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Das Volk der Söhne

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07.08.2011
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Das Volk der Söhne

DAS VOLK DER SÖHNE


Von Daniel Choi

Es war einmal ein König namens Maskulon, ein stolzer und willensstarker Herrscher, der über das Land der Langen Sonne herrschte. Das Land hieß so, weil ob Sommer oder Winter, die Sonne sehr lange in ihm schien und mit ihr das Land blühte und gedieh. Lange Zeit hatten das Reich und sein Volk in Frieden und Wohlstand gelebt: Der Boden war fruchtbar und brachte reiche Ernten, das Vieh war stark und gesund, die Menschen gingen mit Freuden ihrer täglichen Arbeit nach.

Es schien, dass nichts und niemand dieses Glück trüben konnte. Aber wie so viele gute Zeiten kam auch diese zu einem Ende. Und das alles nur durch den falschen, übertriebenen Stolz eines einzigen Mannes.

* * * *

Trotz des allgemeinen Glücks im Königreich gab es einen, der mit seiner Situation überhaupt nicht zufrieden war. König Maskulon hatte eine wunderschöne und ergebene Frau, Königin Kassandra. In all den Jahren, die sie miteinander verbracht hatten, hatte die Königin drei Kindern das Leben geschenkt, und eigentlich hätte der König stolz darauf sein müssen. Diese drei Kinder waren allesamt Töchter, wunderschöne Geschöpfe mit den Namen Marie, Ginevra und Sabina, deren Anmut im ganzen Lande gepriesen wurde.

Und genau dies verdross den König, denn wie sehr hatte er sich einen Sohn gewünscht, der ihm auf den Thron folgen würde. Es war Tradition, dass nur direkte männliche Nachfolger den Thron des Reiches der Langen Sonne besteigen konnten. Die Töchter des Königshauses wurden für gewöhnlich an die Prinzen anderer Reiche verheiratet, um die Beziehungen mit deren Ländern zu festigen. Wenn sich kein Kandidat fand, mussten sie für den Rest ihres Lebens im königlichen Haushalt dienen und stets enthaltsam bleiben. Sie durften nicht unter eigener Wahl heiraten, nicht lieben, ja nicht von sich aus einen einzigen Mann auch nur ansehen oder ansprechen, sobald diese dem Knabenalter entwachsen waren; sie durften nur antworten, wenn sie selbst angesprochen wurden. Doch hatten sich aus den Nachbarreichen bisher keine Bewerber für die Hand von Maskulons Töchtern gefunden, und so mussten sie unter der Aufsicht ihres Vaters weiter ihr Leben im königlichen Schloss fristen.

In der Vergangenheit von König Maskulons Familie hatte es immer wenigsten einen Sohn gegeben, der die Krone hätte übernehmen können. Nachdem es sich aber herausgestellt hatte, dass die Königin keine weiteren Kinder mehr gebären konnte, hatte sich der König verbittert von seiner Familie zurückgezogen. Weder seiner Frau noch seinen Töchtern schenkte er seitdem mehr Beachtung als einem räudigen, streunenden Hund. Stattdessen nahm er sich eine Mätresse, Cecilia mit Namen, eine Hofdame von großer Schönheit und Liebreiz. Die Königin und ihre Töchter wussten davon, aber keine von ihnen wagte es, dagegen anzusprechen, denn der König konnte in schlechten Zeiten sehr, sehr zornig werden.

* * * *

Die Jahre vergingen, und je älter König Maskulon wurde, desto mehr wuchs seine Verzweiflung, dass er endlich einen Sohn bekommen würde, und umso mehr verhärtete sich sein Herz. Nachdem er aber mit Dame Cecilia jede Nacht das Bett geteilt hatte, wurde sie schließlich doch noch schwanger. Zuerst freute sich König Maskulon, doch bald beschlich ihn der furchtbare Gedanke, dass das neue Kind vielleicht auch ein Mädchen werden könnte. Er betete zum Himmel und bat ihn inständig, ihm diesmal einen Thronfolger zu schenken, doch seine Zweifel wurden von Tag zu Tag stärker. Er wusste sich schließlich nicht mehr zu helfen und ließ eines Tages seine Minister und Ratgeber versammeln.

„Sagt mir“, sprach er, „wie ich endlich eines Sohnes sicher sein kann, einem Erben, der mir auf den Thron folgt, wie ich es bei meinem Vater tat und dieser bei seinem.“

Die Minister und Ratgeber schauten sich ratlos an; keiner konnte eine Antwort geben. Und das schürte den Zorn des Königs zur Weißglut. Er zog sein Schwert, richtete es auf die sich furchtsam duckenden Ratsherren vor ihm und brüllte, dass sich seine Stimme überschlug: „Gebt mir Antwort, oder ich werde euch allen die Köpfe abschlagen lassen!!“

Nach einem kurzen, angstvollen Moment hob einer der Minister zitternd die Hand. „Herr“, sprach er, „ich habe mir sagen lassen, dass in den nördlichen Wäldern des Reiches eine Hexe lebt, die mit den dunklen Mächten im Bund steht. Man sagt, sie habe die Gabe, jedem Bittsteller einen Wunsch zu erfüllen, ganz egal was für einer es sein mag.“

„Eine Hexe?!“ Der König verhielt im Zweifel. Er wusste, dass Hexen Geschöpfe des Bösen waren, gehässige alte Weiber, die den Menschen nur Schaden zufügten; sie waren im Reich der Langen Sonne schon seit Urzeiten gejagt und auf den Scheiterhaufen gebracht worden. Aber dass sie die Kraft hätte, einen Wunsch zu erfüllen, ganz gleich welcher Art …

„Und wieso ist diese Hexe noch am Leben?“, grollte er.

„Die Hexe ist mächtig, Herr“, erklärte der Ratgeber zitternd, „und alle fürchten ihre Kraft. Es sind schon oft Krieger gegen sie entsandt worden, um sie der Gerechtigkeit zuzufügen, doch keiner ist je wiedergekommen.“

„Wo lebt sie?“, forschte König Maskulon weiter.

