dem Schreibtisch, in dem einige vergilbte, knittrige Zettel lagen mit Gedichten darauf, und wir Kinder sollten eines wählen. Elisabeth suchte sich sofort Knecht Ruprecht aus, das war zwar ziemlich lang, aber sie hatte es schon letztes Jahr aufgesagt und hoffte, noch einiges zu wissen, wie sie mir später erklärte. Hertha, die Streberin, wählte „Leise fällt der Schnee vom Himmel“ mit neun Strophen. Ich, des Lesens unkundig, starrte hilflos auf die Zettel, bis Mama sagte: "Du nimmt das hier, das ist nicht so lang" und ein Blatt aus dem Wust zog , auf dem tatsächlich nicht so viele Zeilen standen. Die Ode, die vorzutragen mir beschieden war, hieß "Vom Christkind."
Das Schicksal hatte zugeschlagen, die Optionen lagen fest: Der Weihnachtsmann wollte, dass alle älteren Kinder unter dem Tannenbaum Gedichte aufsagten, und er freute sich, wenn man es gut machte. Im Umkehrschluss würde er sich nicht freuen, wenn man dauernd hängen blieb. Hieraus folgte fast zwingend, dass er im letzteren Fall auch weniger Geschenke bringen würde. Natürlich jagten mir diese Aussichten einen ziemlichen Schrecken ein, und ich trug die Theorie Elisabeth vor. Die blickte mich lauernd an und sagte dumpf: "Klar, dann gibt's weniger Geschenke. Das ging mir vor zwei Jahren auch so, da habe ich das Feenkleid nicht bekommen, was ich mir gewünscht habe."
So ganz wollte ich ihr das nicht glauben. Letztes Jahr hatte sie mir noch weismachen wollen, es gebe gar keinen Weihnachtsmann, und ich war schon fast überzeugt gewesen. – "Da habe ich dich nur hopsgenommen", erklärte sie nun. "Natürlich gibt's den Weihnachtmann. Sonst würde doch kein Kind Gedichte aufsagen."
Das leuchtete mir unmittelbar ein. Fortan ließ ich mir täglich das Gedicht von einem Familienmitglied vorlesen und versuchte, es nachzustammeln, unterstützt vom lesekundigen Helfer.
"... schleppte und stolperte neben mir her ..."
" ... polterte neben mir her."
" ... denkt nicht, er wäre offen ..."
"Nein, nein, `denkt ihr, er wäre offen´, und du hast was ausgelassen."
Kein Zweifel, die Zukunft sah nachtschwarz aus. Mit Riesenschritten nahte der dritte Advent, sonst ein Grund zur Freude, brachte er doch das ersehnte Fest in recht greifbare Nähe. Nun hingegen mischte sich Furcht in die Verheißung, legte sich Unbehagen wie ein schwerer Schatten über Kerzenschein, Fensterschmuck, Adventsgebäck und zaubervolle Schneeflocken: Stolperte ich doch immer noch recht häufig beim Rezitieren des Gedichts, ganz abgesehen davon, dass ich mich davor fürchtete, es ganz allein vor allen aufzusagen. Auch Oma und Opa würden da sein.
Mit Entsetzen erkannte ich, dass es fortan jedes Jahr so ablaufen würde. Immer würde ich mich mit einem Gedicht zu quälen haben, sie würden länger und länger werden, und mit der unbeschwerten Weihnachtsfreude wäre es ein- für allemal vorbei. Dabei war Weihnachten doch die schönste Zeit im Jahr! Der beste Teil meines Lebens war eindeutig vorüber.
"Stell dich nicht so an", sagte Papa. "In deinem Alter habe ich schon viel längere Gedichte gelernt."
Er war ja auch mein Papa und konnte schon immer alles viel besser als ich. Ich war bloß Verena und die Kleinste. Außerdem war mir das Gedicht spinnefeind. Es piesackte mich mit Worten, die ich nicht kannte: Was war "Schelmenpack", und wer war eigentlich das Christkind? Ich kannte den Weihnachtsmann, den Nikolaus und den Krampus und war damit bisher bestens ausgekommen. Nun schleppte ein kleines, frierendes Kind seinen Sack, in dem anscheinend bloß Nüsse und Äpfel waren, durch mein Gedicht, und das in Sätzen, die sich bevorzugt in verschneiten Schluchten oder nebligen Tälern verborgen hielten, wenn ich versuchte, sie zu erhaschen.
"Hättest halt Knecht Ruprecht genommen", sagte Elisabeth. "Der ist besser."
Als sich der vierte Advent näherte, wurde die Sache langsam flüssiger, und ich schöpfte wieder Hoffnung. – "... kamausdemWaldedasMützchenvollSchnee mitrotgefrorenemNäschendiekleinenHändetatenihmwehdennestrugeinenSack derwargarschwer ..."
