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Das Vogelmädchen

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23.09.2018
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Das Vogelmädchen

Das erste Mal sah ich sie in dem kleinen Bistro in meiner Straße. Das heißt, der Straße, in der ich damals lebte. Die ganze Geschichte ist jetzt schon viele Jahre her und ich habe sie vermutlich deshalb bisher nicht erzählt, weil sie doch zu eigenartig ist.
Wie gesagt, es war in diesem Bistro. Chez Chloé hieß es, aber alle nannten es einfach immer nur Chloé. Der Kaffee war ausgezeichnet und es gab Kleinigkeiten zu essen. Manchmal, wenn die Speisekammer meiner Studentenbude mal wieder leer war, ging ich gleich morgens zum Frühstück hinunter. Meist war ich jedoch abends da, trank ein Bier und schwatzte mit den anderen Studenten.
An jenem Abend saß ich jedoch allein an meinen Tisch, saß da und starrte durch die große Frontscheibe auf die Straße hinaus. Die Straße, in der das Chloé und meine Wohnung lagen, war eigentlich eher eine Gasse, die fast ausschließlich von Fußgängern genutzt wurde. Direkt gegenüber befand sich der Zugang zu einem Hof oder dergleichen, der durch ein schmiedeeisernes Tor versperrt war. Vor diesem Tor sah ich eine Person stehen. Zunächst glaubte ich, dass sie sich mit jemandem auf der anderen Seite unterhalten würde. Es war schon dämmerig und der Bereich jenseits der Pforte lag bereits im Dunkeln. Als die Gestalt jedoch beiseitetrat, fiel mehr von dem gelblichen Licht der Gaslaternen durch die schwarzen Gitter und ich konnte erkennen, dass niemand dort gestanden hatte.
„Das ist das Vogelmädchen“, sagte die Kellnerin, die, ohne dass ich es bemerkt hatte, an meinen Tisch getreten war. Die Gestalt vom Hoftor lief gerade direkt vor mir hinter der großen Glasscheibe vorbei. Sie trug einen langen dunklen Parka und hatte schulterlanges lockiges Haar. Ihr Gesicht sah ich nur für einen kurzen Moment. Sie mochte Anfang zwanzig sein, vielleicht ein wenig jünger. Hübsch, aber mit einem sonderbaren Zug, den ich nicht recht einzuordnen vermochte. Ich schaute ihr nach.
„Wer?“, fragte ich. Doch die Kellnerin war schon wieder verschwunden.

Es verging einige Zeit. Vielleicht nur Tage, vielleicht auch Wochen. Jedenfalls hatte ich das Vogelmädchen schon fast wieder vergessen, als ich sie eines Morgens – es war einer besagter Tage ohne Essen im Haus – selbst im Chloé sitzen sah. Sie saß allein an einem Tisch draußen und warf den Spatzen, die um ihre Füße herumhüpften, Krumen von ihrem Frühstück zu.
Für gewöhnlich war ich hübschen Mädchen gegenüber eher zurückhaltend, doch aus irgendeinem Grund trat ich an diesem Morgen an ihren Tisch und fragte, ob ich mich dazu setzen dürfe. Zwar schaute sie kurz irritiert – ich hatte durch mein Kommen die Spatzen verscheucht, was sie zu verunsichern schien – nickte dann aber lächelnd.
„Ich bin Falk. Ich dachte…“ Ich war wirklich nicht besonders geübt darin. „Dachte, vielleicht wäre ein wenig Gesellschaft ganz nett an so einem schönen Morgen.“
Sie lächelte. Die Rückkehr der Spatzen, die mich sitzend anscheinend nicht mehr als Bedrohung wahrnahmen, schien sie beruhigt zu haben. „Falk. Ein schöner Name. Ein Vogelname.“
„Stimmt. Und wie heißt du?“
Sie lächelte wieder und senkte dann rasch den Blick. „Verzeihung. Ich bin immer so unhöflich. Leonora heiß ich.“
„Auch ein schöner Name. Ein Löwenname.“
Immer noch hielt sie den Blick gesenkt. „Er bedeutet etwas anderes.“
Ich wartete darauf, dass sie fortfuhr, was sie jedoch nicht tat. Die Kellnerin kam und ich bestellte mir Frühstück.
Leonora, immer noch leicht verlegen lächelnd, immer noch schweigend, spielte unbeholfen mit ihren Fingern. Ich betrachtete sie. Wieder fiel mir die Eigenart in ihrem Gesicht auf, die ich bereits in besagter Nacht gesehen hatte. Doch auch jetzt konnte ich nicht wirklich sagen, worin diese bestand. Es war keine wirklich physiognomische Ausprägung, auch nichts in ihrem Ausdruck. Sie war hübsch. Das war sie ohne jeden Zweifel. Aber irgendetwas war nicht richtig.
„Du magst Vögel?“, sagte ich, einfach, um irgendetwas zu sagen.
Sie schaute mich an. „Ja sehr.“ Das Lächeln war wieder da und dieses Mal funkelte es auch in ihren Augen. „Ich liebe sie sehr. Du magst sie auch?“
Ich wollte antworten, aber sie kam mir zuvor. „Natürlich magst du sie. Ich bin manchmal fürchterlich dumm. Du hast ja selbst einen so schönen Vogelnamen. Wie könntest du sie nicht mögen.“ Ihre Sprachmelodie wirkte sonderbar – irgendwie altmodisch. So wie die Leute in alten Schwarzweißfilmen sprechen. „Sag mir, welcher ist dein Lieblingsvogel? Es ist der Falke, nicht wahr? Sicher ist er es.“ Ja, als hätte sie das Sprechen im Kino der 50er-Jahre gelernt.
„Ich mag sie alle gern“, entgegnete ich. Ihre plötzliche Eloquenz hatte mich ein wenig überrumpelt.
„Oh ja, alle! Alle lieb ich sie auch!“ Ihre Wangen röteten sich. Dann schaute sie wieder zu Boden. „Es tut mir leid. Ich wollte nicht ungehörig ausgelassen sein.“
„Schon gut. Es war nicht…“ Ungehörig ausgelassen?
Mein Frühstück kam. Ich fragte Leonora, ob sie noch etwas abhaben wolle. Sie schüttelte den Kopf. Trotzdem brach ich ein Stück meines Croissants ab, zerkrümelte es und legte es auf ihre Seite. Sie strahlte mich an und begann sogleich damit, es an die noch immer um ihre Füße herumhüpfenden Spatzen zu verteilen. So saßen wir da. Ich essend, sie Vögel fütternd.
Als ich mich erhob, um drinnen zu bezahlen, machte sie ebenfalls die Andeutung aufzustehen, setzte sich dann aber sofort wieder. Die Spatzen flatterten auf. „Du Falk?“
„Ja“
„Du hast Recht gehabt.“ Sie biss sich auf die Unterlippe. „Es war sehr nett. Die Gesellschaft mein ich.“ Ihre Finger kratzten am Tisch. „Vielleicht… Ich meine… Ich bin eigentlich jeden Morgen hier.“
„Dann also morgen“, sagte ich.