„Ihr Lager befindet sich im Schwarzen Wald, an der nördlichsten Grenze des Reiches. Aber ich muss Euch warnen, Herr, dies ist eine finstere und verwunschene Gegend. Keiner wagt es, je einen Fuß dort hineinzusetzen.“

König Maskulon grübelte. Die Dienste einer Hexe in Anspruch zu nehmen … sollte er dies wirklich tun? Auf der anderen Seite aber wusste er nicht, wohin er sonst gehen sollte. Das Reich brauchte unbedingt einen Erben, einen König aus seiner Blutlinie. Dennoch zögerte er, von diesem Mittel Gebrauch zu machen. Also ließ er die Sache auf sich beruhen und setzte seine Hoffnung weiterhin auf seine Gebete.

* * * *

Bald aber sollte König Maskulon anderen Sinnes werden. Als er nämlich einige Tage später mit düsteren Gedanken durch das Schloss streifte, hörte er um eine Ecke zwei Dienerinnen miteinander tuscheln. Neugierig schlich sich der König auf leisen Sohlen näher und horchte mit.

„Hast du es schon gehört?“, fragte die eine Dienerin die andere. „Prinzessin Marie liebt einen Mann!“

„Nein!“, entgegnete die andere ungläubig. „Wen denn?“

„Es ist ein Bauernsohn“, antwortete die erste aufgeregt. „Er ist unter denjenigen, die jeden Monat ihre Gaben zum Schloss bringen. Die Prinzessin sieht ihn, so oft sie kann, und ich kann es ihr nicht verdenken! Er ist ein schöner Bursche, so kräftig und gutherzig, und sein Lächeln …“ Hier seufzte die Dienerin. „Was gäbe ich darum, wenn er mich erwählt hätte!“

Das Herz des Königs wurde mit einem Schlag kalt und starr. Marie, seine eigene Tochter, traf sich aus ihrem eigenen Willen mit einem Mann? Seine Tochter beschmutzte die Ehre und die Traditionen der königlichen Familie? Seine eigene Tochter verstieß gegen das heilige Gebot der Keuschheit – und dazu noch mit einem dreckigen Gemeinen?!?

Seine Wut steigerte sich zu einem alles verzehrenden Zorn. Das konnte, das durfte einfach nicht sein! Niemand, nicht einmal seine eigene Tochter, durfte je die Ehre des königlichen Hauses in solch einer niederträchtigen Weise beschmutzen! Nur Königssöhne hatten nach der Tradition dieses Reiches das Recht, sich nach eigenem Willen eine Frau zu nehmen, die ihm von dem Tage an als Gemahlin und Königin unterwürfig sein musste!

Sein Herz fühlte sich an wie von schwarzen Flammen umtost, und wieder regte sich der Wunsch nach einem Sohn in ihm. Wenn diese Gerüchte sich als wahr erwiesen, würde er zur Hexe gehen und ihr seinen Wunsch darlegen.

Und so wartete der König die nächste Abgabenlieferung der Bauern ab. Prinzessin Marie verließ ihre Kemenate, ohne zu wissen, dass ihr Vater ihr auflauerte, und eilte auf heimlichen Wegen in den Hof hinunter, wo die Bauern die Karren und Wagen entluden. König Maskulon schlich ihr nach und beobachtete die Leute aufmerksam. Und tatsächlich: Unter ihnen befand sich in der Tat ein stattlich aussehender, junger Mann. Und dann sah er, wie Marie ihm aus einer kleinen Pforte heraus zuwinkte. Der junge Mann sah sich verstohlen um, dann hastete er eiligst zu der Pforte, die sich gleich hinter ihm schloss.

König Maskulon hatte genug gesehen. Eiligst rannte er in den Stall, brüllte nach seinem Pferd, und kaum dass es endlich aufgezäumt und gesattelt war, jagte er aus dem Tor hinaus, durch die Stadt und jenseits der Mauer gen Norden – zum Schwarzen Wald. Nach drei Tagen und Nächten wilden Ritts kam er zum letzten Dorf vor diesem Wald und kehrte in einer Herberge ein; dort fragte er den Wirt nach dem Lager der Hexe. Das Gesicht des guten Mannes wurde weißer als die Schürze, die er um seinen dicken Bauch trug.

„Ihr wollt in den Wald, Herr? Geht nicht! Ihr werdet Euer Ende darin finden! Die Hexe wird Euch in dem Moment in Staub verwandeln, in dem sie Euch auch nur ansieht!“

„Das lass meine Sorge sein“, entgegnete der König unwirsch und ließ einen dicken Beutel mit Gold auf die Anrichte vor dem Wirt fallen. „Sage mir nur, wie ich zu ihr komme, und kümmere dich ansonsten nur um deine Angelegenheiten!“

Die Gier des Wirtes besiegte seine Bedenken. Schnell strich er die Goldmünzen ein und sprach zum König: „Wenn Ihr morgen früh den Waldrand entlang nach Westen reitet, werdet ihr auf einen Bach stoßen, welcher an einem weißen Felsen vorbei aus dem Wald fließt. Folgt ihm in den Wald hinein, und dann werdet ihr zur Hexe kommen.“

König Maskulon kehrte für die Nacht in der Herberge ein, und am nächsten Morgen folgte er den Weisungen des Wirts. Ganz wie beschrieben erreichte er den Bach am weißen Felsen und folgte ihm in den Wald hinein. Der Ort hieß nicht umsonst der Schwarze Wald: Die Stämme aller Bäume hier waren mit schwarzer, feucht glänzender Rinde überzogen, und obwohl die Äste kaum Blätter trugen, schien nie ein einziger Sonnenstrahl hier den Boden zu erreichen. Alles war in tiefe Schatten getaucht, die die Rufe und Schreie der Tiere, die sich trauten, in ihnen zu leben, in ein unheimliches Konzert von Geistern zu verwandeln schien, die dem königlichen Wanderer zuzurufen schienen: Kehr um! Kehr um! Geh nicht weiter! Kehr zurück ins Licht!