"Vielleicht", riet Hertha, "sagst du's ein bisschen langsamer auf."
Das riskierte ich nur ungern: Am Ende würden mir die Sätze entwischen, wenn ich ihnen nicht schnell genug nachjagte.
Um ganz sicherzugehen, dass es klappen würde, ließ ich mir jeden Abend vor dem Einschlafen das Gedicht von Elisabeth abhören. – "Na also", meinte sie drei Tage vor Weihnachten. "Du kannst es doch."
Dann war er da, der große Tag. Das Mittagessen ging vorüber, das Kaffetrinken ging vorüber, endlich, endlich wurde es dunkel und der Weihnachtsbaum angezündet, Symbol der Verheißung, Ort, an dem mein Schicksal vollstreckt würde. Wir Kinder hatten unsere Geschenke für die Großen noch in unseren Zimmern versteckt; für uns lagen aufgereiht vor dem Wohnzimmerschrank drei geheimnisvolle, mit Bettlaken verhüllte Haufen. Mir kam auf einmal der Gedanke, dass der Berg, der für mich bestimmt war, doch nicht auf einmal kleiner würde, wenn ich beim Rezitieren zu oft hängen bliebe. Wie verhielt sich das nun mit dem Weihnachtsmann ...? Aber ich war viel zu aufgeregt, um klar zu denken.
Als Jüngste kam ich zuletzt dran, das zog die Qual in die Länge. Im dämmrigen Zimmer leuchteten die bunten Kugeln am Weihnachtsbaum wie Sterne, und die Kerzenflammen schwankten leicht in der warmen Heizungsluft. Hertha sagte ihre vielen Strophen wie immer flüssig und fehlerfrei auf, Elisabeth schmetterte ihren Knecht Ruprecht der Zuhörerschaft entgegen, blieb zweimal hängen, fing sich aber sofort wieder und machte weiter. Wie schaffte sie das?
Dann trat ich mit zitternden Knien unter den Baum und starrte die vielen Zuhörer an: Oma, Opa, Mama, Papa, Hertha, Elisabeth. So viele Augenpaare, und alle sahen auf mich. Hinter mir knisterte leise eine Kerze.
"Denkt euch, ich habe das Christkind gesehen!" Meine Stimme bebte und zitterte mit den Flammen um die Wette. – "Es kam aus dem Walde, das Mützchen voll Schnee, mit rotgefrorenem ..."
Oh, weh! Mit einem Schlag waren all die so oft hergesagten Sätze wie in einem tiefen Spalt verschwunden. Mein Herz klopfte wild, ich fühlte meine Hände nass werden. Schnell, schnell, das nächste Wort; eines, das mich wieder auf das Gleis brachte, ein rettendes ... Da tauchte es aus dem Dunkel auf, bot sich an, weihnachtlich, oft rezitiert, und ich rief erleichtert aus:
"Sack!"
Es verging eine Schrecksekunde, in der mir Zweifel kamen, und dann fingen alle Großen kreischend an zu lachen. Verdutzt und ungläubig starrte ich sie an; Ärger hätte ich noch verstanden, aber Gelächter?
"Nehmt euch zusammen", murmelte Opa, wischte sich die Lachtränen aus dem Gesicht und winkte mir beruhigend zu: "Schon gut ... mach weiter, du sagst das schön."
Ich war verwirrt, aber meine Spannung hatte nachgelassen, der Faden ließ sich wieder aufnehmen.
"Ähm, ... die kleinen Hände taten ihm weh. Denn es trug einen Sack, der war gar schwer ..."
Mama kicherte schon wieder, und Papa stieß sie in die Seite.
Ich brachte mein Gedicht fehlerfrei zuende, fühlte mich aber nicht ausreichend gewürdigt und war etwas beleidigt, auch, wenn mich die Großen später immer wieder lobten.
Wir sangen Weihnachtslieder, mein Geschenkhügel schien nicht augenfällig geschrumpft zu sein, und der Rest des Abends verlief so zaubervoll wie die Heiligabende die Jahre zuvor.
Eines der Geschenke war für jede von uns Schwestern eine Blockflöte, die uns in der kommenden Zeit zu musikalischen Versuchen anregte. Hertha gelangte im Übrigen zu dem Schluss, sie sei zu alt für Gedichte.
So fand uns der nächste und viele folgende Weihnachtsabende einträchtig Lieder wie: “Ihr Kinderlein kommet“ und „Vom Himmel hoch, da komm ich her“ flötend, wobei ich nur ab und zu einen Ton beisteuerte. Dies war doch bedeutend angenehmer, als allein eine ganze Vorstellung zu geben. Von den Gedichten war ich erlöst, und wenn auch mein Glaube an den Weihnachtsmann bald argen Schaden nahm, so hatte er vielleicht doch damals die Hand im Spiel.