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Das vorschnelle Lachen Achills
Das vorschnelle Lachen Achills
Uhrzeit: GMT + ./. ??
Ort: Sternhaufen M13 im Bild des Herkules
In derselben Minute, in der auf dem T22Lj* entfernten Planeten Erde ein Indianerjunge in Downtown Chicago einen als Polizeispitzel enttarnten Buchhalter der lokalen Mafia erschießt, zwanzig Kilometer westlich von Amalfi ein Lancia und ein Abarth nach einem frontalen Zusammenstoß von der Strada Statale 163 ins Meer stürzen, vor der Südküste Australiens ein Profisurfer in einer Monsterwelle versinkt und ein betrunkener russischer General auf den roten Atomknopf drückt, rasen zwei Fahrzeuge in der Spiralgalaxie M13 mit Lichtgeschwindigkeit aufeinander zu. Vielleicht einen Tick schneller oder einen Deut langsamer; so exakt kann das mit unseren irdischen Apparaten nicht gemessen werden. Aufgrund der hohen Geschwindigkeit ist es für das träge menschliche Auge nahezu ein Ding der Unmöglichkeit, Konturen oder gar scharfe Umrisse zu erkennen. Mit etwas Fantasie ähneln die beiden stromlinienförmigen Objekte dem Raumschiff vom Typ USS Enterprise/ NCC-1701-F aus der Star Trek-Episode 8. Der Einfachheit und Unterscheidbarkeit halber wollen wir sie im folgenden deshalb als NCC1 und NCC2 bezeichnen.
Sie sind vor Tausendmilliarden mal Einhundertmillionen Stunden von den zwei am weitesten voneinander entfernt liegenden Polen des Universums aufgebrochen. Allerdings zu einem Zeitpunkt als der Umfang des Alls – verglichen mit dem aktuellen Zustand – nur fünfundneunzig Hundertstel betrug, da es sich seitdem um fünf Prozentpunkte ausgedehnt hat.
An Bord von NCC1 halten sich rund achthundert Passagiere auf. In der Mehrzahl Achaier, die sich auf den Rückweg von der Küste des Hellespont in ihr griechisches Mutterland gemacht haben. Unter ihnen auch Achill, der beinahe unverwundbare Sohn des Peleus. In NCC2 beklagen derweil die Trojaner die Zerstörung ihrer Stadt, die nach zehnjähriger Belagerung aufgrund einer schändlichen List des durchtriebenen Odysseus von den Mykenern eingenommen wurde. Die Leichname von König Priamos und seines ältesten Sohns Hector ruhen aufgebahrt in der Kühlkammer des Schiffs. Paris, Helena, Kassandra, Aeneas und Andromache halten schweigend die Totenwache.
Zu diesem Zeitpunkt nähern sich die Raumfahrzeuge in ständig kleiner werdenden Schritten einander an. Lichtjahre verringern sich zu benachbarten Sonnensystemen, zerschmelzen zu Millionen Meilen, werden erneut in hunderttausend Kilometer kondensiert, um schließlich nur noch wenige Yards zu betragen. Die Überwindung der letzten Zentimeter, die NCC1 und 2 kurz vor ihrer Begegnung voneinander trennen, dehnt sich zu einer gefühlten Ewigkeit. Es ist, als ob Zeit und Raum in ihrem Lauf innehalten, geradezu gefrieren.
Sobald Paris gewahr wird, dass sich Achill, der grausamste und gottloseste aller Myrmidonen, nur noch den Steinwurf eines Riesen von ihm entfernt befindet, packt ihn unbändiger Zorn auf den Schinder seines Bruders Hector Er greift zu seinem schweren Hethiterbogen, legt einen in das Gift der Sandotter eingetauchten Pfeil auf die Sehne, spannt den Strang mit aller Kraft und lässt das schlanke Geschoss auf das in dieser Sekunde parallel liegende Schiff hinübersurren.
Als Achill den schwächlichen Jüngling erblickt, bricht er in schallendes Gelächter aus. So laut, dass selbst die zum Nachtmahl versammelten Götter verwundert von ihren Tellern aufsehen und sich beim auftragenden Hephaistos danach erkundigen, ob er den Anlass für die archaische Heiterkeit kennen würde. Achill entledigt sich derweil seines Harnischs, entblößt die Brust und trommelt mit den Fäusten auf seinen nackten Oberkörper, so als ob er den Königssohn und damit das gepeinigte Troja ein weiteres Mal verhöhnen will.
