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Das Vogelmädchen
Das erste Mal sah ich sie in dem kleinen Bistro in meiner Straße. Das heißt, der Straße, in der ich damals lebte. Die ganze Geschichte ist jetzt schon viele Jahre her und ich habe sie vermutlich deshalb bisher nicht erzählt, weil sie doch zu eigenartig ist.
Wie gesagt, es war in diesem Bistro. Chez Chloé hieß es, aber alle nannten es einfach immer nur Chloé. Der Kaffee war ausgezeichnet und es gab Kleinigkeiten zu essen. Manchmal, wenn die Speisekammer meiner Studentenbude mal wieder leer war, ging ich gleich morgens zum Frühstück hinunter. Meist war ich jedoch abends da, trank ein Bier und schwatzte mit den anderen Studenten.
An jenem Abend saß ich jedoch allein an meinen Tisch, saß da und starrte durch die große Frontscheibe auf die Straße hinaus. Die Straße, in der das Chloé und meine Wohnung lagen, war eigentlich eher eine Gasse, die fast ausschließlich von Fußgängern genutzt wurde. Direkt gegenüber befand sich der Zugang zu einem Hof oder dergleichen, der durch ein schmiedeeisernes Tor versperrt war. Vor diesem Tor sah ich eine Person stehen. Zunächst glaubte ich, dass sie sich mit jemandem auf der anderen Seite unterhalten würde. Es war schon dämmerig und der Bereich jenseits der Pforte lag bereits im Dunkeln. Als die Gestalt jedoch beiseitetrat, fiel mehr von dem gelblichen Licht der Gaslaternen durch die schwarzen Gitter und ich konnte erkennen, dass niemand dort gestanden hatte.
„Das ist das Vogelmädchen“, sagte die Kellnerin, die, ohne dass ich es bemerkt hatte, an meinen Tisch getreten war. Die Gestalt vom Hoftor lief gerade direkt vor mir hinter der großen Glasscheibe vorbei. Sie trug einen langen dunklen Parka und hatte schulterlanges lockiges Haar. Ihr Gesicht sah ich nur für einen kurzen Moment. Sie mochte Anfang zwanzig sein, vielleicht ein wenig jünger. Hübsch, aber mit einem sonderbaren Zug, den ich nicht recht einzuordnen vermochte. Ich schaute ihr nach.
„Wer?“, fragte ich. Doch die Kellnerin war schon wieder verschwunden.
Es verging einige Zeit. Vielleicht nur Tage, vielleicht auch Wochen. Jedenfalls hatte ich das Vogelmädchen schon fast wieder vergessen, als ich sie eines Morgens – es war einer besagter Tage ohne Essen im Haus – selbst im Chloé sitzen sah. Sie saß allein an einem Tisch draußen und warf den Spatzen, die um ihre Füße herumhüpften, Krumen von ihrem Frühstück zu.
Für gewöhnlich war ich hübschen Mädchen gegenüber eher zurückhaltend, doch aus irgendeinem Grund trat ich an diesem Morgen an ihren Tisch und fragte, ob ich mich dazu setzen dürfe. Zwar schaute sie kurz irritiert – ich hatte durch mein Kommen die Spatzen verscheucht, was sie zu verunsichern schien – nickte dann aber lächelnd.
„Ich bin Falk. Ich dachte…“ Ich war wirklich nicht besonders geübt darin. „Dachte, vielleicht wäre ein wenig Gesellschaft ganz nett an so einem schönen Morgen.“
Sie lächelte. Die Rückkehr der Spatzen, die mich sitzend anscheinend nicht mehr als Bedrohung wahrnahmen, schien sie beruhigt zu haben. „Falk. Ein schöner Name. Ein Vogelname.“
„Stimmt. Und wie heißt du?“
Sie lächelte wieder und senkte dann rasch den Blick. „Verzeihung. Ich bin immer so unhöflich. Leonora heiß ich.“
„Auch ein schöner Name. Ein Löwenname.“
Immer noch hielt sie den Blick gesenkt. „Er bedeutet etwas anderes.“
Ich wartete darauf, dass sie fortfuhr, was sie jedoch nicht tat. Die Kellnerin kam und ich bestellte mir Frühstück.