Am selben Tag nach der Vorlesung kamen ein paar Typen auf mich zu. Ich kannte sie vom Sehen. „Hey, warte mal.“, rief einer von ihnen. Er war nicht besonders groß, hatte sich sein pechschwarzes Haar zurückgegelt und trug braune Cordhosen mit Hosenträgern über einem weißen Hemd. „Du heißt Falk, oder?“
„Ja“
Einer der anderen Typen, der sich direkt hinter dem Kleinen aufgestellt hatte, starrte mich mit einer fast ehrfürchtigen Faszination an.
„Mein Kumpel hier sagt, er hätte dich heut Morgen mit dem Vogelmädchen gesehen“, erklärte der Kleine und stieß dabei den hinter ihm mit dem Ellenbogen an.
„Kann schon sein. Und?“
Der begeisterte Gesichtsausdruck des Typen hinter dem Kleinen hatte sich jetzt zu einem breiten und ungemein dämlichen Grinsen verzogen.
„Na ja…“, begann der Kleine.
„Hast du sie gefickt?“, platze es aus dem Kerl hinter ihm heraus, worauf er und die anderen verstreut um mich herumstehenden Typen in schallendes Gelächter ausbrachen. „Hat sie da unten Federn?“, prustete der Kleine zwischen erstickten Lachern hervor.
Vor meinem geistigen Auge sah ich meine Hand sich zur Faust ballen und erst in die lachende Visage des kleinen, dann in die des hinter ihm stehenden Typen donnern. Ich sah meine Knie und Ellenbogen in die Magengruben der anderen hageln. Sah sie Blut und Zähne spucken. Sah mich die Ehre dieses seltsamen Mädchens, das ich kaum kannte, verteidigen. Und wenn das Leben ein Film wäre – einer von der Sorte, in der die Guten immer das Richtige tun und die Bösen immer das bekommen, was sie verdienen – hätte ich es getan.
Ich verzog das Gesicht und ging nach Hause.

Als ich Leonora am nächsten Morgen vor dem Chloé traf, trug sie Lippenstift, was am Vortag nicht der Fall gewesen war. Die Farbe war ein wenig zu knallig für ihr Gesicht. Sie lächelte mich an – ein Lächeln, bei dem sich die äußersten Spitzen der Mundwinkel ein winziges bisschen nach unten bogen und das trotzdem doch ein Lächeln war – ein Falschrumlächeln. In ihrem zu großen Parka, dessen Ärmel ihr vollständig über die Hände reichten, sah sie aus wie ein Kind, das im Spiel den Mantel des Vaters trug. Wie ein Kind, dachte ich und spürte das Bedürfnis in mir aufsteigen, die Typen vom Vortag zu suchen und ihnen doch wirklich und wahrhaftig die Fresse zu polieren.
„Guten Morgen“, sagte ich.
„Guten Morgen“, sagte sie.
Wir setzten uns an den gleichen Tisch wie tags zuvor. Kaum, dass wir platzgenommen hatten, kamen die Spatzen herbeigeflattert und hüpften um Leonoras Beine. Mich schienen sie völlig zu ignorieren. Leonora griff in eine der großen ausgebeulten Taschen ihres Parkas und förderte eine Ladung Körner zutage, die sie aus der im Ärmel verborgenen Hand zu Boden rieseln ließ. Die Vögel, die anscheinen nur darauf gewartet hatten, machten sich sogleich laut tschilpend darüber her. „Sie benehmen sich gerade so, als hätten sie seit Wochen nichts bekommen“, erklärte sie und lächelte ihr Falschrumlächeln. Dabei fiel mir wieder die Eigenart in ihrem Gesicht auf, die ich jedoch noch immer nicht eindeutig zu fassen vermochte.
Wir bestellten beide ein einfaches Frühstück, das wir größtenteils schweigend zu uns nahmen. Es war kein unangenehmes Schweigen, eher eine stille Übereinkunft. Sie warf ab und an den Spatzen etwas zu. Ich klimperte mit meinem Löffel in der Kaffeetasse herum und fragte mich, was an ihrem Gesicht mir so sonderbar erschien.
Als wir uns schließlich voneinander verabschiedeten, schlug ich ihr vor, dass wir uns doch vielleicht am Abend wieder hier treffen könnten, auf ein Bier oder was immer sie gern trinke. Dieser Vorschlag schien sie vollkommen aus dem Gleichgewicht zu werfen. Sie wandte den Kopf von einer zur anderen Seite, in die Luft und auf den Boden, stammelte: „Das… Ich kann nicht. Ich muss…“
Dann lief sie eilig davon. Ich machte keine Anstalten, ihr zu folgen, war meinerseits irritiert von ihrer Reaktion. Doch in diesem Moment fiel es mir ein – die Sache mit ihrem Gesicht. Es war nicht etwas gewesen, das da war und das mich störte, sondern etwas, das nicht da war. Es waren ihre Augen. Sie hatte sie kein einziges Mal bewegt. Zumindest glaubte ich das. Wann immer sie etwas betrachtete, hatte sie den gesamten Kopf darauf gerichtet. Und als sie mir eben zu verstehen gegeben hatte, dass sie nicht mit mir ausgehen wolle, da war sie ihren hektischen Kopfbewegungen meinem Blick ausgewichen. Vogelmädchen, dachte ich, während ich ihr nachschaute.

