Das Warnschild des Glücks
Der federleichte Wind heißt einen neuen Tag willkommen. In sanften Wogen schubst er eine leere Bäckertüte über den Bürgersteig. Das kratzende Geräusch des tanzenden Unrats weckt mich und ich öffne die Augen. Der graue Himmel reflektiert die Tristesse der vor mir ausgebreiteten Einkaufsstraße. Es ist ein Morgen, wie so viele vor ihm. Ich habe längst aufgehört, sie zu zählen, hier in meiner kleinen Nische neben dem Schreibwarengeschäft Rösler.
Nur wenige Menschen sind bereits unterwegs. Keiner trägt ein Lächeln im Gesicht. Sie schließen die Geschäfte auf, umklammern ihre Kaffeebecher aus Pappe und schnippen Zigarettenstummel in den Rinnstein. Nur langsam kehrt das Leben ein. Lichter werden angeknipst, bunte Reklametafeln nach Draußen geschleppt, Krawattenknoten festgezogen und die Schuhe auf ihre Reinheit geprüft. Man schmückt sich für die Welle an Passanten, die alsbald diese Straße fluten wird.
Tröpfchenweise trudeln die ersten ein. Mit gebeugtem Rücken und langsamen Schritten schlendern sie an den Schaufenstern vorbei, schauen lange und kaufen wenig. Häufig sind es die Alten im Dauerfeierabend, die den Arbeitstag der Jungen einläuten. Eilig stelle ich mein braunes Pappschild und den eckigen Plastikbehälter auf, der mir als Almosenteller dient. Eine zierliche Frau mit kurzen, grauen Haaren wirft fünfzig Cent hinein. Ich lächele sie mit meinen gelben Zähnen an und bedanke mich freundlich. Ein älterer Herr mit Glatze ermahnt mich, mir Arbeit zu suchen. Ich danke ihm für den gutgemeinten Rat. Barmherzigkeit und Verachtung, das ist der gesellschaftliche Raum, in dem ich mich bewege.
Am Vormittag mischen sich immer mehr Frauen mittleren Alters in mein Blickfeld. Auf flinken Beinen sausen sie umher, die Gesichter gehetzt, die Taschen beladen. Die Hausfrauen lassen sich nur selten von der grellen Dekoration ablenken, folgen einem logischen Plan und haken mental Erledigung über Erledigung ab. Leider haben nur wenige von ihnen Kinder im Schlepptau. Kinder sorgen dafür, dass ich nicht verhungere. Ihre naive Neugier über diese komische Welt ist mein größtes Kapital. Oft zeigen sie mit ihren zierlichen Fingern auf mich und Mutti wirft mir beschämt ein paar Groschen in die Dose. „Mama, warum sitzt der Mann auf der Straße?“ Ich würde gerne all ihre Fragen beantworten, aber sie werden schnellstmöglich von mir weg gezerrt.
Von weitem erkenne ich Beate, eine stämmige Hausfrau, die mir immer, wenn sie in der Innenstadt unterwegs ist, ein belegtes Brötchen vorbeibringt. Gierig nehme ich es entgegen und beiße beherzt hinein.
„Sie haben ein Herz aus Gold, liebe Beate“, sage ich mit vollem Mund.
„Jaja, ein Mensch muss nun mal essen. Ich würde dir ja auch etwas Geld geben, wenn du es nicht gleich versaufen würdest“, antwortet sie mir in gewohnt rauem Ton und zeigt auf die Reihe der Weinflaschen hinter meinem kleinen Schlaflager.
„Das ist gegen die Einsamkeit der Nacht“, versuche ich sie zu beschwichtigen, aber sie schüttelt nur mit dem Kopf.
„Pass auf dich auf, Alfred“, verabschiedet sie sich. Ihre füllige Gestalt mischt sich unter die restlichen Fußgänger.
Zur Mittagszeit füllt sich die Luft mit Fett und Gewürzen aus allen Herrenländern. In braunen Tüten und weißen Behältern wird der ungesunde Fraß hektisch durch die Straße getragen. Manch gefüllter Magen bekommt bei meinem Anblick Mitleid und sein Besitzer spendiert mir ein paar Cents. Geschäftsleute mit dunklen Anzügen und gemusterten Krawatten nutzen ihre Mittagspause, um sich über die neusten Handyverträge zu informieren. Ich besitze kein Handy. Wozu auch? Wer soll mich schon anrufen?
