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Das Walfischhaus
Sie will mich einfach nicht erhören. Mir tun die Knie weh, ich erhebe mich.
In drei Sekunden muss ich das Bittstellergesicht gegen ein triumphierendes tauschen, dann schreie ich mit durchgedrücktem Rücken: „Ehe hat auch eine materielle Seite!“ und knalle ihr Fotos wie Skatkarten auf den Tisch. Sie zuckt zusammen, hat diesen emotionalen Ausbruch nicht erwartet. Etwas Bowle schwappt über, der Strohhalm tänzelt. Nächstes Foto: „Mein Haus!“ Und bevor sie Terrasse und Pool genauer betrachten kann, schon das nächste – peng! „Mein Auto!“ Ja, diese Marke kennt sie, doch ich bombardiere weiter: „Meine Jacht!“ Der Sonnenuntergang ist zufällig. Sie schaut mich interessiert an, und jetzt ziehe ich statt eines Fotos einen Vertrag der Horizont-Invest und halte ihn in die Kamera. Cut.
Mit dem so verdienten Geld und einigen Ersparnissen landen wir endlich im Land unserer Sehnsucht – im Bordelais. Wir machen ein Table d’hôte auf, ein gastliches Haus mit kleiner Küche, und acht oder zehn Betten dazu. Bestimmen, was läuft – besonders das Tempo. Keine Hast, niemand über uns.
In einem Gutshof, der nur aus Efeu zu bestehen scheint, bringen wir die Koffer aufs Zimmer. Die Tür zur Veranda steht offen. Sanfte Hügel, Weinberge säumen den Fluss; in der letzten Abendsonne flirrt die Luft kupfern und golden. „Friede über dem Lande“, sagt Mina, ich geniere mich zu fragen, von wem das sei. Entrückt meinen wir die Weltuhr zu hören, wie das Pendel Tick macht und Tack, in großen Abständen, es kommt nicht so genau darauf an, und jedes Mal sackt der Glutballon eine Winzigkeit tiefer ins Wasser der Gironde. Das müsste aufblubbern wie Teewasser im Samowar, doch alles bleibt reglos; gebannt schauen wir zu.
Ich stehe hinter Mina, umschlinge sie und forme mit Zungenspitze und Lippen eine Raupe, die ihr immerfort den Hals hoch- und runterkriecht. Sie räkelt sich, drückt ihren Hintern gegen mich. Abrupt beenden wir unseren Zank darüber, ob die bronzenen Türme und Riesenzedern gegenüber zu Château Bourbonneau oder Le Coindrieux gehören.
Unnötig hart trete ich aufs Bremspedal. Vor uns nichts, hinter uns nichts – dennoch stehen wir in einer selbstverschuldeten Staubwolke, Mina findet meine Fahrweise ‚nicht nachvollziehbar’. Doch ich kann mich erklären: „Hören Sie, meine Liebe“, sage ich charmant, „ich habe eine Überraschung.“
„Bitte, Monsieur Udo – überraschen Sie mich!“, erwidert sie unbeeindruckt. „Was ist es dieses Mal?“
„Etwas ganz Wunderbares.“ Das sage ich oft, wenn ich nichts Genaues weiß. Ich setze etwas zurück und biege dann ab. Bin mir nicht sicher, was ich da gesehen habe, schlimmstenfalls waren es die Laubmassen der Platanen. Wir passieren zwei stattliche Pfeiler aus Sandstein, eine geschmiedete Torhälfte hängt in Brombeersträuchern.
Die Zufahrt säumen silberne Stämme wie ein Bataillon, über die Jahrzehnte von Sanddorn und Hagebutten entwaffnet. Die Baumkronen ineinander gewachsen wie ein Baldachin.
Kolossal, beherrschend mit vier Etagen und einem wuchtigen, geschwungenen Dach steht das Haus auf einer verwilderten Grünfläche. Uralte Bäume zu beiden Seiten. Alles echt, nicht etwa eine vergessene Filmkulisse – sonst gäbe es vor der Tür nicht die überwucherten Sand- und Kieshaufen.
Jäh rauscht es mir in den Ohren, das muss der Blutdruck sein. Mina ist weniger euphorisch – also reiße ich mich zusammen und mime Mister Cool. Sagt ja auch keiner, das habe nur auf uns gewartet. Dennoch: Das steht hier einfach so?