Als ich an diesem Abend allein ins Chloé ging, saß ich wieder an dem Tisch, von dem aus ich sie zwei Tage zuvor das erste Mal gesehen hatte. Leonora in ihrem zu großen Parka. Leonora mit ihren dunklen Locken. Leonora, das Vogelmädchen.
Ich war frustriert, bestellte mir ein Bier nach dem anderen. Als irgendwann kurz vor Mitternacht ein Haufen laut durcheinander redender und lachender Typen auftauchte und ich zum einen feststellte, dass der Kleine und der andere Idiot unter ihnen waren und zum anderen, dass ich trotz meines Vorsatzes am Morgen und trotz meines sicher nicht unerheblichen Pegels nicht zu ihnen hinübergehen und ihnen die Fresse polieren würde, stieg ich auf Whiskey um.
Die Schwachköpfe hatten sich in den hinteren Teil des Lokals verzogen, von wo ich sie noch immer grölen hörte. Ich glaubte nicht, dass sie mich gesehen hatten und falls doch, hatten sie offensichtlich kein Interesse an mir. Ich nippte an meinem zweiten oder dritten Glas Jack Daniels und starrte zu dem schmiedeeisernen Tor hinüber. Leonora mit ihren zu roten Lippen. Leonora mit ihrem Falschrumlächeln. Leonora…
Stand da. Sie stand im gelben Licht der Gaslaterne, schaute sich um und schlüpfte dann durch das schmiedeeiserne Tor.
Ich sprang auf, warf einen zufälligen Betrag Geld auf den Tisch und stolperte zur Tür. Als ich an die Luft trat, spürte ich, wie der gesamte Alkohol, den ich über den Abend in mich hineingegossen hatte, mir auf einen Schlag in den Schädel schoss. Ich taumelte zur Seite, lehnte mich gegen die Hauswand, wartete. Wie ein durch zu plötzliches Aufstehen hervorgerufener Schwindel legte sich das Gefühl nach wenigen Sekunden wieder. Und obwohl ich alles andere als nüchtern war, huschte ich mit wenigen schnellen geraden Schritten zu dem Tor auf die andere Straßenseite hinüber, fand es unverschlossen und schlüpfte ebenfalls hindurch.
Wie vermutet, fand ich mich in einem kleinen verwilderten Innenhof wieder. Es fiel gerade genug Licht von der Straße herein, um sich orientieren zu können. Dunkle Sträucher umrahmten das schmale Atrium. Die Backsteinmauern der Häuser zu beiden Seiten waren mit Wein und Efeu berankt, die im leichten Nachtwind leise rauschten. In der Mitte stand ein knorriger alter Baum. Darunter eine verfallene Bank.
Ich überquerte den Hof. Im Schatten des Baums lag eine verwitterte Holztür. Hierein musste sie verschwunden sein. Ich legte meine Hand auf die kühle Klinke. Auch diese Pforte war unverschlossen. Ich trat ein.
Tatsächlich war es in dem verfallenen Treppenhaus, in dem ich mich jetzt befand, heller als in dem Hof. Ein großes vollkommen verstaubtes Fenster schimmerte golden-braun gegenüber der Wand, an der sich eine architektonisch durchaus eigenwillige Treppenkonstruktion befand. Die Stufen liefen nicht wie gewöhnlich, sich durch den Raum emporhebend, an allen vier Wänden entlang, sondern, vergleichbar mit einer Feuerleiter, über mehrere von Geländern umgrenzten Plattformen an eben nur dieser einen.
Ich erklomm die Stufen, wobei ich darauf achtete, möglichst weit am Rand zu laufen, um Geräusche zu vermeiden. Die Türen auf den unteren Stockwerken waren vernagelt. Als ich jedoch zur obersten und letzten gelangte, fand ich sie nur angelehnt. Auf der anderen Seite konnte ich leise Stimmen vernehmen. Eine von ihnen gehörte Leonora. „Sei nicht töricht! Du weißt genau, dass das nicht geht.“ Die andere, ebenfalls eine weibliche Stimme, der Leonoras nicht unähnlich, jedoch ein wenig höher und kehliger protestierte: „Aber ich habe Durst!“
Ich spähte durch den schmalen Türspalt. Ich sah Leonora, den Rücken der Tür zugewandt in einem kleinen, von Kerzen erleuchteten Raum stehen. Die andere Person konnte ich nicht ausmachen.
„Ich habe dir Wasser gebracht.“
„Mag kein Wassern! Will von dem Roten!“
„Das kommt nicht infrage. Du weißt, was das letzte Mal passiert ist, als –“ Es polterte. Leonoras Stimme verstummte. Ich erschrak. Das Poltern kam nicht von der anderen Seite der Tür, sondern von unten. Ich drehte mich um und schaute hinab. Zwei Gestalten standen in der Tür zum Treppenhaus. Sie sprachen kurz miteinander – ich konnte nicht verstehen, was –, dann begannen sie, die Treppe emporzurennen.
Durch den Spalt konnte ich sehen, wie Leonora in Richtung Tür gelaufen kam. Die Schritte von unten näherten sich rasch. Mein Herz pochte. Wie erstarrt stand ich da und wusste nicht, was ich tun, in welche Richtung ich mich wenden sollte. Ich sah die beiden Gestalten – im schwachen Licht konnte ich nur ihre Umrisse erkennen – gerade auf der Treppe erscheinen, da entschieden sich meine Beine für die Flucht durch die Tür. Ich machte mir nicht die Mühe, nach der Klinke zu greifen, sondern rannte einfach geradewegs hindurch.
Die Tür schlug nach innen auf, brachte damit Leonora zu Fall und diese wiederum mich, der sie halb aufzufangen und halb sich an ihr festzuhalten versuchte. Ich landete auf dem Rücken, sodass ich genau in Richtung Tür schaute. Dort erkannte ich im Kerzenschein, der die gesamte Dachkammer in ein flackerndes Orange hüllte, die zwei Gestalten. Es waren der Kleine und der andere. Auf ihren Gesichtern stand blankes Entsetzten. Ihr Blick schien auf etwas gerichtet, das sich hinter mir befinden musste. Ihre Münder waren leicht geöffnet, die Augen weit aufgerissen.
„Was in drei Teufels Namen…“, stammelte der Kleine. Der andere machte einen vorsichtigen Schritt rückwärts. Leonora rappelte sich wieder auf die Beine, starrte zuerst auch hinter mich, dann auf die zwei in der Tür.
„Meine Schwester ist sehr krank!“, rief sie mit brüchiger Stimme, aus der teils Angst, teils Kränkung zu sprechen schien.
Der größere Typ machte noch zwei langsame Schritte rückwärts. Der Kleine stand einfach nur da.
Hinter mir hörte ich ein kurzes Tippeln, gefolgt von einem Rascheln, als würde jemand einen großen Strauß Trockenblumen schütteln. Dann ertönte ein gellender Schrei, der nur sehr wenig mit einer menschlichen Stimme gemein hatte. Ein einziges verzerrtes Wort. „Rooot!“
Leonora warf den Kopf herum, starrte hinter mich, starrte auf mich. „Nein!“ Sie stürzte in meine Richtung. „Nein, nicht ihn!“ Sie warf sich auf mich, drückte mich zu Boden.
Aus dem Augenwinkel sah ich etwas vorbeihuschen. Es war groß und weiß und auch, wenn ich es nicht mit Sicherheit erkennen konnte, würde ich doch schwören wollen, dass es Federn hatte. Ich hörte ein Rumpeln, Schreie, Rennen, einen letzten Schrei, schmatzendes Saugen. Dann verschwand die Welt um mich herum.