Am Nachmittag bevölkern die Schüler die Straße. In grellen Klamotten und bunten Schuhen streifen sie in Gruppen umher, verprassen lautstark ihre reichliche Zeit und spucken auf den Bürgersteig. Außer blöden Sprüche habe ich nichts von ihnen zu erwarten. Sie sind zu jung, zu behütet, zu unsterblich und unverwundbar um die Zerbrechlichkeit ihrer Welt zu verstehen. Seit Kindestagen wird ihnen eingebläut, dass sie enden werden wie ich, sollten sie nicht gewissenhaft in der Schule aufpassen. Obwohl ich gegen die Rolle des Antihelden nichts einzuwenden habe, so übersehen sie doch ein wesentliches Detail: Ich bin keineswegs unglücklich. Zumindest nicht mehr oder weniger, als sie es in meinem Alter vermutlich sein werden. Der Unterschied ist nur, sie wissen es noch nicht. Baden sich stattdessen in schwereloser Überheblichkeit. Es sei ihnen gegönnt. Die Ketten des Erwachsenwerdens fesseln sie noch früh genug.
Ich verlasse vorübergehend mein Quartier, schlendere in den Supermarkt um die Ecke und kaufe mit den heutigen Einnahmen eine Flasche billigen Schnaps. Die Verkäuferin würdigt mich keines Blickes. Ein Klischee ist nie grundlos ein Klischee. Mit der glasklaren Flüssigkeit bewaffnet, spaziere ich die wenigen hundert Meter zum Bahnhofsplatz. Hier treffen wir uns, die Menschen, die niemand haben wollte. Manfred winkt bereits von weitem. Ob mir oder der Flasche in meiner Hand sei dahingestellt. Jeder nach seinen Bedürfnissen. Schwarz und weiß ergeben nie ein lebendiges Bild. Es sind die Grautöne, die ein Leben zeichnen.
„Wir sind die Könige der Nutzlosen, Alfred“, lallt er mir nach dem ersten Schluck aus der Flasche entgegen, „aber wir sind nun mal da, oder nicht?“
Niemand kann Manfred vorwerfen, er würde versuchen, seine Lebenszeit unnötig zu verlängern. Er säuft für zehn Normalbürger, doch so ein straßenerprobter Körper ist zäh. Er erzählt von seinen täglichen Telefonaten mit Chruschtschow, sinniert über Gehirnwäsche durch Fernsehwerbung und eine Massenvernichtungswaffe namens Geld. Ich höre ihm zu, weil es sonst niemand mehr tut und trinke bis ich diese verführerische Wärme im Magen spüre. Dann verabschiede ich mich und flaniere leichten Schrittes zurück zu meinem Lager. Die Flasche lasse ich unbekümmert zurück.
Das Tageslicht weicht bedächtig künstlichem Licht. Menschen, kurz nach Feierabend treffen auf Menschen kurz vor Feierabend. Alle scheinen sie versammelt. Ein lautes Orchester an Schuhen jeglicher Bauart spielt vor meinen Augen. Jedes dumpfe Klingeln in meiner Dose ein kleines Konzert aus Mitleid und Schuldgefühl. Ein buntes Ballett aus Einkaufstüten tanzt an mir vorbei. In die meisten Tüten passt alles, was ich besitze und dennoch beneide ich die Menschen nicht. Nur wer nichts besitzt, ist wahrhaft frei. Doch Freiheit hat einen anderen Preis. Freiheit ist hart, dreckig, hungrig und einsam.
Irgendwann ist Feierabend. Krawattenknoten werden gelockert, bunte Reklametafeln nach Drinnen geschleppt, Lichter ausgeknipst und Geschäfte abgeschlossen.
Mein leerer Magen knurrt mich in Richtung von Udos Imbissbude ein paar Straßen weiter. Ich esse eine Bratwurst, die Udo morgen sonst wegwerfen müsste. Er gibt mir ein Bier dazu und sagt: „Ach, gib mir einen Euro.“ Dann macht er auch Feierabend und ich trotte zu meinem Schlafplatz zurück, drehe den Deckel einer halbvollen Weinflasche ab und blicke auf die nackte Straße. Jetzt bin ich allein. Über allen Dächern herrscht Ruhe. Bis morgen Früh, wenn das Hamsterrad in die nächste Runde geht.
Ich bin nicht stolz auf das, was ich geworden bin, aber ich schäme mich auch nicht dafür. In gewisser Weise ermahne ich die Menschen zur Menschlichkeit, erinnere sie stetig an die Tiefe ihrer Existenz und an die Flüchtigkeit des Glücks im Leben. Was mehr kann man von einem Menschen verlangen? Ich sehe mich keineswegs als Gefallenen, nein, ich verleihe Flügel. Flügel für jeden der mich erblickt und fühlbar vor Augen geführt bekommt, wie klein seine aufgeblasenen Probleme sind, wie wankelmütig ein Schicksal schaukeln kann, wie man nie enden möchte. In einem Schwarzweißfilm, bin ich die Schattierung, die das Licht hervorhebt. Ich kann nie aus meiner Rolle ausbrechen, bin was ich bin, unentwegt, egal wann oder wo. Ein flüchtiger Blick genügt bereits um mich zu erkennen. Ich bin das lebendige Warnschild des Glücks. Auf meinem Pappschild steht geschrieben: Ich bin ein Bettler – ich habe niemals Feierabend.