Obwohl dem König die lichtlose Kälte ihm bis in die Knochen kroch, ließ er sich nicht abbringen, und bald schon sah er unter den Schatten der Bäume einen schwachen Lichtschein. Langsam ritt er weiter, bis er im Dunkel die Gestalt einer windschiefen Hütte vor sich sah, aus deren einzigem Fenster ein flackerndes Licht nach außen drang. König Maskulon stieg ab und trat zur Tür, um an ihr zu klopfen, als sie mit einem lauten Knarren aufging. Im Türrahmen stand eine alte, gebeugte Frau von solcher Hässlichkeit, dass dem König schauderte.

„Seid mir willkommen“, krächzte die Alte mit brüchiger Stimme. „Tretet ein, Herr, und sagt mir, was Ihr begehrt.“

König Maskulon trat in die Stube der Hexe, in welcher ein Feuer im Herd unheimliche Schatten über die schiefen Wände tanzen ließ. „Weib“, sagte er, „ich benötige deine Dienste. Erfülle mir einen Wunsch, dann werde ich dich reichlich belohnen.“

Die Alte kicherte und rieb sich die Hände. „So sei es“, sprach sie. „Sagt mir, hoher Herr, was ist Euer Wunsch?“

„Mein Wunsch“, sprach der König, „mein Wunsch ist, dass ich endlich einen Sohn bekomme. Meine Frau konnte mir keine Söhne gebären. Meine Töchter taugen zu nichts, und meine Älteste geht sogar so weit, die Ehre meiner Familie zu beschmutzen. Ich brauche einen Sohn, der meine Nachfolge antreten kann, so wie es mein Vater und seine Väter vor ihm schon getan haben! Das ist, was ich von dir wünsche!“

Wieder kicherte die Hexe. „So sei es“, sagte sie erneut. „Aber wisset, hoher Herr, dass solche Wünsche mit einem Preis kommen. Welchen Preis gedenkt Ihr zu bezahlen?“

Der König hielt ihr einen prall gefüllten Beutel entgegen. „Ich habe Gold. Viel Gold. Was immer du auch verlangst, ich kann es bezahlen.“

Die Alte schob die Hand mit dem Beutel beiseite. „Spart Euch Euer Gold, hoher Herr, denn das wird Euren Preis nicht bezahlen können, ganz gleich wie viel Ihr bietet. Es ist eine andere Art von Preis, den Ihr bezahlen müsst … oder vielmehr: ein Opfer.“

„Was für ein Opfer?“, fragte König Maskulon gleichermaßen misstrauisch wie erwartungsvoll.

„Eure Töchter, sagt Ihr, beschmutzen die Ehre Eurer Familie“, sprach die Alte. „Wenn sie Euch nur im Wege stehen, dann solltet Ihr sie nicht mehr im Weg haben. Beseitigt sie mit diesem Dolche hier, und Euer Wunsch nach einem Sohn soll Euch erfüllt werden.“

Damit streckte die Hexe ihre Hand aus und überreichte König Maskulon einen Dolch mit einer Klinge, die schwarz wie die Nacht war. Nicht einen Augenblick lang nährte der König einen Zweifel an diesem unheiligen Handel. Er streckte die Hand aus und nahm den Dolch an sich. „Abgemacht!“, rief er. „In etwa einer Woche wird alles getan sein. Dann werde ich wiederkehren, Weib. Und wehe dir, wenn deine Zauberei nicht wirkt!“

„So sei es“, kicherte die Alte wieder. „Also sehe ich Euch bald wieder, hoher Herr.“

* * * *

Als König Maskulon wieder ins Schloss zurückkehrte, schien für die Königin und seine Töchter alles so wie immer. Sie bemerkten zwar, dass etwas am Herzen des Königs zu zehren schien, wagten aber nicht zu fragen. Wie konnten sie auch nur ahnen, welcher dunkle Verrat, welche abgründigen Absichten sich tief in seinem Busen bewegten!

König Maskulon zog sich unter dem Vorwand, von der Reise noch ermüdet zu sein, in sein Schlafgemach zurück. Doch legte er sich nicht zur Ruhe, denn die Aussicht, endlich einen Erben erhalten zu können, tobte in ihm umher und hielt ihn wach die vielen Nächte lang, die noch zur Durchführung seines Planes vergehen mussten. Und mit grimmiger Entschlossenheit begann er, die Einzelheiten seines fürchterlichen Planes in seinem Kopfe reifen zu lassen.

* * * *

Endlich war es dann soweit. Unter ihrem üblichen Gepolter auf dem steinernen Pflaster rollten die Wagen mit den Abgaben der Bauern an, und wieder befand sich der junge Bursche unter ihnen. Diesmal beobachtete der König jeden einzelnen Schritt, den er tat, und als er nach seinem Stelldichein mit Prinzessin Marie wieder zu seinen Leuten zurückkehren wollte, ließ König Maskulon ihn von zwei seiner getreuesten Knechte in einem abgelegenen Teil der Schlossgänge fangen und niederschlagen, dass er ohnmächtig wurde. Dann wurde er für die Nacht in eine Kammer eingesperrt, zu der niemand kam. Niemand würde ihn finden, bis es soweit war.

Um Mitternacht dann, als alles im Schloss schlief, öffnete sich die Tür zur Kammer des Königs mit einem leisen Quietschen. Eine schwarz vermummte Gestalt schlich sich wie ein dunkler Schatten durch die Gänge des Schlosses, bis sie vor einer bestimmten Tür zum Stehen kam. Eine Hand legte sich behutsam auf den Knauf der Tür, und lautlos öffnete sie sich und gab den Weg zur Kammer der Prinzessin Marie frei.