Ich erwachte am nächsten Vormittag auf meiner Couch. Mein Schädel schmerzte entsetzlich. Zwar langsam, aber bis zu dem Punkt meiner Ohnmacht lückenlos, kehrte die Erinnerung – aber war es tatsächlich Erinnerung? – an die Geschehnisse der Nacht zurück.
Ich setzte mich auf, rieb mir die Schläfen. Ich dachte an den verwilderten Hof, das Treppenhaus, die Dachkammer. Dachte an Leonora und die zwei Typen aus der Uni. Dachte an das Ding – meine Schwester ist sehr krank! – mit den weißen… Federn? War das alles wirklich passiert? War irgendetwas davon passiert? Hatte ich im Rausch geträumt?
Ich stand auf, um mir ein Glas Wasser und ein Aspirin zu holen. Auf halbem Weg in die Küche blieb ich stehen. Das große Fenster stand sperrangelweit offen. Für gewöhnlich öffnete ich nur einen der zwei Flügel zum Lüften. Vielleicht war mir gestern Abend übel gewesen, ich hatte es im Suff aufgerissen, war eingeschlafen… Ich starrte hinaus. Die Wohnung, die sich heute vermutlich kein Student mehr leisten könnte, lag im vierten Stock des Altbaus. Einige der benachbarten Häuser waren niedriger und man konnte auf ihre roten Ziegel- oder schwarzen Teerpappedächer hinabschauen. Auf einem von ihnen saß ein Schwarm kleiner dunkler Vögel.
Ohne recht zu wissen warum – oder besser gesagt, ohne mir recht eingestehen zu wollen warum – ging ich zur Wohnungstür. Sie war von innen verschlossen. Der Schlüssel hing nicht wie gewöhnlich an seinem Nagel neben der Tür, sondern steckte. Ich drehte ihn herum, verließ die Wohnung und ging hinunter ins Chloé.
„Leonora?“
Die Kellnerin hob die Brauen.
„Ist sie heute Morgen hier gewesen?“
Sie zuckte mit den Schultern. „Wer?“
„Das Mädchen, das immer die Vögel füttert. Sie frühstückt immer hier. War sie heute da?“
„Ach so, die. Nein, die war heute nicht hier.“
Mein Blick wanderte zu dem Hoftor hinüber und das dahinterliegende Gebäude empor. Die Vormittagssonne spiegelte sich in dem großen Treppenhausfenster. Die gleißenden Strahlen stachen schmerzend durch meine Augen direkt in mein dumpf pochendes Hirn.
„Verstehe, danke“, stammelte ich und ging auf die schmiedeeiserne Pforte zu.
Wie in der Nacht zuvor war sowohl diese als auch die Tür zum Haus unverschlossen. Mit banger Hast eilte ich die Treppen hinauf. Die Tür zur Dachkammer war nur angelehnt. Ich trat ein. Bis auf einen wachsbefleckten Tisch und ein matratzenloses Metallbettgestell war das Zimmer leer. Vor einem großen geöffneten Fenster, dessen Scheibe mit vergilbtem Zeitungspapier abgeklebt war, wirbelten Staubkörner im gelben Sonnenlicht.
Ich schlurfte zu dem Bettgestell hinüber, betrachtete es einen Moment lang und wendete mich zum Gehen um. Dabei fiel mein Blick auf einen großen dunklen Fleck auf dem Dielenboden. Etwas in meinem Magen wurde zuerst sehr leicht – Mag kein Wassern! –, im nächsten Augenblick sehr schwer – Will von dem Roten! Ich sprang über den dunklen Fleck – Rooot! – hinweg, stürmte durch die Tür, die Treppen hinunter, durch den Hof und zurück auf die Straße. Mein Schädel dröhnte und obwohl ich mich liebend gern übergeben hätte, konnte ich es nicht. Ich ging zurück nach Hause, legte mich ins Bett und schlief bis die Sonne untergegangen war.
Das ist so ziemlich die ganze Geschichte. Ich hatte ja gesagt, dass sie eigenartig ist. Ob ich sie wiedergesehen habe? Nein. Nur manchmal träume ich von ihr und… Aber lassen wir das. Das ganze lange Erzählen hat mich nämlich doch recht durstig gemacht.

 

Hallo @fuzzbian
und herzlich Willkommen bei den Wortkriegern! Ich selbst bin auch noch neu hier, vergib mir also mögliche Fehler oder Dummheiten in meiner Kritik :)
Also zuerst einmal das Positive: obwohl Horror absolut nicht mein Genre ist, habe ich deine Geschichte sehr gerne gelesen. Sie war fesselnd und mysteriös genug, um mich in ihren Bann zu ziehen. Dein Schreibstil ist schön flüssig und man merkt, dass du wohl einiges an Arbeit reingesteckt hast.

Deine Zeitstufe hältst du meistens durch, bemerkt habe ich am Ende nur diesen einen Fehler:

Ich starre hinaus.
Auch deine Rechtschreibung und Zeichensetzung ist recht gut, gesehen habe ich eigentlich nur Flüchtigkeitsfehler, wie bspw.:
doch schwören wollen, dass es Fendern hatte.

Dafür finde ich deine Wortwiederholungen teilweise etwas störend, in diesem Abschnitt zum Beispiel sehe ich das Wort "Tor" ein paar Mal zu häufig ...
Direkt gegenüber befand sich der Zugang zu einem Hof oder dergleichen, der durch ein schmiedeeisernes Tor versperrt war. Vor diesem Tor sah ich eine Person stehen. Zunächst glaubte ich, dass sie sich mit jemandem auf der anderen Seite des Tors unterhalten würde. Es war schon dämmerig gewesen und alles jenseits des Tors lag bereits im Dunkeln. Als die Gestalt vor dem Tor jedoch beiseitetrat, fiel mehr von dem gelblichen Licht der Gaslaternen durch die schwarzen Gitter des Tors und ich konnte erkennen, dass niemand dort gestanden hatte.
„Das ist das Vogelmädchen“, sagte die Kellnerin, die, ohne dass ich es bemerkt hatte, an meinen Tisch getreten war. Die Gestalt vom Hoftor lief gerade direkt vor mir hinter der großen Glasscheibe vorbei.
Ich sehe ein, dass es keinen richtigen Ersatz für das "Tor" gibt, denn die "Tür" macht gleich einen ganz anderen Eindruck und "Portal", klingt immer so nach Fantasy. Versuch es aber vielleicht mit "Pforte", wenn das in deine Vorstellung hereinpasst.