Leonora, immer noch leicht verlegen lächelnd, immer noch schweigend, spielte unbeholfen mit ihren Fingern. Ich betrachtete sie. Wieder fiel mir die Eigenart in ihrem Gesicht auf, die ich bereits in besagter Nacht gesehen hatte. Doch auch jetzt konnte ich nicht wirklich sagen, worin diese bestand. Es war keine wirklich physiognomische Ausprägung, auch nichts in ihrem Ausdruck. Sie war hübsch. Das war sie ohne jeden Zweifel. Aber irgendetwas war nicht richtig.
„Du magst Vögel?“, sagte ich, einfach, um irgendetwas zu sagen.
Sie schaute mich an. „Ja sehr.“ Das Lächeln war wieder da und dieses Mal funkelte es auch in ihren Augen. „Ich liebe sie sehr. Du magst sie auch?“
Ich wollte antworten, aber sie kam mir zuvor. „Natürlich magst du sie. Ich bin manchmal fürchterlich dumm. Du hast ja selbst einen so schönen Vogelnamen. Wie könntest du sie nicht mögen.“ Ihre Sprachmelodie wirkte sonderbar – irgendwie altmodisch. So wie die Leute in alten Schwarzweißfilmen sprechen. „Sag mir, welcher ist dein Lieblingsvogel? Es ist der Falke, nicht wahr? Sicher ist er es.“ Ja, als hätte sie das Sprechen im Kino der 50er-Jahre gelernt.
„Ich mag sie alle gern“, entgegnete ich. Ihre plötzliche Eloquenz hatte mich ein wenig überrumpelt.
„Oh ja, alle! Alle lieb ich sie auch!“ Ihre Wangen röteten sich. Dann schaute sie wieder zu Boden. „Es tut mir leid. Ich wollte nicht ungehörig ausgelassen sein.“
„Schon gut. Es war nicht…“ Ungehörig ausgelassen?
Mein Frühstück kam. Ich fragte Leonora, ob sie noch etwas abhaben wolle. Sie schüttelte den Kopf. Trotzdem brach ich ein Stück meines Croissants ab, zerkrümelte es und legte es auf ihre Seite. Sie strahlte mich an und begann sogleich damit, es an die noch immer um ihre Füße herumhüpfenden Spatzen zu verteilen. So saßen wir da. Ich essend, sie Vögel fütternd.
Als ich mich erhob, um drinnen zu bezahlen, machte sie ebenfalls die Andeutung aufzustehen, setzte sich dann aber sofort wieder. Die Spatzen flatterten auf. „Du Falk?“
„Ja“
„Du hast Recht gehabt.“ Sie biss sich auf die Unterlippe. „Es war sehr nett. Die Gesellschaft mein ich.“ Ihre Finger kratzten am Tisch. „Vielleicht… Ich meine… Ich bin eigentlich jeden Morgen hier.“
„Dann also morgen“, sagte ich.
Am selben Tag nach der Vorlesung kamen ein paar Typen auf mich zu. Ich kannte sie vom Sehen. „Hey, warte mal.“, rief einer von ihnen. Er war nicht besonders groß, hatte sich sein pechschwarzes Haar zurückgegelt und trug braune Cordhosen mit Hosenträgern über einem weißen Hemd. „Du heißt Falk, oder?“
„Ja“
Einer der anderen Typen, der sich direkt hinter dem Kleinen aufgestellt hatte, starrte mich mit einer fast ehrfürchtigen Faszination an.
„Mein Kumpel hier sagt, er hätte dich heut Morgen mit dem Vogelmädchen gesehen“, erklärte der Kleine und stieß dabei den hinter ihm mit dem Ellenbogen an.
„Kann schon sein. Und?“
Der begeisterte Gesichtsausdruck des Typen hinter dem Kleinen hatte sich jetzt zu einem breiten und ungemein dämlichen Grinsen verzogen.
„Na ja…“, begann der Kleine.