Schnell glitt der Finstere zum Bett der Prinzessin. Aus den Falten seines Mantels löste sich eine Hand, deren Finger fest den Griff des schwarzen Dolches umklammerten. Er dachte nicht daran, was für eine unheilige Tat zu begehen er im Begriff war. Er dachte nicht an all die kurzen und doch so fröhlichen Jahre seiner Töchter Kindheit, ihr Lachen, ihre Liebe zu ihm, die ihn vor so vielen Jahren noch mit Freude erfüllt hatte. Keinen Augenblick lang regte sich sein Gewissen. Für ihn zählte nur eins: endlich den so lange gewünschten Sohn in seinen Armen halten zu können.

Und mit diesem Gedanken meuchelte er seine Tochter mit dem schwarzen Dolch, und nachdem die grausame Tat vollbracht war, begab er sich sogleich in die Gemächer seiner beiden jüngeren Töchter und ließ sie dasselbe Schicksal widerfahren. Und kaum war das blutige Handwerk verrichtet, so begab er sich wieder in seine Kammer und legte sich mit grimmiger Genugtuung zur Ruhe.

* * * *

Am nächsten Morgen hallte großes Wehgeschrei durchs Schloss. Die Diener hatten die drei lieblichen Prinzessinnen in ihrem Blute liegend vorgefunden, und nun schrie ein jeder Zeter und Mord oder weinte mit wehem Herzen. Die Dienerschaft hatte die Prinzessinnen sehr lieb gehabt, und nun trauerten sie alle und zitterten vor Schreck und Zorn vor dem gewissenlosen Mörder, der solch einer ruchlosen Tat fähig gewesen war.

Auch der König befand sich unter den Jammernden, und keiner sah ihm an, wie unehrlich seine Tränen waren, die er vergoss, und welche Zufriedenheit in jedem Schluchzen lag, das sich seiner Kehle entrang. Endlich, endlich erfüllte sich sein Traum! Bald schon würde sein Sohn, sein rechtmäßiger Erbe in seinen Armen liegen.

Da er wusste, dass man nach dem Mörder suchen würde, beeilte er sich, die Wachen das Schloss durchsuchen zu lassen. Zuvor hatten seine Helfer heimlich die Zelle des jungen Mannes geöffnet und ihm die Mordwaffe in die Hand gedrückt, und als der Bursche nun verwirrt und mit Blut behangen durch die Gänge irrte, wurde er ergriffen und vor den König gebracht.

„Du hast dich gegen deinen König verschworen!“, klagte Maskulon ihn heimtückisch an. „Die königlichen Prinzessinnen hast du gemordet, um unser Reich zu verderben. Gestehe deine Schuld und reinige dein Gewissen, oder des Henkers Gnade erwartet dich!“

Doch wie sollte der Bauernsohn eine Schuld gestehen, die er gar nicht hatte? Vergebens beteuerte er seine Unschuld, vergebens brachte er vor, wie sehr er Prinzessin Marie geliebt hatte, der König hatte seine Tat wohl geplant. Die Richter kannten kein Erbarmen, und am Abend darauf schon legte sich dem Armen die Schlinge des Henkers um den Hals.

Jetzt wo der Mörder gefasst und gerichtet schien, dachte niemand mehr daran, weitere Fragen zu dieser ruchlosen Tat zu stellen, und das war, worauf der König gehofft hatte. Stracks ritt er eines Morgens zurück zur Hexe und reichte ihr das Mordwerkzeug dar.

„Also ist es geschehen“, krächzte die Alte. „Nun werde ich Euch Euren Wunsch erfüllen, Herr.“

Mit dem Dolch ging sie zu einem Kessel, der über dem Feuer brodelte, und warf die Klinge hinein. Dann begann sie mit ihrem Zauber. Lange murmelte sie und bewegte ihre Arme hin und her, während der König gespannt draufschaute. Dann schöpfte sie eine Handvoll schwarzen Staubes aus dem Kessel, ging ans Fenster und blies ihn in den Wald hinaus.

„Hiermit ist nun Euer Wunsch erfüllt“, sagte sie. „Eure Geliebte wird bald schon niederkommen. Kehret heim und freut Euch Eures Nachfolgers, Herr.“

König Maskulon erhob sich, als wollte er dem Rate unverzüglich nachkommen, doch als er der Hexe nahe kam, zückte er rasch das Schwert und stach sie nieder, denn er wollte keine Mitwisser um sich haben.

Als die Alte nun in ihrem Blute lag, hob sie noch einmal ihre Hand und richtete einen mahnenden Finger auf ihn. „Fluch sei Euch, König Maskulon!“, krächzte sie heiser. „Ihr möget zufrieden sein über Euer Mordwerk, aber bald schon wird Euch Euer sehnlichster Wunsch zum größten Fluch werden. Was Euer Wunsch für Euch selbst sein sollte, das sei nun das Schicksal Eures Reiches. Hinfort sollen nur noch Söhne in diesem Reich geboren werden!“

Und mit diesen Worten hauchte sie ihr Leben aus. Der König aber kümmerte sich nicht um ihre Worte, stieg rasch auf sein Pferd und eilte zurück ins Schloss. Dort angekommen, musste er erfahren, dass seine Gemahlin, Königin Kassandra, ihrem Gram über den Tod ihrer geliebten Töchter erlegen war, doch auch das kümmerte ihn nicht.

Sehr bald nachdem die Königin an der Seite ihrer Töchter zu Grabe getragen worden war, nahm Maskulon Dame Cecilia zur Gemahlin. Die Hochzeit wurde mit großer Pracht gefeiert, und nach wenigen Monaten gebar die neue Königin tatsächlich einen Sohn, welcher den Namen Hion erhielt. Tragischerweise starb seine Mutter bei der Geburt, doch das kümmerte den König nicht. Nun hatte er endlich den Sohn, den er sich so lange gewünscht hatte, und er überhäufte ihn mit Küssen, Geschenken und seiner väterlichen Liebe. Und im Laufe der Jahre wuchs Prinz Hion zu einem stattlichen Manne heran und wurde zum Stolz seines Vaters.

