das warten und der sommer
Es war ein Septemberabend, kühl und herbstlich. Blätter stürzten in die Tiefe und ließen die Bäume nackt zurück, draußen Dunkelheit. Man hätte sich einbilden können sie zu hören, wäre man romantisch genug gewesen.
Sie aber saß in der Stille ihrer Wohnung an ihrem Computer und lauschte auf das Tick Tack Tack Tick Tick ihrer silbernen Armbanduhr mit dem schwarzen Ziffernblatt, ein Erbstück. Die Zeit hatte schon einige Schrammen hinterlassen. Sie starrte auf den blauen Bildschirm, während ein Tack Tick Tick das nächste jagte. Tick Tack Tick. Neben ihr lag das Handy, es schwieg und sie fror. Mag sein, dass es regnete.
Das Telefongespräch war erst eine Weile her, noch nicht lange. Sie hatte ihre Freundin angerufen, die in der Ferne lebte. Wobei Ferne relativ betrachtet zu werden verlangte. Wo war Hier. Hier oder Dort?
Die beiden Frauen liebten einander über alle Maßen und kannten doch jede Schranke.
Eingegrenzt, nicht ausgegrenzt, nein, und eingezäunt, stecken geblieben? liebten, hassten, litten sie und sie bedauerten. Bereuten nichts, vermissten.
Sehnsucht schien förmlich ihr Septemberherz mit riesigen weißen Nebelschwaden zu ersticken und ein Regentropfen rann ihre Wange hinunter, blieb eine Weile im Mundwinkel hängen, bebte, wurde bald von einem anderen fortgespült.
Wie es ihr gehe, fragte da jemand. Schwarze Schrift auf weißem Grund. Geht so, antwortete sie und ließ ihren Kopf zur Seite sinken, hob ihn ein wenig, hoffte vielleicht. Sie schrieb der Bekannten von ihrem Telefonat und fühlte sich hinterher ebenso matt wie vorher.
Tick und Tack.
Sie wartete ab und wünschte sie wusste selbst nicht was. Dann beschloss sie, nichts zu erwarten. Hm, tut mir Leid, du. Da kann ich dir leider auch nicht helfen, nicht mal trösten. Gar nichts tun, antwortete der Computer.
Und sie war doch enttäuscht und senkte den Blick und schloss darauf stumm das Chatfenster. Als sie ihren Blick von den schmalen Fingern löste, ließ sie ihn eine Zeit lang durch den Raum gleiten. Im Schreibtisch gab es eine Schublade mit Fotos, gefüllt bis zum Rand. Nur eins hing mit Stecknadeln befestigt an der Wand neben der Tür. Sie hatte es irgendwann dort hingehängt. Vorher hatte sie es sorgfältig ausgewählt.
Fröstelnd zog sie ihre Beine dichter an ihren Körper heran. Sie fühlte den steifen Jeansstoff der viel zu großen Hose und sein Geruch wirbelte Bilder in ihrem Kopf auf. Er ließ es wieder Sommer sein und er malte in prächtigen Farben Paul vor ihren Augen, der jetzt jemanden gefunden habe, wie eine andere Freundin nebenbei erwähnte, um plötzlich zu verstummen.
Paul war größer als sie und hatte gebräunte Haut, sie war sich sicher, sich zu erinnern, dass er nach Sonne roch, wie auch immer Sonne riechen mochte. Ihm passte die Hose. Wenn er trauerte oder sich sorgte, war er sogar noch schöner. Seine Augen wurden dann größer und seine Wangenknochen zeichneten sich deutlicher ab, sein Mund wurde schmal. Sie wagte es dann nicht, ihn zu berühren aber noch weniger wagte sie, ihre Augen von ihm zu wenden. Sie staunte jedes Mal über das Ausmaß der Einzigartigkeit dieses Menschen. Einmal hatte er geschrieben. In Druckbuchstaben. Und es sei ein zweiter Brief auf dem Weg, erfuhr sie.
Er vermisse sie sehr, fügte die Freundin dann hinzu.
Der Geruch brachte den Geschmack süßer Pflaumen und Pauls Küsse, seine Augen, die auf ihrem sanften Lächeln ruhten, er brachte Wein und Vodka und viele Worte, dazu Himbeersaft und dann brachte er den Herbst.
Ich schreibe dir, hatte die Freundin in der Ferne gesagt. Ich rufe dich an, hatte Paul gesagt. Sie hatte geschwiegen und die beiden sowohl als auch den Rest umarmt. Lange, eine Ewigkeit schien es, hatte sie sich nicht lösen können. Beinahe hätte sie die Zeit am Ärmel fassen und fest, ganz fest halten können. Doch dann war der Bus gekommen und die Tür hatte sich geöffnet und sie hatte sich dabei ertappt wie sie ihre Koffer hineintrug. Denn was können schon Gefühle ausrichten, wenn die Vernunft Gesetze diktiert?
Sie fühlte, wie ihre Wangen warm wurden, ihre Lippen kalt und sie selbst sehr weit weg blieb.