Die Farbe war ein wenig zu knallig für ihr Gesicht und obwohl sie sorgsam aufgetragen worden war, vermutete ich, dass sie nicht sonderlich viel Übung darin besaß.
Hier bin ich mir nicht ganz sicher, was du damit meinst. Wenn der Lippenstift sorgfältig aufgetragen worden ist, kann es eigentlich nicht ungeübt aussehen. Ausnahme: Falk würde Leonora schon sehr lange kennen und wissen, dass sie nie Lippenstift trägt und könnte deshalb eine Aussage darüber machen, wie geübt sie darin ist …

Ich sah meine Knie und Ellenbogen in die Magengruben der anderen hageln. Sah sie Blut und Zähne spucken. Sah mich die Ehre dieses seltsamen Mädchens, das ich kaum kannte, verteidigen. Und wenn das Leben ein Film wäre – einer von der Sorte, in der die Guten immer das Richtige tun und die Bösen immer das bekommen, was sie verdienen – hätte ich es getan.
Meiner Meinung nach eine sehr schöne Formulierung :)

Ein großes vollkommen verstaubtes Fenster schimmerte golden-braun gegenüber der Wand, an der sich eine architektonisch durchaus eigenwillige Treppenkonstruktion befand. Die Stufen liefen nicht wie gewöhnlich, sich durch den Raum emporhebend, an allen vier Wänden entlang, sondern, vergleichbar mit einer Feuerleiter, über mehrere von Geländern umgrenzten Plattformen an eben nur dieser einen.
Ist für mich nicht wirklich relevant und stört eher, da sich einem die Beschreibung nicht sofort erschließt. Vielleicht hat das ja mit meinem mangelnden Fähigkeiten im Räumlichen Denken zu tun, aber für mich ist dieser Absatz unnötig.

Das Poltern kam nicht von der anderen Seite der Tür, sondern von unten. Ich drehte mich um und schaute nach unten.
Da "unten" hier jetzt zweimal am Satzende steht, klingt es schon nach einer ziemlichen Wiederholung. Würde ich umformulieren.

Die Tür schlug nach innen auf, brachte damit Leonora, die sie gerade verschießen wollte, zu Fall und diese wiederum mich, der sie halb aufzufangen und halb sich an ihr festzuhalten versuchte.
Mir wirft man immer die verschachtelten Sätze vor, also mache ich hier mal dasselbe :) Gerade den letzten Teil musste ich dreimal lesen, um ihn zu verstehen. Kann entweder ganz raus oder muss irgendwie durch einen Punkt vom Rest des Satzes getrennt werden.

Und jetzt das Ende.

aber war es tatsächlich Erinnerung?
Diese Frage habe ich mir auch gestellt. Wie gesagt, Horror ist nicht mein Genre und vermutlich kenne ich mich nicht genug aus, um das Ende wirklich beurteilen zu können.
Meine Vermutung ist (und ich nehme gerne virtuelle Schläge in Kauf, wenn ich vollkommen daneben liege), dass Falk irgendwie (durch den Biss von Leonoras Schwester vielleicht?) auch zum Vogel geworden ist und so durch das offene Fenster gekommen/geflogen ist. Oder ist nur Leonora halb Vogel, konnte ihn vor ihrer Schwester retten und nach Hause bringen? Hat er sich das Ganze nur eingebildet/es geträumt?
Vielleicht siehst du, was ich meine: dein Ende ist nicht eindeutig (was möglicherweise auch so gewollt ist), aber das nimmt dem Ganzen ein bisschen die Auflösung. Das, wofür ich die Geschichte bis zum Ende gelesen habe. Ein bisschen Spekulation ist gut und gerade bei Kurzgeschichten gehört es wohl dazu, aber hier fehlt mir irgendetwas. Außerdem ist mir noch nicht so ganz klar, was die beiden Jungs zur gleichen Zeit dort vorhatten, denn offensichtlich waren sie von dem Anblick ja ebenso überrascht wie Falk. Dass sie sich über ein seltsames Vogelmädchen lustig machen, erschließt sich mir, aber die Aktion in dem verlassenen Haus nicht mehr.

Ich hoffe, ich konnte dir ein bisschen helfen/dir ein paar Anregungen geben. Für eine erste Geschichte war diese hier ziemlich gut und ich sehe durchaus Potential! Vielleicht verstehst du ja, was ich mit meiner letzten Kritik gemeint habe und erklärst mir entweder das Ende, weil ich es einfach nicht gerafft habe oder änderst ein bisschen was.
Liebe Grüße,
StoryTraveller

 

Hallo @StoryTraveller,

allerbesten Dank für Kritik und Lob (kein Grund sich dabei selbst der "Dummheit" zu schelten ;))!

Ich geh Mal nicht auf alles ein.

Dir Tor-Sache ist mir selbst beim Drüberlesen, als ich's hier gepostet hab, aufgefallen. Da werd ich schauen, was ich tun kann.

Mit dem Lippenstift geb ich dir auch recht. Das ergibt so, wie es jetzt da steht wenig Sinn.

Dass die Treppenhausbeschreibung ein wenig umständlich daherkommt, stimmt wohl auch. Dabei hab ich mich da schon arg reduziert bei der Überarbeitung der Rohfassung :hmm: Vielleicht ist es dann eher angebracht ein paar mehr Worte zur Beschreibung zu verlieren. Rausnehmen will ich es nämlich nicht, was den vielleicht etwas exzentrischen Grund hat, dass das Treppenhaus als Ort des Übergangs zwischen verschiedenen Welten (z.B. zwischen der "normalen" Außenwelt und einer Welt, in er es seltsam anthropomorphe Vogelwesen gibt) für mich persönlich eine starke Symbolkraft hat.

Was die Schachtelsatzerites angeht: Ja, das wurde bei mir auch schon in frühster Kindheit diagnostiziert und trotz Bemühung zur Besserung, wird man das, zumindest nach heutigem Stand der Forschung und von dem muss man wohl immer ausgehen, wenn man sich denn nicht in Spekulationen verlieren will, niemals vollständig kurieren, sondern nur zeitlebens die Symptome bekämpfen können. ;)

Zum Ende: Die Unsicherheit, was "wirklich" passiert ist, ist natürlich beabsichtigt. Die von mir intendierte Andeutung war, dass Leonora ihn nach Hause gebracht hat und dann durchs Fenster davon geflogen ist. Es freut mich, aber sehr, dass du dir noch eigene Gedanken zu gemacht hast. :) Andererseits verstehe ich auch das Verlangen nach einem "richtigen" Ende. Wobei ich immer das Gefühl habe, dass ein explizit gelüftetes Geheimnis auch irgendwie unbefriedigend ist. Aber vielleicht bekomme ich das ja trotzdem noch "knackiger" hin.

 

Hi @fuzzbian
willkommen bei den Wortkriegern. Ein sehr schöner Einstand. Ich fand die Geschichte gut geschrieben, von ein paar Formulierungen abgesehen. Sie war spannend und hat sich gut entwickelt, bis auf das Ende.
Da muss ich @StoryTraveller Recht geben. Das Ende hat auch mich unbefriedigt zurück gelassen. Ich habe mir zwar gedacht, dass das Vogelmädchen ihn zurück gebracht hat, aber für mich bleiben dafür andere Fragen offen: was für ein Vogel ist die Schwester? Wie passiert die Verwandlung und vor allem, wie geht es weiter mit dem Erzähler und dem Vogelmädchen. Sie scheinen sich ja beide zu mögen und ständig über den Weg zu laufen. Außerdem weiß ja anscheinend schon jeder, dass sie ein Vogelmädchen ist, also reicht es für mich nicht, dass sie sich in einen Vogel verwandelt. Vielleicht fällt dir noch etwas ein, wie du die Geschichte am Ende runder bekommst. Weil es sich wirklich lohnen würde.
Grüße von Snowmaid

 
Zuletzt bearbeitet:

Danke @Snowmaid!