* * * *

Jedoch begann sich in jenen Jahren Unruhe unter den einfachen Leuten auszubreiten. Zuallererst bemerkten sie es an den Tieren im Stall und auf ihren Feldern: Die Kühe gebaren nur noch Kälber, die zu Bullen heranwuchsen, die Stuten trugen nur noch männliche Füllen aus, aus den Eiern ihrer Hühner schlüpften nur noch Hahnesküken. Es gab zwar nun kräftige Tiere und Fleisch im Überfluss, aber mehr und mehr mangelte es an dem, was nur Muttertiere hergeben konnten: Milch, Käse, Eier. Und auch schon bald wurde das Fleisch selten und teuer, denn wenn die Muttertiere starben, wurden auch keine neuen Jungtiere mehr geboren. Viele Bauern mussten sich daher zu den Märkten in den Nachbarreichen begeben und dort für teures Geld neue Muttertiere kaufen. Viele hofften, dass es dadurch wieder besser wurde, doch auch bei ihnen wirkte der Fluch der Hexe weiter, und auch sie gebaren nur männliche Junge.

Bald schon begann der Fluch sich auch unter den Menschen selbst deutlich bemerkbar zu machen. Es wurden einfach keine Töchter mehr geboren, sondern nur noch Söhne. Zuerst waren die Bauern zwar erfreut, wünschte sich doch jeder einen oder zwei Söhne, die ihm im Alter kräftig zur Hand gehen konnten, doch nach und nach wunderten sie sich doch, dass sie und ihre Nachbarn nur noch Söhne bekamen. Die Kunde über diese seltsame Begebenheit verbreitete sich schnell im ganzen Reich, und mit ihr die Unruhe. Was geschah mit ihnen?, munkelten die Leute in immer größer werdenden Gruppen. Was versagte ihnen die Geburt von Töchtern? Und wie sollte es aussehen, wenn es keine Frauen mehr gab, die ihnen weitere Kinder bringen würden?

Unvermeidlich, wie es bei Gerüchten so ist, kamen diese Nachrichten schließlich auch zum Königshof, und die Dienerschaft begann in jedweder stillen Ecke hinter vorgehaltener Hand miteinander zu flüstern. Einige besonders misstrauische oder auch abergläubige Seelen begannen sogar, den gewaltsamen Tod der königlichen Prinzessinnen mit dieser Merkwürdigkeit zu verbinden, nicht ahnend, wie recht sie wirklich damit hatten. Bald auch erfuhren die Ratsherren von diesen Gerüchten, und einige von ihnen, aus Treue oder auch um des eigenen Wohles willen, begaben sich zum König.

„Euer Majestät“, sprachen sie, „die Diener im Schloss munkeln und tuscheln über die Vorgänge im Königreich, wonach nur noch Söhne bei den Menschen und dem Vieh geboren werden. Manche sagen sogar, der Tod der königlichen Hoheiten, der Prinzessinnen …“

Hier erstarrte König Maskulon vor Entsetzen. War seine Tat also doch noch zutage gekommen?

„… der Tod der Prinzessinnen habe einen Fluch auf das Königreich geworfen“, vollendeten die Ratsherren. „Es gäbe weder Töchter, die neue Kinder gebären könnten, noch werfe unser eigenes Vieh junge Weibchen ins Leben. Sagt, was sollen wir tun, Herr?“

Bei diesen Worten atmete der König wieder auf. Dann erklärte er: „Kümmert euch nicht darum. Das ist dummes Bauerngeschwätz. Lasst diese Gerüchte an euch vorüberziehen. Und wenn einer der Bediensteten jemals in eurer Gegenwart so einen schmutzigen Verdacht erwähnt, so soll er in den Kerker geworfen und ausgepeitscht werden. Ich dulde keine haltlosen Anklagen in meinem Schlosse!“

Und wie der König gesprochen hatte, so geschah es. Eingeschüchtert musste die Dienerschaft schweigen, und Maskulon konnte sich in Ruhe wieder der Erziehung seines Sohnes widmen.

* * * *

Doch selbst die strengsten Befehle des Königs konnten nicht verhindern, dass überall im Reiche bald ernsthafte Unruhe heranwuchs. Den heranwachsenden Männern verlangte es nach Frauen, doch es waren nur noch wenige da, und ihre Zahl schwand zusehends. Viele von ihnen waren dem Reich aus Furcht vor dem Fluche entflohen, und von denen, die noch dageblieben waren, waren die meisten zu alt oder zu gebrechlich, um mit einem Manne den Platz im Bett zu teilen oder gar Kinder zu gebären. Unter diesem wachsenden Verlangen schrumpften Sitte und Moral zu einem Nichts zusammen. Die Männer fingen an, über jede Frau, jede junge Maid herzufallen, wenn die Lust sie überkam. Manch ein Mädchen wurde gar gezwungen, das Bett mit mehreren Männern zu teilen, welche sich bald darum stritten, wer von ihnen das Vorrecht genießen durfte, als erster ein Kind zeugen zu dürfen.

Viele der jüngeren Männer hatten gar den Einfall, sich woanders neue Mädchen zu suchen. Sie schlossen sich zu wilden Banden zusammen und überfielen die nächsten Höfe und Dörfer in den Nachbarreichen, nahmen sich die jungen Frauen mit Gewalt. Das schürte den Zorn der Nachbarn, welche Nachricht und Klage an ihre Könige sandten und diese daraufhin König Maskulon zur Einsicht zu rufen versuchten. Doch der Stolz auf seinen Sohn und Nachfolger hatte Maskulon im Laufe der Jahre verblendet, dass er nicht mehr das Schlechte in der Welt wahrnehmen wollte und konnte.