In mir baggert ein Paternoster Glücksgefühl, Schiss vor der eigenen Courage und Minas Meinung auf und ab.
Sie schaut skeptisch, wie auf ein gefaktes Foto, das als Beweismittel herhalten soll.
„Viel zu groß“, sagt sie dann. Das verstärkt meinen inneren Aufruhr, mich schmerzt, dass sie so unromantisch ist.
In den folgenden Tagen führt sie tausend Argumente an, weshalb das für uns das falsche Objekt ist, ich kontere mit tausendundeinem. Warum nicht ein richtig großes Haus mit allen Möglichkeiten für später, warum nicht klotzen statt kleckern? Muss ja nicht alles auf einmal passieren.
Schließlich gibt sie nach endlosen Debatten ihr Einverständnis – klipp und klar, jede Silbe einzeln betont: Aus - Lie - be, nicht - aus - Ver - stand. Und ich muss versprechen, die oberen zwei Etagen in ihrem Zustand zu belassen.
Den Besitzer ausfindig zu machen, ist einfach, weil das Haus Gemeindeeigentum ist.
So bleibt uns das befürchtete Feilschen erspart, und das fänden wir bei diesem Preis sogar unnötig.
„So viel Haus und Grund für dieses Geld!“, juble ich; Mina meint, der Betrag sei vermutlich nach jedem abgesprungenen Interessenten reduziert worden – und fixiert mich: „Und jetzt rate mal, warum die abgesprungen sind!“
Wir gehen zum Bauamt, zum Notar. Auch zu den Handwerkern, blitzen aber ab – keine freien Termine, keine Leute, sie würden eh nur für den Staat arbeiten. Die armen Franzosen.
Doch wir finden schnell heraus, wo sie zu Mittag essen. Wachstuch auf den Tischen, herrliche Hausmannskost. Wir bekommen langsam einen Draht zu ihnen.
Das Haus ist jetzt eingerüstet, und es ist skalpiert – nur noch ein paar Sparren ragen in den Regenhimmel.
Es gibt viel zu flicken, momentan sieht alles furchtbar aus.
Drinnen ist es ausgehöhlt. Die Räume wirken noch größer, jeder Schritt knallt wie ein Schuss.
Ich arbeite wie ein Verrückter, leider linkshändig, unbegabt, gerade gut für Hilfsarbeiten.
Meine Pluspunkte sind: Ich bin tatsächlich verrückt, verbissen und hoffe, mein Eifer zeigt den anderen, dass es hier einer ernst meint. Und es ist Therapie. Ich hinterfrage nicht mehr, ich tu’s einfach.
Draußen bildet sich eine Seenplatte zwischen Bergen von Schutt. Um überhaupt einen Fortgang zu erreichen, brauchen wir mehr Leute.
Jede Stunde verschlingt ein Heidengeld. Der Heimatverein bekundet Wohlwollen, als er von unseren Plänen erfährt, bleibt aber untätig. Nun ja, wir sind keine Franzosen.
Es regnet viel, alles ein Matsch. Der saugt einem bei jedem Schritt die Schuhe von den Füßen.
Bin voller Zweifel, ob wir finanziell durchhalten. Mein bester Freund Bernhard bewahrt seine Begeisterung für unser Vorhaben und bietet Unterstützung an, die wir gerne annehmen. Die Bank knausert.
Kaum ist das Dach repariert, gibt es eine Sturzflut. Wir wohnen in einem Wasserschloss, auch die Stimmung ist unter Wasser. Mina wird einsilbig.
Jenseits der Seenplatte winkt der Briefträger, ich stakse ihm in Gummistiefeln entgegen.
Er gibt mir ein dickes Kuvert und ich lese: Der Brandschutz verlangt eine Sprinkleranlage auf allen Etagen. Vielleicht sollten wir das Dach wieder entfernen?
Mina trinkt mehr Wein als früher. Ich will mit ihr darüber reden, als es klopft. Der Malermeister.
Sie haben in der Halle Gipsplatten entfernt, es seien Fresken zum Vorschein gekommen. Ich schieße in die Höhe, bin hellwach.
Telefonate, Formulare, Anträge, Fotos, eine Konferenz, Besucher aus Bordeaux mit Lupen, in weißen Kitteln mit Universitäts-Logo, auch Fotografen, die Presse.