Ich habe das Ende nun nochmal überarbeitet, bzw. eigentlich eher die Geschichte zuende erzählt. Die Kritik hat mich zu der Einsicht gebracht, dass die Geschichte einfach noch auserzählt war. Zwar bleibt mit dem neuen Ende sicher immernoch einiges offen, aber zumindest für mich fühlt sich das jetzt runder an.

Besonderen Dank auch nochmal an @StoryTraveller für die Anregung, dass Falk selbst sich vielleicht "verändert" hat.

 

Hey @fuzzbian

Also ich habe deine Geschichte jetzt nochmal von vorne bis hinten durchgelesen und mir ein paar Notizen gemacht. Aber das Gute zum Anfang: mein wichtigster Kritikpunkt, nämlich das Ende, ist sehr viel besser geworden. Du hast recht, die Geschichte wirkt jetzt runder und irgendwie zu Ende erzählt. Dass wir nie erfahren werden, wie es mit Falk und Leonora weitergeht, ist natürlich schade, aber wohl in der Natur der Sache :)
Beim nochmaligen Durchlesen sind mir vor allem grammatikalische Fehler und Kleinigkeiten aufgefallen, die ich einfach aufliste. Ist aber was Gutes, dass mir sonst kaum Kritik einfällt, denn Tippfehler machen wir alle.
Also:

schwatze mit den anderen Studenten.
Tempusfehler.

An jenem Abend saß ich jedoch allein an meinen Tisch, saß da
Wiederholung von "saß". Kleinlich, ich weiß :)

der Bereich jenseits Pforte lag bereits im Dunkeln.
1. Yay, du hast meinen Tipp umgesetzt! 2. Hier fehlt der Artikel. Jenseits der Pforte.

ich hatte durch mein Kommen die Spatzen verscheucht, was zu verunsichern schien
Was sie zu verunsichern schien.

Es der Falke, nicht wahr?
Es ist der Falke … ich komme mir vor wie ein Deutschlehrer und das tut mir wirklich leid. Ich dachte mir, nur wenn es mir schon auffällt, sage ich es dir lieber auch gleich :)

Als ich Leonora am nächsten Morgen vor dem Cholé traf
Chez Chloé

Es waren ihre Augen. Sie hatte sie kein einziges Mal bewegt gehabt.
Bewegt gehabt … kein Hochdeutsch. Für gewollten Dialekt okay, aber da der Rest des Textes auf Hochdeutsch ist, passt es hier nicht rein.

Als ich an diesem allein Abend ins Chloé ging, saß an dem Tisch, an dem ich sie zwei Tage zuvor das erste Mal gesehen hatte.
Wenn du diesen Satz so wie ich zehn Mal langsam liest, fällt dir auf, dass er keinen Sinn ergibt.

Und das war's an nervigen Verbesserungen! Kommen wir nun noch einmal zum überarbeiteten Ende: wie gesagt, schon sehr viel besser!
Du bist bewusst nochmal auf den Anfang der Geschichte eingegangen, was sehr gut ist, aber dabei ist mir eine Sache aufgefallen.
Wenn diese von Falk erzählte Geschichte schon viele Jahre her ist und er sich selbst aber auch irgendwie in Richtung Vogel verändert hat, müsste doch in dieser Zwischenzeit irgendwas passiert sein. Hat er gemerkt, dass er langsam zum Vogel wird?
Keine Ahnung, ob du verstehst, was ich meine, aber bei einer Veränderung an sich selbst würde er das Ganze vielleicht weniger als "eigenartig" betrachten, sondern eher als ziemlich gruselig.
Damit will ich gar nicht sagen, dass du das Ende ändern sollst, sondern nur, dass die ganze Geschichte für ihn am Anfang noch nicht so lange her sein sollte. Da kannst du auch das Tempus beibehalten, denn sie spielt ja trotzdem in der Vergangenheit, aber vielleicht sollten keine Jahre zwischen dem Ereignis und seiner Erzählung liegen.
Wie gesagt, ich hoffe, ich drücke mich verständlich genug aus.

Liebe Grüße,
StoryTraveller

 

Hey @StoryTraveller,

zunächst nochmals tausend Dank, dass du dir die Mühe gemacht hast, alles ein zweites Mal zu lesen, für das umfangreiche Feedback und die Hinweise auf die "Flüchtigkeitsfehler"!

Es freut mich natürlich auch sehr, dass das neue Ende gut angekommen ist. Mit den verbleibenden Uneindeutigkeiten bin ich eigentlich auch ganz zufrieden. Wer weiß, was "wirklich" mit Falk los ist? Wer weiß, ob er das selbst so ganz genau weiß? Vielleicht erzählt er diese Geschichte auch gar nicht wirklich das erste Mal, sondern allabendlich irgendeinem Fremden oder einer Fremden kurz bevor er ihn oder sie aussaugt, nach Hause flattert und am nächsten Morgen mit einem Flimriss aufwacht. Vielleicht ist auch überhaupt nichts mit ihm und es ist einfach nur eine "eigenartige" Geschichte.

Die vampirschen Vogelschwestern selbst sind übrigends der Erzählung "Die Schwestern" von Leonora Carrington entlehnt. Auch eine eigenartige Geschichte. ;)

 

Hi @fuzzbian,
das Ende soll mehr erklären, aber eigentlich tut es das nicht. Falk sieht nur am Tag, was er bei Nacht und betrunken auch schon mitbekommen hat. Durch das Tageslicht geht das Mystische etwas verloren. Die Frage, war es ein Traum oder ist es real, wird beantwortet. Das war aber nicht das, was mir gefehlt hat. Was ich mir gewünscht hätte, wäre eine Idee, was Leonora und ihrer Schwester für Wesen sind. Dabei meine ich nicht, dass du das bis ins Letzte erläutern sollst. Nur ein paar weitere Andeutungen wären schön. So weiß ich nur, dass zumindest die Schwester ein weißer, fleischfressender Vogel ist und selbst L. das krank findet. Davon würde ich mir gerne ein intensiveres Bild machen können. Was mir am neuen Ende gefällt, ist, dass jetzt klar ist, dass die Beiden weg sind, dass Falk L. nicht wiedergesehen kann. Aber dafür ist das Ende zu lang. Warum muss Falk noch Mal ins Chloe? Das könntest du abkürzen. Also ich finde es auf jeden Fall besser, aber für mich immer noch nicht ganz befriedigend.
Sorry
Snowmaid