Hinzu kam auch noch, dass es immer weniger Frauen gab, welche die ihnen von der Tradition zugeteilten Aufgaben – das Spinnen, Weben und Nähen, das Kochen und der Haushalt – ausführen konnten. Somit mussten nun die Männer diese Arbeiten übernehmen, ganz besonders die jungen; doch viele von ihnen ließen sich aus Starrsinn und männlichem Stolz darauf ein und ließen sich nicht umstimmen. Und so geschah es, dass die Märkte des Reiches verfielen, denn es gab nichts, was die Leute hätten handeln können: Ausgerechnet die wichtigsten Waren, die prächtigen Stoffe und die feinen Leinentücher, für die das Reich der Langen Sonne nah und fern einst so berühmt gewesen war, waren nicht mehr vorhanden. Und so schwanden Reichtum und Wohlstand aus dem Reiche wie Wasser, welches in unfruchtbaren Boden versickert.

Nur die Reichen besaßen noch genug Gold, aber sie nutzten es nicht weise. Um sich mit jungen und frischen Maiden versorgen zu lassen, gingen sie Verträge mit Sklavenhändlern ein, schwarzen Seelen, denen jedwedes Leid, welches einen Menschen in Ketten befiel, immer eine Handvoll glitzernder Goldmünzen wert war. Diese raubten Jungfrauen aus den umliegenden Königreichen und verkauften sie zu hohen Preisen an die Adligen der Langen Sonne, und diese zahlten nur zu gerne für ihre Ware. Doch erzürnten diese ruchlosen Taten die anderen Reiche bis zur Weißglut, und so schlossen sich deren Herrscher zusammen und formten ein mächtiges Heer.

Doch auch im Reich der Langen Sonne selbst regte sich Widerstand. Gerüchte wurden zum Verdacht, und Verdacht wurde zur Gewissheit. Je größer die Not der einfachen Leute wurde, desto lauter wurde ihr Murren und desto mehr Stimmen begannen laut ihren schrecklichen Verdacht auszusprechen: Dass nämlich der König für diesen Fluch verantwortlich sein musste. Denn vielen war nun die Hast, mit welcher der König einst den vermeintlichen Täter hatte verurteilen und hinrichten lassen und mit welcher er gleich nach dem Tod seiner Gemahlin eine neue Königin erwählt hatte, suspekt geworden. Auch wussten noch manche Leute zu berichten, dass König Maskulon einst in den Schwarzen Wald geritten war, um die Hexe zu sehen; seitdem habe man nie wieder von der Hexe gehört, und kurze Zeit danach hatte der Fluch das Reich erfasst.

Dann aber erreichte König Maskulon die Kunde, dass sich seine Nachbarn gegen ihn verschworen hätten, und das war etwas, was er nicht mehr ignorieren konnte. So sammelte er alle fähigen Männer zu einem Heer und gab seinem Sohn Hion, der inzwischen zu einem stattlichen Mann herangewachsen war, den Oberbefehl. So zog die Armee der Langen Sonne dem Feinde entgegen, und der König war zufrieden. Seine Heerschar war viel größer als das der Nachbarreiche, und so dachte er, dass er allein durch diese Übermacht schnell den Sieg davontragen würde.

Doch in seiner Siegessicherheit bedachte König Maskulon eines nicht: Da alle jungen und starken Männer vom Lande nun im Heer dienten, blieb niemand mehr, die das Vieh und die Felder zu bestellen vermochte. Es gab zwar die alten und die sehr jungen, aber diese vermochten die schweren Arbeiten nicht zu lange durchhalten. Die Folge war, dass bald die Nahrungsmittel im Reiche knapp wurden, und eine Armee konnte nur so weit marschieren und fechten, wie die Mägen ihrer Soldaten gefüllt wurden. Die Armee der Langen Sonne versuchte sich durch Plündern in Marsch zu halten, doch hatten die Bewohner der Gebiete, die sie durchzogen, in weiser Voraussicht ihre Nahrung und ihr Hab und Gut schon in Sicherheit gebracht, und die kargen Überbleibsel, die sie hinterlassen hatten, reichten bei weitem nicht aus, um den wachsenden Hunger der Soldaten zu stillen.

Ihre Feinde aber, so unterlegen sie ihnen an Zahl waren, hatten mehr als genug zu essen, und das entschied den Krieg, bevor er zu Ende geführt worden war. Hunger und Erschöpfung forderten ihren Tribut unter den Soldaten der Langen Sonne. Immer mehr fielen dem Schwerte zum Opfer, weil sie die ihren nicht zu nur einem einzigen Hieb mehr erheben konnten, und andere fielen bei dem Versuch, einer verlorenen Schlacht zu entrinnen, erschöpft zu Boden und wurden so leichte Beute für ihre erzürnten Gegner. Schritt für Schritt musste Maskulons Heer zurückweichen, bis der erste Soldat der feindlichen Allianz schließlich seinen Fuß auf seinen Grund und Boden setzte.

Und noch immer ging das Schlachten weiter. Die Feinde stießen immer weiter zum Herz des Reiches vor, und je mehr das Heer der Langen Sonne an Boden verlor, desto mehr verlor es auch an Männern. Viele von ihnen, von Hunger und Kampf ermattet, streckten ihre Waffen ohne weitere Gegenwehr. Die gefangenen Maiden wurden befreit und fielen ihren Landsleuten in die Arme, während das einfache Volk der Langen Sonne sich nun vom Fluch seines Königs befreit sah und die Feinde gar mit Jubel und Frohlocken begrüßte. König Maskulon dagegen wurde mit jedem Tage, an dem der Feind seinem Schlosse näher rückte, im Angesicht grau und matt wie Asche.

Schließlich dann kam der Tag, an dem alles endete. Die vereinigte Armee des Feindes belagerte das königliche Schloss, und da die Zahl der Verteidiger auf eine erbärmliche Anzahl zusammengeschrumpft war, fielen nach nur zwei Tagen die Mauern. Prinz Hion fiel vor den entsetzten Augen seines Vaters durch das Schwert, als die Feinde wie wütende Ameisen durch die Gänge und Hallen stürmten. Ihn selbst entdeckten die Feinde um sein Leben zitternd in einer finsteren Ecke kauernd, ergriffen ihn und schleppten ihn wie einen räudigen Hund vor den Rat der vereinten Reiche. Und wie auch König Maskulon um sein Leben flehte und die Gründe für seine Taten mit schönen und verzweifelten Worten zu verteidigen suchte, die vereinigten Könige erschauten seine Feigheit und Selbstsucht und verurteilten ihn ob seiner ruchlosen Taten zum Tode. Und er starb nicht wie der König, der er einst gewesen war, einen schnellen Tod durch das Beil des Henkers – er wurde wie der gemeine Mörder, den er aus sich selbst gemacht hatte, am Galgen aufgeknüpft.

