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Das Weihnachtsgedicht

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25.08.2004
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Das Weihnachtsgedicht

Das Weihnachtsgedicht


Bei uns war es Brauch, dass am ersten Advent, wenn sich die Familie mit Spekulatius und Dominosteinen um den Adventskranz versammelte, mein Vater im Schein der einsam brennenden Kerze anhub und sprach: "Es wird Zeit, ein Gedicht auszusuchen, das ihr am Weihnachten aufsagen wollt."
Ich sah die Gesichter meiner beiden Schwestern erbleichen und lächelte zufrieden. Die Erfahrung meiner fünf Lebensjahre hatte mich gelehrt, dass diese Aufforderung stets nur ihnen galt, die drei und fünf Jahre älter waren als ich. Erinnerungen an vergangene Adventswochen zeigten mir Bilder, wie Hertha, die Älteste, und Elisabeth, die Mittlere, sich vom vielen Gebrauch zerknitterte und stockfleckige Zettel in die Hand drückten mit der Aufforderung: "Hör mal, ob ich’s schon kann!"
Dann rezitierte die eine mit zittriger Stimme, und die andere sagte: "Es heißt `sitzen´, nicht `blitzen´", und zwischendrin wurde ich angezischt: "Hast du’s gut, dass du das nicht machen musst. Nur, weil du jünger bist. Das ist ungerecht!"
Aber, wie sich zeigte, musste ich schon in zartem Alter lernen, dass die Umstände selten die gleichen bleiben und die Welt sich ändert. In diesem Jahr sah mein Vater nicht nur die beiden Älteren an, sondern auch mich und verkündete: "Du, Verena, bist jetzt auch alt genug, um eins aufzusagen."
Erschrocken starrte ich Papa an: "Ich bin doch erst fünf!"
"In dem Alter hab ich auch mein erstes Gedicht aufsagen müssen", versicherte Elisabeth, und ihre Augen leuchteten vor Schadenfreude.
Hierauf holte Papa seine blaue Mappe aus dem Schreibtisch, in dem einige vergilbte, knittrige Zettel lagen mit Gedichten darauf, und wir Kinder sollten eines wählen. Elisabeth suchte sich sofort Knecht Ruprecht aus, das war zwar ziemlich lang, aber sie hatte es schon letztes Jahr aufgesagt und hoffte, noch einiges zu wissen, wie sie mir später erklärte. Hertha, die Streberin, wählte „Leise fällt der Schnee vom Himmel“ mit neun Strophen. Ich, des Lesens unkundig, starrte hilflos auf die Zettel, bis Mama sagte: "Du nimmt das hier, das ist nicht so lang" und ein Blatt aus dem Wust zog , auf dem tatsächlich nicht so viele Zeilen standen. Die Ode, die vorzutragen mir beschieden war, hieß "Vom Christkind."

Das Schicksal hatte zugeschlagen, die Optionen lagen fest: Der Weihnachtsmann wollte, dass alle älteren Kinder unter dem Tannenbaum Gedichte aufsagten, und er freute sich, wenn man es gut machte. Im Umkehrschluss würde er sich nicht freuen, wenn man dauernd hängen blieb. Hieraus folgte fast zwingend, dass er im letzteren Fall auch weniger Geschenke bringen würde. Natürlich jagten mir diese Aussichten einen ziemlichen Schrecken ein, und ich trug die Theorie Elisabeth vor. Die blickte mich lauernd an und sagte dumpf: "Klar, dann gibt's weniger Geschenke. Das ging mir vor zwei Jahren auch so, da habe ich das Feenkleid nicht bekommen, was ich mir gewünscht habe."
So ganz wollte ich ihr das nicht glauben. Letztes Jahr hatte sie mir noch weismachen wollen, es gebe gar keinen Weihnachtsmann, und ich war schon fast überzeugt gewesen. – "Da habe ich dich nur hopsgenommen", erklärte sie nun. "Natürlich gibt's den Weihnachtmann. Sonst würde doch kein Kind Gedichte aufsagen."
Das leuchtete mir unmittelbar ein. Fortan ließ ich mir täglich das Gedicht von einem Familienmitglied vorlesen und versuchte, es nachzustammeln, unterstützt vom lesekundigen Helfer.
"... schleppte und stolperte neben mir her ..."
" ... polterte neben mir her."
" ... denkt nicht, er wäre offen ..."
"Nein, nein, `denkt ihr, er wäre offen´, und du hast was ausgelassen."