 

Hey @Snowmaid,
danke fürs Feedback zum neuen Ende! :)

Ich versteh, was du meinst. Allerdings finde ich weniger Wissen in diesem Falle besser. Ist eine Geschmacksentscheidung, aber ich selbst mag es häufig lieber, wenn die Andeutungen des "Andersweltlichen" so vage wie möglich bleiben. Es geht mir eher darum, die Ahnung zu erzeugen, dass da irgendetwas ist, das sich mit dem "normalen" Weltbild nicht vereinbaren lässt, etwas Seltsames und Unheimliches. Meist finde ich, dass eine Geschichte diesen Schauer verliert, sobald eine eigene Dämonologie aufgemacht wird – Wesen X kann das und das, hat diese und jene Schwächen und ernährt sich von dem und dem. Mir ist klar, dass du das auch nicht gemeint hast, aber ich will so wenig wie möglich überhaupt in diese Richtung gehen.

Dass Falk nochmal ins Chloé geht, kann eigentlich raus. Da hast du recht. Werde ich bei der nächsten Überarbeitung vermutlich machen.

Die Rückkehr in die Dachkammer bei Tag hingegen mag ich persönlich, weil sie eigentlich auch nicht klärt, was wirklich geschehen ist, sondern nur Reflexionsfläche für Falks vermeintliche Erinnerungen bietet. Es ist ein profaner Raum, vielleicht nur eine verlassene Abstellkammer. Es gibt einen dunklen Fleck auf dem Boden. Nichts wirklich Beunruhigendes. Den Schrecken erhält sie erst durch die Erinnerung (real oder nicht) an ein Wort, dessen Bedeutung (wenngleich naheliegen) bloß assoziert ist. Die Dachkammer bietet Falk sozusagen die Möglichkeit, sich die Dinge bei Licht zu besehen. Doch zu sehen gibt es dort nichts. Das Grauen ist nicht da draußen, sondern in ihm selbst.
Vielleicht überinterpretiere ich da aber auch meinen eigenen Text. :hmm:

Schade, dass dich das Ende so immer noch nicht ganz befriedigt hat. Vielleicht lass ich das nochmal ein wenig in mir gären und vielleicht kommt ja nochmal was bei rum.

Dank dir jedenfalls für deine Auseinandersetzung!

 
Zuletzt bearbeitet:

Ich muss vorausschicken, fuzzbian, dass ich sozusagen versehentlich in die Geschichte gestolpert bin. Hab nämlich nicht auf die Stichworte geschaut und einfach zu lesen begonnen, und weil mir der Anfang gefallen hat, bzw. vielversprechend erschienen ist, hab ich weitergelesen. Dachte, das wird jetzt so eine schräge Romanze - ein schüchterner Student und ein bekifftes Hippiemädchen oder so.
Dass ich es mit Mystery-Kram zu tun bekomme - mit dem man mich üblicherweise echt jagen kann - hab ich einfach zu spät gemerkt. Na ja, was soll’s hab ich mir gedacht, jetzt bin ich schon so weit, les ich’s halt fertig.
Was ich sagen will: Zum Inhalt kann und will ich dir nicht viel sagen, also eigentlich gar nix, weil ich mit so paranormalen Krempel genau nix anfangen kann.

Aber zumindest die paar sprachlichen Hoppalas, die mir aufgefallen sind, kann ich dir zeigen:

Das erste Mal sah ich sie in dem kleinen Bistro in meiner Straße. Das heißt der Straße, in der ich damals lebte.
Das haut so nicht hin. Sinngemäß steht die Ellipse ja für:
Das heißt, ich sah sie in der Straße, in der ich damals lebte.
Und so ausgeschrieben fällt natürlich sofort auf, dass nicht nur ein Komma hinter „heißt“ hingehört, sondern auch die Präposition „in“ wiederholt werden müsste.
Jetzt hast du aber schon im ersten Satz zweimal „in“ drin und im folgenden Relativsatz gleich noch eines. Da war dir ein viertes „in“ einfach zu viel, vermute ich jetzt einfach mal.
Allerdings stellt sich mir die Frage, ob’s diesen Zusatz überhaupt braucht:
… in meiner Straße. Das heißt, in der Straße, in der ich damals lebte.
Wenn jemand von seiner Straße spricht, geh ich in den seltensten Fällen davon aus, dass das Possessivpronomen andeuten soll, der Typ sei der Eigentümer der Straße. Wo du obendrein nur zwei Zeilen später sowieso schreibst:
Die Straße, in der das Chloé und meine Wohnung lagen,

Es war schon dämmerig gewesen und der Bereich jenseits der Pforte lag bereits im Dunkeln.
Warum plötzlich PQP?
als ich sie eines Morgens – es war einer besagter Tage ohne Essen im Haus – selbst im Chloé sitzen sah.
Er sah selbst? Oder sie saß selbst? Egal. In beiden Fällen nämlich ist das Pronomen völlig unnötig.
… und warf den Spatzen, die um ihre Füße herumhüpften[,] Krumen von ihrem Frühstück zu.
Die Gestalt vom Hoftor lief gerade direkt vor mir hinter der großen Glasscheibe vorbei.
[…]
doch aus irgendeinem Grund trat ich an diesem Morgen direkt an ihren Tisch
direkt ist die kleine Schwester von komplett und eigentlich. Genauso unattraktiv und genaugenommen so gut wie eigentlich immer gewissermaßen sozusagen quasi gleichsam komplett entbehrlich. :D

und fragte, ob ich mich dazu setzen dürfte.
Besser Konj. I: dürfe
„Dachte[,] vielleicht wäre ein wenig Gesellschaft ganz nett an so einem schönen Morgen.“
Oh ja, alle! Alle lieb ich sie auch!“
Ist das Absicht, dass sie hier so … äh, radebrecht? Oder die übersehene Folge eines Überarbeitungsschrittes?
ein winziges Bisschen [bisschen]
Auch wenn’s wie ein Substantiv ausschaut: bisschen ist ein Pronomen (ein Indefinitpronomen, um genau zu sein) und wird dementsprechend immer kleingeschrieben. (Sofern es nicht am Satzanfang steht oder als der Diminutiv von Biss oder Bissen gemeint ist.)
In ihrem zu großen Parka, dessen Ärmeln [Ärmel]
kamen die Spatzen herbeigefalttert
Siehste selber, oder?
Sie wand den Kopf von einer zur anderen Seite
Entweder wendete oder wandte.
Wie ein durch zu plötzliches Aufstehen hervorgerufener Schwindel, [Komma kann weg] legte sich das Gefühl
Wie vermutet, fand ich mich in einem kleinen verwilderten Innenhof wieder. Es fiel gerade genug Licht von der Straße hinein.
herein müsste es aus Sicht des Erzählers heißen, weil er ja drinnen ist.
gefolgt von einem Rascheln, wie als würde jemand …
ein Matratzenloses [matratzenloses] Metallbettgestell
(Ist ein stinknormales Adjektiv)
Dabei fiel mein Blick auf eigenen großen dunklen Fleck
Wie meinen?