Der Rest des Volkes der Langen Sonne verließ das Land, und selbst die Sonne versagte von jenem Tage an dem Reich ihre Helle und Wärme, sodass dessen Antlitz genauso grau und tot wurde wie das des Königs in seinen letzten Tagen. Und erst viele Generationen später, als der Name Maskulons aus dem Gedächtnis der Menschen verschwunden war, ließ es der Himmel zu, die Schuld des Königs als getilgt anzusehen und der verfluchten Erde dieses Landes wieder Leben zu schenken.

Gedenkt daher eines, jene, die ihr diese Kunde vernehmt: Mag der Mann sich als stärker ansehen und es auch sein, so liegt die Stärke der Frau in anderen Dingen, die sie somit dem Manne gleichsetzen. Und ganz gleich wie stark die Wege Eurer Väter und deren Väter in euch mögen wohnen … die Söhne eines jeden Vaters kommen niemals aus dem Nichts.

 

Hallo Daniel

Und Herzlich Willkommen im Forum!

Das ist ein interessantes Märchen, das du da geschrieben hast. Die Idee, dass ein ganzes Volk auf einmal nur noch Jungs zur Welt bringt und so dem eigenen Untergang unweigerlich geweiht ist, gefällt mir.

Ich bin eigentlich kein Freund von Geschichten, die übertrieben deutlich mit dem moralischen Zeigefinger wedeln, und daher hab ich mit deinem letzten Absatz auch so meine Probleme. Zum einen zwingt er dem Leser übertrieben deutlich die Moral der Geschichte auf, aber, was das Schlimmere ist - er passt eigentlich gar nicht genau zu dem, was du erzählst.

Ich habe das Gefühl, du willst die Geschichte so verstanden wissen, dass der König scheitert und sein ganzes Volk mit in den Abgrund reisst, weil er das Leben seiner Töchter als wertlos erachtet. Darauf legst du viel Wert, es wird an vielen Stellen erwähnt, und so lese ich auch deinen letzten Absatz: Männer sind nicht mehr wert als Frauen, sie sind genauso wichtig, also achtet sie.

Leider ist in vielen Gesellschaften ein männlicher Nachkomme tatsächlich deutlich mehr wert als das weibliche Pendant. Dies treibt bisweilen so bizarre Auswüchse, dass weibliche Embrionen abgetrieben oder weibliche Säuglinge gar nach der Geburt getötet werden. Und eine solch perverse Verhaltensweise legst du auch deinem König zugrunde, und natürlich scheitert er in deiner Geschichte - aber, und das ist der Punkt, nicht weil er seine Töchter ermordete. Nicht weil er Frauen als wertlos betrachtet. Sondern: Weil er die Hexe tötete. Denn deine Geschichte deutet an, dass er ohne den Mord an der Hexe durchgekommen wäre. Also sind es nicht seine verwerflichen moralischen Ansichten, die als Fehlverhalten dargestellt werden (weil daraus der Zerfall der Gesellschaft folgt), sondern es ist der Mord an der Hexe (der somit schlimmer wirkt). Hier sagt die Geschichte: Hättest du nur deine Töchter getötet, wärst du damit gekommen. Aber die Moral am Ende will mir etwas anderes mitteilen, und deshalb hab ich mit ihr gleich ein doppeltes Problem. Und hier verlässt du auch die Pfade eines traditionellen Märchens (vielleicht auch mit Absicht): Der Mord an der bösen Hexe wird verurteilt, die Morde an den schönen, guten Töchtern gebilligt - denn diese hätten den König an sein Ziel gebracht. Mich würde interessieren, ob dies tatsächlich deine Intention war - denn, wie gesagt, der moralische Hinweis am Ende und auch deine Erzählweise erinnern eher an ein "klassisches" Märchen.

Dessen mal unerachtet, hat mich die Geschichte gut unterhalten. Klar, die Charaktere sind ein wenig flach - bspw. bin ich erstaunt, mit welcher Leichtigkeit der König seine Töchter umbringt, ohne in einen inneren Konflikt zu kommen (obwohl seine Geliebte ja schon schwanger ist und durchaus die Möglichkeit bestanden hätte, ohne das Eingreifen der Hexe einen Sohn zu gebären), aber ok, in diesem Genre verzeiht man das vielleicht noch. Wobei du schon überlegen musst, dass selbst der leibliche Vater von Hänsel und Gretel einen Grund hatte, seine Kinder auszusetzen - er war verleitet von der (auch oft anzutreffenden) bösen Stiefmutter - die ja schließlich am Ende auch nicht mehr am Leben war.

Die Abschnitte sind gut durchformatiert, das erleichtert das Lesen. Auch von der Länge her hast du meist das richtige Maß getroffen, bis auf das Ende, das zieht sich ein wenig hin finde ich, vor allem, als dann die Schlachten, Plünderungen etc. einsetzen. Ich denke das kann man etwas kürzer schildern.

Ich habe noch eine ganze Liste mit Anmerkungen zum Text, aber leider jetzt keine Zeit mehr. Ich werde diese aber in den nächsten Tagen nachreichen.

Als Fazit mal: Ein gelungenes Debüt, würde auch gerne Texte von dir in anderen Genren lesen. Und, wie gesagt, es würde mich interessieren, ob du den König absichtlich hast scheitern lassen, weil er die Hexe ermordete - und nicht wegen den Morden an seinen Töchtern.

Viele Grüße - und Fortsetzung folgt.