Kein Zweifel, die Zukunft sah nachtschwarz aus. Mit Riesenschritten nahte der dritte Advent, sonst ein Grund zur Freude, brachte er doch das ersehnte Fest in recht greifbare Nähe. Nun hingegen mischte sich Furcht in die Verheißung, legte sich Unbehagen wie ein schwerer Schatten über Kerzenschein, Fensterschmuck, Adventsgebäck und zaubervolle Schneeflocken: Stolperte ich doch immer noch recht häufig beim Rezitieren des Gedichts, ganz abgesehen davon, dass ich mich davor fürchtete, es ganz allein vor allen aufzusagen. Auch Oma und Opa würden da sein.
Mit Entsetzen erkannte ich, dass es fortan jedes Jahr so ablaufen würde. Immer würde ich mich mit einem Gedicht zu quälen haben, sie würden länger und länger werden, und mit der unbeschwerten Weihnachtsfreude wäre es ein- für allemal vorbei. Dabei war Weihnachten doch die schönste Zeit im Jahr! Der beste Teil meines Lebens war eindeutig vorüber.
"Stell dich nicht so an", sagte Papa. "In deinem Alter habe ich schon viel längere Gedichte gelernt."
Er war ja auch mein Papa und konnte schon immer alles viel besser als ich. Ich war bloß Verena und die Kleinste. Außerdem war mir das Gedicht spinnefeind. Es piesackte mich mit Worten, die ich nicht kannte: Was war "Schelmenpack", und wer war eigentlich das Christkind? Ich kannte den Weihnachtsmann, den Nikolaus und den Krampus und war damit bisher bestens ausgekommen. Nun schleppte ein kleines, frierendes Kind seinen Sack, in dem anscheinend bloß Nüsse und Äpfel waren, durch mein Gedicht, und das in Sätzen, die sich bevorzugt in verschneiten Schluchten oder nebligen Tälern verborgen hielten, wenn ich versuchte, sie zu erhaschen.
"Hättest halt Knecht Ruprecht genommen", sagte Elisabeth. "Der ist besser."

Als sich der vierte Advent näherte, wurde die Sache langsam flüssiger, und ich schöpfte wieder Hoffnung. – "... kamausdemWaldedasMützchenvollSchnee mitrotgefrorenemNäschendiekleinenHändetatenihmwehdennestrugeinenSack derwargarschwer ..."
"Vielleicht", riet Hertha, "sagst du's ein bisschen langsamer auf."
Das riskierte ich nur ungern: Am Ende würden mir die Sätze entwischen, wenn ich ihnen nicht schnell genug nachjagte.
Um ganz sicherzugehen, dass es klappen würde, ließ ich mir jeden Abend vor dem Einschlafen das Gedicht von Elisabeth abhören. – "Na also", meinte sie drei Tage vor Weihnachten. "Du kannst es doch."