Man wird mit uns in Kontakt bleiben.
Warten mit, warten ohne Hoffnung – mit Wein, mit mehr Wein, mit Streit, zuletzt mit viel Streit. Mina verlässt mich. Ich schlage mit dem Kopf gegen die Wand.
Meine wunderbare Frau. Hab ich dem Haus mehr Aufmerksamkeit geschenkt als ihr?
Ich grüble, ob ich dieses Haus wirklich brauche. Um aus dem Mittelmaß auszubrechen, wegen des großen Auftritts? Aber ich tu’s doch, um ihr zu imponieren, um sie zu behalten.
Ihr Weggang halbiert mich – mir fehlt eine Hand, der Kopf ist zur Hälfte blockiert, und mein Selbstvertrauen ist völlig dahin. Ich zerpflücke das grüne Kissen, ihre Katze hat es schon schlimm zugerichtet. Mir ist schwindlig: Mina, die Verräterin, Udo, der Idiot, die Schätze des Bordelais als Köder und Falle, Handwerker als Halsabschneider, vorschriftengesteuerte Amtsschimmel. Und viel Regen als unkooperative Geste von oben. Eine Verschwörung großen Stils.
Das Wasser versickert, die Halden werden abgetragen. Bernhard leiht mir noch etwas, das letzte Mal – für die nächsten Wochen. Dann bin ich nicht nur pleite, sondern auch hoch verschuldet. Da fängt das Leben erst richtig an.
Ein Brief vom Denkmalsamt. Ich setze mich.
Spule Jahrzehnte zurück, in die Zeit der Prüfungsangst, der totalen Unsicherheit. Erlebe noch einmal das Gefühl völligen Ausgeliefertseins, wie fremde Macht mein Leben bestimmt.
Ich spüre das Herz hoch im Hals; sehe Mina vor mir, zoome sie ran beim Öffnen des Kuverts, mit geschlossenen Augen. Hätte gern einen Schutzheiligen, eine magische Formel, um Dinge zu beeinflussen, falte das Papier auseinander und zähle bis drei – dann reiße ich die Augen auf und erfasse die fettgedruckte Summe.
Ihre Nummer ist mir in Fleisch und Blut übergegangen, sie ist auch gleich dran. „Hey“, sage ich. Sie zögert. „Mina“, winsle ich, „sag doch was. Bitte.“
Sie sagt noch nichts.
„Nun sei doch nicht so. Ich weiß, ich hab schlechte Karten, aber wir können doch nicht ...“
„Doch“, sagt sie.
„Mina, hör’ doch erst mal, was ...“
„Udo, ich hab länger ausgehalten, als gut war. Außer diesem verdammten Haus hattest du nichts mehr im Kopf. Und Familie schon gar nicht.“
„Aber ich hätte doch ...“ Ich höre, wie sie auflegt.
Ich schicke ihr eine Kopie.
Abends ruft sie an. Tja, sie habe den Bescheid gelesen, herzlichen Glückwunsch.
„Und?“
„Ehm, weiß nicht. Ist viel Geld.“
Und jetzt? Ich halte die Luft an. Knickt sie ein?
Nein. Dieses Haus sei ein Gefängnis, ob ich das denn nicht sähe? Wenn sie dort einzieht, käme sie nimmer mehr heraus. Daran würde auch unsere Liebe nichts ändern. Ihre Freiheit würde sie verlieren, jede ihrer Entscheidungen müsse das Haus berücksichtigen, doch sie will sich von ihm nicht zum Sklaven machen lassen.
Wozu so ein Riesending?
Ich werde ganz klein, doch sie sprudelt weiter: Dieses Haus sei ein Ungeheuer. Wenn sie durch die Säle gehe, fühle sie sich wie in einem Walfischbauch. Sie würde ersticken, verrecken. Ausgesaugt würde sie und verdaut, und das sei ihr letztes Wort.
Die Altertumsforscher bekommen Verstärkung, weil mein Haus – ja, ich sage jetzt bewusst ‚mein Haus’ – nach kürzlich ausgewerteten Urkunden ein ehemaliger Bischofssitz war. Auch der Papst sei hier gewesen. Das könnte weitere Zuschüsse bedeuten.