Der Pfeil, obwohl druckvoll und zielgenau geschossen, schwirrt am reglos verharrenden Achill vorbei und schlägt auf der Rückseite der Kommandobrücke in die Aluminiumverkleidung des Bordcomputers ein. »Und wieder hast du nicht getroffen, du ehrloser Frauenräuber«, schreit er zu Paris hinüber. »Du und dein Bruder Hector seid keine richtigen Krieger, sondern Memmen.« Verächtlich lächelnd wendet er sich ab und sucht Menelaos, um mit ihm den weiteren Verlauf der Reise zu besprechen. In diesem Moment bemerkt er Briseis, die neben ihm auf dem Boden kniet und hinter ihrem Rücken ein Messer versteckt hält. Mit irre flackernden Augen stößt sie ihm den Dolch in die ungeschützte Ferse hinein. »Warum tust du das? Ich habe dich geliebt«, gelingt es ihm noch, mit brechendem Atem zu flüstern, bevor die Nereide Thetis ihm eine Silbermünze unter die Zunge legt, damit er Charon, den Fährmann bezahlen kann. »Weil du meine Heimatstadt verwüstet und den Gott Apollon verspottet hast. Wann immer ich mit dir das Lager teilte und Wollust heuchelte, habe ich einzig voller Ungeduld auf diesen Augenblick der Rache gewartet.« Paris bekam von alledem, was sich an Bord von NCC1 zutrug, gar nichts mehr mit, da sich sein Schiff mittlerweile schon wieder zehn Lichtminuten vom Unglücksort entfernt hatte.
Die Frage, die sich nun zwangsläufig ergibt, ist die, ob ein Punkt, den die Zeit auf ihrer Bahn durchmisst, zu einer offenen oder geschlossenen Reihenfolge hinzugerechnet werden muss. Stellt die Zehntelsekunde, in der das Geschoss zischend die Luft durchschneidet und man nicht mit Gewissheit voraussagen kann, ob die vergiftete Pfeilspitze die Brust des Achill durchbohren oder verfehlen wird, eine freie Variable des Zufalls dar, oder ist sie vorherbestimmt? Denn wenn sie einer unendlichen Serie angehört, dann ist die logische Konsequenz, dass die Zeit an einer bestimmten Stelle kehrtmachen und zurücklaufen, dass also die Kette der Minuten sich abermals einwickeln wird, bis sie wieder zum Ursprung gelangt, um sich dort erneut zu entrollen. In anderen Worten: Wenn die Zeit des Universums an einem konstanten Ort ihren Anfang genommen hat und fortdauert in einer Explosion von Sternen und Nebeln, die immer mehr auseinanderstieben, bis ihre Verdünnung die äußersten Pole erreicht und Sonnen und Spiralwrasen erneut darangehen, sich zu verdichten und zusammenzuballen, dann würde der kosmische Kreislauf von vorne beginnen. Und all dies unendliche Male. Wobei nicht gesagt ist, dass es einen Auftakt überhaupt je gegeben hat. Das Weltall tut also nichts anderes, als unentwegt zwischen zwei Extremen hin- und herzupulsieren. Gezwungen, sich ewig selbst zu erneuern. So wie sich der Atemzug, in dem Briseis den Dolch in die unbeschirmte Hacke des Achill bohrt, unentwegt wiederholt hat und tausendfach von Neuem geschehen wird.
Kann der Mensch, wenn er denn einfach stehenbleibt und auf die Rückkehr desselben Augenblicks wartet, den Ausgang der Geschichte ändern? Den kausalen Zusammenhang von erster Ursache und deren Wirkung nachträglich zu seinen Gunsten manipulieren? Wären der Buchhalter in Chicago, Giambattista Coppola und Giulia Capone noch am Leben, wenn sie vorab die Folgen ihrer Taten überblickt hätten? Würde der russische Offizier sich anders entscheiden? Der Wellenritt des Silver Surfers lässt anderes vermuten. Obwohl John Utah kurz vor seinem Eintritt in die Tube aufgrund der Verdoppelung des Bildes schlagartig erfasste, dass er diese Sekunde bereits durchlebt hatte, war es ihm nicht möglich, das tödliche Resultat seines wahnwitzigen Rekordversuchs zu korrigieren. Auch Achill ist bereits hundertmal lachend dem Pfeil des Paris ausgewichen, um kurz darauf von der Tochter Trojas erdolcht zu werden.
Sobald Tyche den Lauf des Schicksals festgelegt und dem Menschen eine einmalige Wahlmöglichkeit eröffnet hat, wird er diese im Nachhinein nicht mehr berichtigen können. An diesem Fatum werden selbst zukünftige Zeitmaschinen oder das geduldige Verweilen bis zur Wiederkehr des entscheidenden Moments nichts ändern. Auch in Tausendmilliarden Stunden wird Briseis ihren Geliebten im Sternbild des Herkules erneut in den Hades schicken. Sich endlos wiederholend bis ……
*T22Lj = 22 tausend Lichtjahre
Freie Interpretation von Gedanken Italo Calvinos zum Zeitparadoxon