Dann war er da, der große Tag. Das Mittagessen ging vorüber, das Kaffetrinken ging vorüber, endlich, endlich wurde es dunkel und der Weihnachtsbaum angezündet, Symbol der Verheißung, Ort, an dem mein Schicksal vollstreckt würde. Wir Kinder hatten unsere Geschenke für die Großen noch in unseren Zimmern versteckt; für uns lagen aufgereiht vor dem Wohnzimmerschrank drei geheimnisvolle, mit Bettlaken verhüllte Haufen. Mir kam auf einmal der Gedanke, dass der Berg, der für mich bestimmt war, doch nicht auf einmal kleiner würde, wenn ich beim Rezitieren zu oft hängen bliebe. Wie verhielt sich das nun mit dem Weihnachtsmann ...? Aber ich war viel zu aufgeregt, um klar zu denken.
Als Jüngste kam ich zuletzt dran, das zog die Qual in die Länge. Im dämmrigen Zimmer leuchteten die bunten Kugeln am Weihnachtsbaum wie Sterne, und die Kerzenflammen schwankten leicht in der warmen Heizungsluft. Hertha sagte ihre vielen Strophen wie immer flüssig und fehlerfrei auf, Elisabeth schmetterte ihren Knecht Ruprecht der Zuhörerschaft entgegen, blieb zweimal hängen, fing sich aber sofort wieder und machte weiter. Wie schaffte sie das?
Dann trat ich mit zitternden Knien unter den Baum und starrte die vielen Zuhörer an: Oma, Opa, Mama, Papa, Hertha, Elisabeth. So viele Augenpaare, und alle sahen auf mich. Hinter mir knisterte leise eine Kerze.
"Denkt euch, ich habe das Christkind gesehen!" Meine Stimme bebte und zitterte mit den Flammen um die Wette. – "Es kam aus dem Walde, das Mützchen voll Schnee, mit rotgefrorenem ..."
Oh, weh! Mit einem Schlag waren all die so oft hergesagten Sätze wie in einem tiefen Spalt verschwunden. Mein Herz klopfte wild, ich fühlte meine Hände nass werden. Schnell, schnell, das nächste Wort; eines, das mich wieder auf das Gleis brachte, ein rettendes ... Da tauchte es aus dem Dunkel auf, bot sich an, weihnachtlich, oft rezitiert, und ich rief erleichtert aus:
"Sack!"
Es verging eine Schrecksekunde, in der mir Zweifel kamen, und dann fingen alle Großen kreischend an zu lachen. Verdutzt und ungläubig starrte ich sie an; Ärger hätte ich noch verstanden, aber Gelächter?
"Nehmt euch zusammen", murmelte Opa, wischte sich die Lachtränen aus dem Gesicht und winkte mir beruhigend zu: "Schon gut ... mach weiter, du sagst das schön."
Ich war verwirrt, aber meine Spannung hatte nachgelassen, der Faden ließ sich wieder aufnehmen.
"Ähm, ... die kleinen Hände taten ihm weh. Denn es trug einen Sack, der war gar schwer ..."
Mama kicherte schon wieder, und Papa stieß sie in die Seite.
Ich brachte mein Gedicht fehlerfrei zuende, fühlte mich aber nicht ausreichend gewürdigt und war etwas beleidigt, auch, wenn mich die Großen später immer wieder lobten.
Wir sangen Weihnachtslieder, mein Geschenkhügel schien nicht augenfällig geschrumpft zu sein, und der Rest des Abends verlief so zaubervoll wie die Heiligabende die Jahre zuvor.

Eines der Geschenke war für jede von uns Schwestern eine Blockflöte, die uns in der kommenden Zeit zu musikalischen Versuchen anregte. Hertha gelangte im Übrigen zu dem Schluss, sie sei zu alt für Gedichte.
So fand uns der nächste und viele folgende Weihnachtsabende einträchtig Lieder wie: “Ihr Kinderlein kommet“ und „Vom Himmel hoch, da komm ich her“ flötend, wobei ich nur ab und zu einen Ton beisteuerte. Dies war doch bedeutend angenehmer, als allein eine ganze Vorstellung zu geben. Von den Gedichten war ich erlöst, und wenn auch mein Glaube an den Weihnachtsmann bald argen Schaden nahm, so hatte er vielleicht doch damals die Hand im Spiel.

 

Erst mal hast du es gut geschafft, dass ich nicht eingeschlafen bin. Es ist gut, dass die Gehscichte nicht länger ist. Ich habe wirklich gelacht, an der gewissen Stelle. Die Geschichte hört sich an, als wäre sie selbst erlebt und das macht sie noch witziger und..ja..schöner. Hat mir gefallen.

Gruß

Fee

 

Hi pischa,

ein Stück aus dem Gruselkabinett jährlicher Weihnachtsfolter?
Die Ängste, die so "kleine" Aufgaben in Kindern auslösen, scheinen viele Erwachsene oft zu vergessen und so antwortet der Vater seiner fünfjährigen Tochter auch in völliger Verdrängung mit Stolz: er habe es ja schließlich auch geschafft. Fast erinnert mich das an so entsetzliche Sätze, wie "ich bin als Kind auch geschlagen worden und es hat mir nicht geschadet"
Mag sein, dass diese Lesart weit an deiner Intention vorbei geht, denn letztlich hast du den Vortrag des Gedichtes durch deine kleine Protagonistin ja zum Schluss in weihnachtliches Wohlgefallen aufgelöst.