Ich gratuliere Mina zum Geburtstag, sie ist jetzt in London. Nach meinen guten Wünschen will ich noch die ‚Happy Birthday’-Melodie anstimmen, da bricht mir die Stimme. Ohne sie ist alles nix.
* * *
Als ich über einem Rezept für Gänseleberpastete und den technischen Daten eines größeren Vacuumierers brüte, macht es ‚Bling’ und mir fällt auf, dass Sonntag ist, ich nicht unter einer blütenüberwucherten Pergola sitze, die Beine hochgelegt und kühlen Clairet trinkend den Tag verstreichen lasse, sondern dabei bin, den Fortbestand meines Hauses zu sichern. Mina soll sehen, dass ich nicht nur flockige Sprüche kann. Sie ist sowieso immer dabei – ganz gleich, was ich tue, ich weiß, sie schaut zu.
Jeanette springt mir auf den Schoß. Die ist mittlerweile sechzehn, verliert viel Haar. Schleicht sich immer wieder in die Feinkostherstellung. Entenrillette mit Armagnac, Pistazien und Katzenhaar – mein Alptraum.
Ein neuer Tag. Klingeltöne, Rufe, Lieferanten. Jean-Pierre, meine rechte Hand, bringt die neuen Etiketten, Gläser, Verschlüsse. Ich entscheide schnell, wir müssen zur Verkostung der neuen Produkte.
Bin wie im Rausch, hab noch nie so intensiv gelebt.
Abends, wenn nur noch im Versand gearbeitet wird, gerate ich oft ins Grübeln. Glaube beinahe an die Vorsehung. Das Haus musste so groß sein, damit ich auf Touren komme; Mina musste gehen, damit ich nicht ihr die Schuld für meine Versäumnisse in die Schuhe schieben kann.
Ich weiß nicht, warum sie mir nach so vielen Jahren eine Karte von Trinidad schickt, Gemeinheit schließe ich jedoch aus.
Vielleicht kommt sie auf der Rückreise vorbei. Ich werde meinen Arm um sie legen, wie früher, und ihr alles zeigen.
Gerade ist der Pool fertig geworden, mit Jacuzzi und einem dicken Wal aus Granit. Der bläst eine stramme Fontäne in die Luft. Den weißen Fleck auf seinem Kopf wische ich weg, der
ist von einer Amsel. Es hupt. Und noch mal. Ich finde das blöd, hier muss man nicht hupen.
Vorm Haus steht ein Taxi, eine bunte, korpulente Frau steht neben der Fahrertür und jedes Mal, wenn sie Kopf und Strohhut ins Wageninnere steckt, hupt es. Ah so! Sie ist die Verrückte, nicht der Fahrer. Aber vor meinem Haus? Extrovertierte Kundschaft vielleicht, hoffentlich hab ich die Nerven dazu.
Ich spüre, wie mich dieses Verhalten aggressiv macht, will trotzdem höflich sein. Diese Frau in Karnevalsfarben nimmt mich plötzlich wahr, reißt die Arme auseinander und walzt mir entgegen.
Schreit meinen Namen ein ums andere Mal und will mich an sich reißen. Wie ein Torero weiche ich aus, muss sie jedoch vor dem Sturz bewahren – das Gesetz der Trägheit oder der Fülle ...
Sie strauchelt, kommt mit meiner Hilfe wieder auf die Beine. Sie ringt nach Luft und sagt dreisprachig, ich solle das Taxi bezahlen.
„Oh, mein Liebling, mein Genius!“ Sie nimmt die Sonnenbrille ab. „Das sieht ja alles wunderschön aus hier. Ich dachte, ich bereite dir mal eine Überraschung. Freust dich doch, oder?“
„Jetzt komm erst mal ins Haus und setz dich.“ Ich bezahle den Fahrer.
„Begrüßungskuss ist nicht“, sagt sie, „aber vielleicht ist die Liebe etwas abgekühlt. Oder bist du verheiratet?“ Sie sieht schlimm aus.
Das scheint auch sie zu spüren, blickt in den blinden Spiegel neben dem Kamin und sagt: „Wo geht’s zum Bad?“
„Zweite rechts“, sage ich.
Sie schaut nochmals durch die Tür: „Gibt’s denn was zu trinken bei Dir?“
„Nur wenn du Jeanette mitnimmst.“
„Wie - mitnimmst?“