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Das Warum
Anja sitzt neben mir an der Bar.
Ich warte. Ich warte auf Jungs. Wenn einer vorbei geht, dann werde ich rappelig. Das mag ich. Meistens gehen sie nur vorbei und gucken schief. Bringe ich aber einen dazu, mich anzusprechen, falle ich schier in Ohnmacht. Es ist irgendwie enorm, wirklich toll. Anja hat mich schon oft gefragt, wieso ich so bin. Aber ich kann es nicht erklären. Will ich es erklären, versteife ich mich. Ich werde dann rot, stottere vor mich hin und verhasple mich nicht selten in wirren und peinlichen Aussagen.
Obacht, Jan kommt.
Wahrscheinlich muss er für kleine Jungs. Anja und ich, wir haben uns strategisch postiert. Zwei Türen gibt es hier: eine Glastür, die aus dem bunten Trubel der Bar hinaus in die düstere und einsame Nacht der Gassen führt, und eine zweite, eine Holztür, die ins Hinterhaus führt. Anja und ich, wir wachen vor der zweiten Tür. Hinten hinaus liegt das stille Örtchen. Vielleicht müsste ich darum eher sagen: Wir wegelagern vor dem Klo.
Jan, jetzt sieht er mich.
Ist er nicht süß! Ich gucke ihm geradewegs ins Gesicht, in seine zuckersüßen, haselnussbraunen Nutella-Augen. Als er mich anschaut, geschieht es. Unwillkürlich entziehe ich ihm meinen Blick, gucke ihn aber gleich wieder an, worauf ich noch hastiger meinen Blick nun nicht mehr abwende, sondern senke. Er hat alles gesehen. Aber ich erlebe etwas, das er nicht sehen kann. Es geschieht etwas, das ich nur schwer erklären kann.
Jan, er ist noch fern.
Er befindet sich am anderen Ende eines Tunnels. Mir ist, als hätten sich Zeit und Raum gedehnt. Es ist, als könnte ich klarer hören und sehen. Alle meine Sinne sind auf Jan gerichtet. Was jedoch zu seinen Seiten liegt, verringert sich zu allgemeinen Schemen. Sie bilden die Wand des Tunnels, in dem der Millimeter größer ist und die Sekunde länger.
In mir drinnen passiert noch etwas anderes. Ich spalte mich auf; falle entzwei. Es ist, als würde ich mir selber zuhören und zuschauen. Ich könnte nun, das weiss ich, urplötzlich handeln. Eigentlich ist es geradeso, dass ich in diesem Zustand nur so, nur unmittelbar handeln kann. Aber zwischen dem Wesen, das handelt, und dem Wesen, das erkennt, gibt es keinen Austausch oder, wie soll ich sagen, keine Verzahnung, keine Verbindung mehr.
Jan steht vor mir.
Die Beine übereinandergeschlagen verharre ich auf meinem Barhocker. Ich vermeine, bis in die Haarspitzen zu fühlen, wie mir heiß wird. Aber ich rühre mich nicht. Einzig das aufliegende Bein beginnt zu wippen. Plötzlich ist der Tunnel wieder weg. Wie peinlich: Ich starre, Jan starrt, Anja starrt, alle starren auf meinen Fuß, dessen Ausschlagen inneren Rappel der Stärke Zehn anzeigt, und dann muss ich lachen, eigentlich mehr glucksen, als lachen.
Jan schaut mich entgeistert an, wendet sich ab und geht vorbei. Ich gucke ihm nach.
«Ist er nicht süß», flüstere ich Anja zu.
«Was hast du wieder gemacht», tuschelt sie zurück. «Er wollte mit dir reden.»
«Wirklich, meinst du?»
«Klar doch, aber du hast ihn vertrieben. Du bist so irr.»
«Aber nein, Anja! Ich - es ist doch nur -»
Anja meint, dass ich spinne. Aber das stimmt nicht. Nein, das stimmt nun wirklich nicht! Die Sache ist indes die: Es ist dieser Bruchteil eines Augenblicks, der anmutet wie Ewigkeit, um den es geht. Es gibt keinen Begriff dafür. Darum sitze ich hier bangend und begierig, weil ich eben wissen will, was da geschieht. Darum muss ich gucken wieder und wieder, muss ich alles wiederholen, wiederholen und wiederholen, bis ich kapiere. Warum? – Eben darum und nicht, weil ich irr bin.