„Hast du sie gefickt?“, platze es aus dem Kerl hinter ihm heraus, worauf er und die anderen verstreut um mich herumstehenden Typen in schallendes Gelächter ausbrachen. „Hat sie da unten Federn?“, prustete der Kleine zwischen erstickten Lachern hervor.
Vor meinem geistigen Auge sah ich meine Hand sich zur Faust ballen und erst in die lachende Visage des kleinen, dann in die des hinter ihm stehenden Typen donnern. Ich sah meine Knie und Ellenbogen in die Magengruben der anderen hageln. Sah sie Blut und Zähne spucken. Sah mich die Ehre dieses seltsamen Mädchens, das ich kaum kannte, verteidigen. Und wenn das Leben ein Film wäre – einer von der Sorte, in der die Guten immer das Richtige tun und die Bösen immer das bekommen, was sie verdienen – hätte ich es getan.
Ich verzog das Gesicht und ging nach Hause.
Als ich Leonora am nächsten Morgen vor dem Chloé traf, trug sie Lippenstift, was am Vortag nicht der Fall gewesen war. Die Farbe war ein wenig zu knallig für ihr Gesicht. Sie lächelte mich an – ein Lächeln, bei dem sich die äußersten Spitzen der Mundwinkel ein winziges bisschen nach unten bogen und das trotzdem doch ein Lächeln war – ein Falschrumlächeln. In ihrem zu großen Parka, dessen Ärmel ihr vollständig über die Hände reichten, sah sie aus wie ein Kind, das im Spiel den Mantel des Vaters trug. Wie ein Kind, dachte ich und spürte das Bedürfnis in mir aufsteigen, die Typen vom Vortag zu suchen und ihnen doch wirklich und wahrhaftig die Fresse zu polieren.
„Guten Morgen“, sagte ich.
„Guten Morgen“, sagte sie.
Wir setzten uns an den gleichen Tisch wie tags zuvor. Kaum, dass wir platzgenommen hatten, kamen die Spatzen herbeigeflattert und hüpften um Leonoras Beine. Mich schienen sie völlig zu ignorieren. Leonora griff in eine der großen ausgebeulten Taschen ihres Parkas und förderte eine Ladung Körner zutage, die sie aus der im Ärmel verborgenen Hand zu Boden rieseln ließ. Die Vögel, die anscheinen nur darauf gewartet hatten, machten sich sogleich laut tschilpend darüber her. „Sie benehmen sich gerade so, als hätten sie seit Wochen nichts bekommen“, erklärte sie und lächelte ihr Falschrumlächeln. Dabei fiel mir wieder die Eigenart in ihrem Gesicht auf, die ich jedoch noch immer nicht eindeutig zu fassen vermochte.
Wir bestellten beide ein einfaches Frühstück, das wir größtenteils schweigend zu uns nahmen. Es war kein unangenehmes Schweigen, eher eine stille Übereinkunft. Sie warf ab und an den Spatzen etwas zu. Ich klimperte mit meinem Löffel in der Kaffeetasse herum und fragte mich, was an ihrem Gesicht mir so sonderbar erschien.
Als wir uns schließlich voneinander verabschiedeten, schlug ich ihr vor, dass wir uns doch vielleicht am Abend wieder hier treffen könnten, auf ein Bier oder was immer sie gern trinke. Dieser Vorschlag schien sie vollkommen aus dem Gleichgewicht zu werfen. Sie wandte den Kopf von einer zur anderen Seite, in die Luft und auf den Boden, stammelte: „Das… Ich kann nicht. Ich muss…“
Dann lief sie eilig davon. Ich machte keine Anstalten, ihr zu folgen, war meinerseits irritiert von ihrer Reaktion. Doch in diesem Moment fiel es mir ein – die Sache mit ihrem Gesicht. Es war nicht etwas gewesen, das da war und das mich störte, sondern etwas, das nicht da war. Es waren ihre Augen. Sie hatte sie kein einziges Mal bewegt. Zumindest glaubte ich das. Wann immer sie etwas betrachtete, hatte sie den gesamten Kopf darauf gerichtet. Und als sie mir eben zu verstehen gegeben hatte, dass sie nicht mit mir ausgehen wolle, da war sie ihren hektischen Kopfbewegungen meinem Blick ausgewichen. Vogelmädchen, dachte ich, während ich ihr nachschaute.