Okay, jetzt doch noch was Inhaltliches:

Ohne recht zu wissen warum – oder besser gesagt, ohne mir recht eingestehen zu wollen warum – ging ich zur Wohnungstür. Sie war von innen verschlossen. Der Schlüssel hing nicht wie gewöhnlich an seinem Nagel neben der Tür, sondern steckte.
Äh, und daraus soll ich nun was schließen? Dass er zum Fenster hereingeflogen kam in der Nacht? Oder nicht doch eher, dass er schlicht besoffen war und vergessen hat, den Schlüssel abzuziehen? Ungewöhnlich fände ich es höchstens, wenn der Schlüssel außen an der Tür steckt. Na egal. Mystery halt.


Willkommen hier, fuzzbian

offshore

 

Hey @ernst offshore ,
vielen Dank erstmal für die Auseinandersetzung mit dem Text trotz genrebedingtem Desinteresse!

Zu den meisten der sprachlichen Anmerkungen sag ich einfach mal ja und Amen und vielen Dank! Ich werd mich in den kommenden Tagen nochmal an die Überarbeitung setzen.

Zu der "Das heißt der Straße, in der ich damals lebte."-Sache: Klar, Komma fehlt. Ansonsten finde ich den Satz aber eigentlich ok, wenn man bedenkt, dass er vom Erzähler (beilä) dahingesprochen ist. Er soll hauptsächlich erklären, dass die Straße nicht mehr dieselbe ist, wie die, in der er jetzt wohnt.

Ist das Absicht, dass sie hier so … äh, radebrecht? Oder die übersehene Folge eines Überarbeitungsschrittes?
Absicht. Soll eine gestelzte Redeweise illustrieren. Vermutlich spricht sie nicht wirklich oft mit Menschen und wer weiß, wann und wodurch sie sprechen gelernt hat?

Siehste selber, oder?
Jetzt, wo ich drauf hingewiesen werde und gefühlte zehn Minuten draufstarre, seh ich’s selber. :(Das ist ja häufig das Problem. :shy: Daher echt vielen Dank für die Hinweise!

Wie meinen?
Das muss einfach nur "einen" heißen. Manchmal frag ich mich auch, was da mit mir los ist. :confused: (Das korrigier ich mal besser gleich, sonst merkt es noch wer :Pfeif:)

Äh, und daraus soll ich nun was schließen? Dass er zum Fenster hereingeflogen kam in der Nacht? Oder nicht doch eher, dass er schlicht besoffen war und vergessen hat, den Schlüssel abzuziehen?
Eine mögliche und intendierte Deutung ist, dass Leonora ihn heimgebracht und abgeschlossen hat und dann durchs Fenster abgeflattert ist. Gleichzeitig gibt es immernoch die Möglichkeit, dass Falk sich die gesamte Episode nur im Suff eingebildet hat. Oder wie du schon so treffend bemerkt hast:
Na egal. Mystery halt.
;)

Willkommen hier, fuzzbian
Danke! :)

 

Hi,

ich bin wegen des Titels hier, den fand ich gut. Allerdings stößt er rückblickend den Leser fast ein bisschen zu sehr mit der Nase rein.


Es waren ihre Augen. Sie hatte sie kein einziges Mal bewegt.

Das fand ich mega. Meine Lieblingsstelle. Genau das Richtige gesagt und genau das Richtige weggelassen. Das danach mit dem Kopf nimmt da so ein bisschen die Wirkung. Ich würde den Absatz nach „bewegt“ enden lassen.

„Ich will das Rote“ fand ich auch sehr schön. Creepy.


Spannungsschraube passt. Ich wollte wissen, was es mit dem Mädchen auf sich hat, auch wenn ich's mir bei dem Titel in etwa denken konnte – es ist immerhin als Horrorgeschichte gekennzeichnet.


Ein bisschen zu kämpfen hatte ich mit dem Stil. Als der Erzähler bemerkt, das Mädchen spreche wie in einem Film aus den Fünfzigern, da dachte ich: Das sagt der Richtige.


Manchmal, wenn die Speisekammer meiner Studentenbude mal wieder leer war, ging ich gleich morgens zum Frühstück hinunter. Meist war ich jedoch abends da, trank ein Bier und schwatzte mit den anderen Studenten.

Das klingt nach 19. Jahrhundert. Dann aber trifft er auf „Typen“, was sich mit dem restlichen Erzählton total beißt. Für mich als Leser jedenfalls würde die Geschichte von einem moderneren Stil und einem etwas blutigeren Finale profitieren. Also, als Horrorgeschichte jedenfalls.


Schonwieder

Schon wieder


„Ja“

„Ja.“


Hast du sie gefickt?“, platze es aus dem Kerl hinter ihm heraus,

Das passt da auch absolut nicht rein, auch nicht in wörtlicher Rede, gefickt.

Ein großes vollkommen verstaubtes Fenster

großes,

Die Stufen liefen nicht wie gewöhnlich, sich durch den Raum emporhebend, an allen vier Wänden entlang, sondern, vergleichbar mit einer Feuerleiter, über mehrere von Geländern umgrenzten Plattformen an eben nur dieser einen.

Das habe ich erst beim dritten Lesen verstanden.


in einem kleinen von Kerzen erleuchteten Raum stehen.

kleinen,


dann begannen sie die Treppe emporzurennen.

sie,


Es war groß und weiß und auch wenn ich es nicht mit Sicherheit erkennen konnte

auch, … konnte, …

„Verstehe, danke.“,

Das ist noch an einer anderen Stelle. Der Punkt kann weg bei wörtlicher Rede: „... danke“, sagte er.


Grüße
JC

 

Hey @Proof,
danke fürs Lesen und die Anmerkungen!

Für mich als Leser jedenfalls würde die Geschichte von einem moderneren Stil und einem etwas blutigeren Finale profitieren. Also, als Horrorgeschichte jedenfalls.

Das mit dem Stil ist wohl so, wie's ist. Blutigeres Finale kommt sicher bald mal an anderer Stelle ;). Ich hatte die Geschichte auch nicht wirklich als "Horror" im engsten Sinne angelegt. Eher Richtung Schauerromantik, aber das gab's halt nicht als Kategorie.

Freut mich jedenfalls, dass du deinen Spaß damit hattest!

Beste Grüße!

 

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