 

Hallo Daniel

Wie versprochen noch die Anmerkungen zu einzelnen Textstellen:

Diese drei Kinder waren allesamt Töchter,

Klingt umständlich, ich würde gleich bei der ersten Erwähnung statt "Kinder" einfach "Töchter" schreiben.

In der Vergangenheit von König Maskulons Familie hatte es immer wenigsten einen Sohn gegeben, der die Krone hätte übernehmen können.

wenigstens

Warum "... der die Krone hätte übernehmen können"?
Ich denke "hatte" trifft es hier besser.

Nachdem es sich aber herausgestellt hatte, dass die Königin keine weiteren Kinder mehr gebären konnte, hatte sich der König verbittert von seiner Familie zurückgezogen.

Ich würde im zweiten Teil statt Plusquamperfekt normales Präteritum nehmen.

Nachdem er aber mit Dame Cecilia jede Nacht das Bett geteilt hatte, wurde sie schließlich doch noch schwanger.

Du hast immer wieder solche Füllwörter (hier fett) drin, die raus können. Versuche die Sätze zu kürzen, wenn möglich.

„Eine Hexe?!“

Eine Kombination aus Fragezeichen und Ausrufezeichen gibt es nur in Comics.

Der König verhielt im Zweifel.

Klingt seltsam. Besser vielleicht: verharrte im Zweifel.

Es sind schon oft Krieger gegen sie entsandt worden, um sie der Gerechtigkeit zuzufügen, doch keiner ist je wiedergekommen.

Genau, hier wollte ich dich fragen, weshalb der König dann nichts von der Existenz der Hexe weiß, wenn er schon Krieger an sie verloren hat (oder waren die aus einem anderen Land?).

Sein Herz fühlte sich an wie von schwarzen Flammen umtost,

Finde nicht dass das gut klingt. "Tosen" bringe ich eher mit Wasser in Verbindung, im Sinne von "rauschen", "toben" oder "lärmen". Nichts davon passt auf Flammen - und wieso sind sie schwarz? Das würde ich in jedem Fall rausnehmen.

König Maskulon hatte genug gesehen. Eiligst rannte er in den Stall, brüllte nach seinem Pferd, und kaum dass es endlich aufgezäumt und gesattelt war, jagte er aus dem Tor hinaus, durch die Stadt und jenseits der Mauer gen Norden – zum Schwarzen Wald.

Hier kann ich dem König nicht mehr folgen: Er sieht, wie sich seine Tochter mit einem Mann trifft, und das bringt ihn dazu, zur Hexe zu reiten? Das eine hat doch mit dem anderen überhaupt nichts zu tun, würde er nicht eher seine Tochter zurechtweisen und den Mann in den Kerker werfen lassen?

Die Stämme aller Bäume hier waren mit schwarzer, feucht glänzender Rinde überzogen, und obwohl die Äste kaum Blätter trugen, schien nie ein einziger Sonnenstrahl hier den Boden zu erreichen. Alles war in tiefe Schatten getaucht, die die Rufe und Schreie der Tiere, die sich trauten, in ihnen zu leben, in ein unheimliches Konzert von Geistern zu verwandeln schien, die dem königlichen Wanderer zuzurufen schienen: Kehr um! Kehr um! Geh nicht weiter! Kehr zurück ins Licht!

Du siehst es selbst: Da scheint zu viel. Generell sollte man mit diesem Begriff vorsichtig umgehen, hier wird er inflationär gebraucht.

Obwohl dem König die lichtlose Kälte ihm bis in die Knochen kroch,

"ihm" raus

Langsam ritt er weiter, bis er im Dunkel die Gestalt einer windschiefen Hütte vor sich sah,

Besser: "... bis er im Dunkel eine windschiefe Hütte vor sich sah".

Wie konnten sie auch nur ahnen, welcher dunkle Verrat, welche abgründigen Absichten sich tief in seinem Busen bewegten!

Das klingt so gewollt altmodisch. Ja, Busen im Sinn von Brust, aber es ist doch eher ein Begriff, den man mit Frauen in Verbindung bringt.

Doch legte er sich nicht zur Ruhe, denn die Aussicht, endlich einen Erben erhalten zu können, tobte in ihm umher und hielt ihn wach die vielen Nächte lang,

würde das "umher" streichen

Gestehe deine Schuld und reinige dein Gewissen, oder des Henkers Gnade erwartet dich!“

Gnade? Wohl eher Strafe, oder?

Viele hofften, dass es dadurch wieder besser wurde

würde

Bald schon begann der Fluch sich auch unter den Menschen selbst deutlich bemerkbar zu machen.

Klingt ohne "deutlich" besser.

Es wurden einfach keine Töchter mehr geboren, sondern nur noch Söhne.

Füllwort "einfach" streichen und zweiten Teil weglassen, da redundant zum ersten: "Es wurden keine Töchter mehr geboren." Man kann viele Sätze in der Geschichte in ähnlicher Weise kürzen, ohne dass man Inhalt verliert.

doch nach und nach wunderten sie sich doch

Auf das zweite "doch" solltest du verzichten.

Einige besonders misstrauische oder auch abergläubige Seelen

abergläubische

Doch der Stolz auf seinen Sohn und Nachfolger hatte Maskulon im Laufe der Jahre verblendet, dass er nicht mehr das Schlechte in der Welt wahrnehmen wollte und konnte.

Es klingt so, als habe er das vor der Geburt seines Sohnes gekonnt, doch dies war nicht der Fall.

Dann aber erreichte König Maskulon die Kunde, dass sich seine Nachbarn gegen ihn verschworen hätten, und das war etwas, was er nicht mehr ignorieren konnte.

hatten

Da alle jungen und starken Männer vom Lande nun im Heer dienten, blieb niemand mehr, die das Vieh und die Felder zu bestellen vermochte.

"der" statt "die"

Es gab zwar die alten und die sehr jungen, aber diese vermochten die schweren Arbeiten nicht zu lange durchhalten.

Alten und Jungen hier eher groß.
"... nicht lange durchzuhalten."

Ja das wars soweit.

Viele Grüsse.

 

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