Und als Mensch, der davon überzeugt ist, dass von Kinder gespiele Blockflöten die reinste Qual für die Gehörgänge sind, erleben die Eltern ja fortan jedes Jahr die gerechte Strafe. :)

Mir hat deine Geschichte gefallen.

Lieben Gruß, sim

 

Hallo Anna-Fee,

da bin ich aber froh, dass meine Geschichte dich nicht eingeschläfert hat und sie dir gefällt. Sie ist wirklich teilweise selber erlebt; ein Teil (der Lapsus mit dem rotgeforenem ...) wurde mir erzählt. Dies war mein erster Versuch, eine Familienanekdote zu einer Geschichte zu machen, darum freut's mich um so mehr, wenn es gefällt! :)

Hallo Sim,

schön, dass es auch dir gefallen hat!

Meine Geschichte sollte nicht die reine Folter schildern, sondern ist natürlich schon überzuckert, und im Grunde passiert ja auch nichts Schlimmes. Niemand wird geschimpft, wenn er hängenbleibt, und Weihnachten ist trotzdem ein zaubervolles Fest. Trotzdem sollte die Angst, die bei sowas entstehen kann (nicht muss; manche Kinder sagen mit Begeisterung ellenlange Gedichte auf), oder auch Sachen wie Eifersucht und Schadenfreude unter Geschwistern, unter der weihnachtlichen Zuckerschicht mitlaufen. Aus der Ferne sehen solche Erinnerungen immer witzig oder nostalgisch-anrührend aus, sind sie ja auch teilweise, aber während es passiert, wird es vom Kind sehr ernst empfunden. Beides soll in der Geschichte anklingen.
Insofern ist deine Interpretation nicht so daneben, wie du fürchtest.

Das Blockflötenspiel als Strafe - die Idee kam mir noch gar nicht, aber sie ist gut! :)

Viele Grüße
Pischa

 

Hallo pischa,
auch diese Geschichte hat mir sehr gefallen, einfach weil sie flüssig und interessant geschrieben ist und weil ich sie nachempfinden kann. Auch ich wurde von meiner allein erziehenden Mutter, einer als Putzfrau arbeitenden Kriegerwitwe, dazu gezwungen dem Weihnachtsmann lange und hin und wieder für mich unverständliche Gedichte vorzutragen. Ich konnte mich aber mehrmals aus der Affäre ziehen, da ich den Weihnachtsmann als Nachbarin erkannte, "Du bist Lotti Behnecke, ich kenn´Dich doch?"
Das Gelächter verhindert regelmäßig meinen Vortrag.
Ich finde von Dir nur 3 Geschichten, Du hast aber viel mehr geschrieben. Wie oder wo finde ich die?
Gruß aus der Kammer
Siggi

 

Hallo Boettger,

da bist du ja im hellen Frühjahr nochmal in die Weihnachtsecke geschlichen! :)

Dein Trick, ums Aufsagen rumzukommen, war ja nicht schlecht!
Leider gab's bei uns nie einen leibhaftigen "Weihnachtsmann."

Ich habe nur drei Geschichten hier eingestellt, denn ich habe noch nicht viele Kurzgeschichten geschrieben, mich eher an Romanen versucht. Einige entstehen gerade für Wettbewerbe und kommen erst hier rein, wenn sie abgelehnt werden (wie "Alfie"). Andere sind älter und gefallen mir nicht mehr so, und ich muss sie erstmal überarbeiten. Im nächsten Urlaub komme ich hoffentlich dazu.

Dir weiterhin viel Spaß beim Schreiben
wünscht
Pischa

 

Süss

Hallo Pischa!

Die Geschichte hätte ich vielleicht als zu lang empfunden, wenn da nicht diese tolle Pointe gewesen wäre. Ich habe schallend gelacht!

Gruss
tastifix :D

 

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