Als ich an diesem Abend allein ins Chloé ging, saß ich wieder an dem Tisch, von dem aus ich sie zwei Tage zuvor das erste Mal gesehen hatte. Leonora in ihrem zu großen Parka. Leonora mit ihren dunklen Locken. Leonora, das Vogelmädchen.
Ich war frustriert, bestellte mir ein Bier nach dem anderen. Als irgendwann kurz vor Mitternacht ein Haufen laut durcheinander redender und lachender Typen auftauchte und ich zum einen feststellte, dass der Kleine und der andere Idiot unter ihnen waren und zum anderen, dass ich trotz meines Vorsatzes am Morgen und trotz meines sicher nicht unerheblichen Pegels nicht zu ihnen hinübergehen und ihnen die Fresse polieren würde, stieg ich auf Whiskey um.
Die Schwachköpfe hatten sich in den hinteren Teil des Lokals verzogen, von wo ich sie noch immer grölen hörte. Ich glaubte nicht, dass sie mich gesehen hatten und falls doch, hatten sie offensichtlich kein Interesse an mir. Ich nippte an meinem zweiten oder dritten Glas Jack Daniels und starrte zu dem schmiedeeisernen Tor hinüber. Leonora mit ihren zu roten Lippen. Leonora mit ihrem Falschrumlächeln. Leonora…
Stand da. Sie stand im gelben Licht der Gaslaterne, schaute sich um und schlüpfte dann durch das schmiedeeiserne Tor.
Ich sprang auf, warf einen zufälligen Betrag Geld auf den Tisch und stolperte zur Tür. Als ich an die Luft trat, spürte ich, wie der gesamte Alkohol, den ich über den Abend in mich hineingegossen hatte, mir auf einen Schlag in den Schädel schoss. Ich taumelte zur Seite, lehnte mich gegen die Hauswand, wartete. Wie ein durch zu plötzliches Aufstehen hervorgerufener Schwindel legte sich das Gefühl nach wenigen Sekunden wieder. Und obwohl ich alles andere als nüchtern war, huschte ich mit wenigen schnellen geraden Schritten zu dem Tor auf die andere Straßenseite hinüber, fand es unverschlossen und schlüpfte ebenfalls hindurch.
Wie vermutet, fand ich mich in einem kleinen verwilderten Innenhof wieder. Es fiel gerade genug Licht von der Straße herein, um sich orientieren zu können. Dunkle Sträucher umrahmten das schmale Atrium. Die Backsteinmauern der Häuser zu beiden Seiten waren mit Wein und Efeu berankt, die im leichten Nachtwind leise rauschten. In der Mitte stand ein knorriger alter Baum. Darunter eine verfallene Bank.
Ich überquerte den Hof. Im Schatten des Baums lag eine verwitterte Holztür. Hierein musste sie verschwunden sein. Ich legte meine Hand auf die kühle Klinke. Auch diese Pforte war unverschlossen. Ich trat ein.
Tatsächlich war es in dem verfallenen Treppenhaus, in dem ich mich jetzt befand, heller als in dem Hof. Ein großes vollkommen verstaubtes Fenster schimmerte golden-braun gegenüber der Wand, an der sich eine architektonisch durchaus eigenwillige Treppenkonstruktion befand. Die Stufen liefen nicht wie gewöhnlich, sich durch den Raum emporhebend, an allen vier Wänden entlang, sondern, vergleichbar mit einer Feuerleiter, über mehrere von Geländern umgrenzten Plattformen an eben nur dieser einen.
Ich erklomm die Stufen, wobei ich darauf achtete, möglichst weit am Rand zu laufen, um Geräusche zu vermeiden. Die Türen auf den unteren Stockwerken waren vernagelt. Als ich jedoch zur obersten und letzten gelangte, fand ich sie nur angelehnt. Auf der anderen Seite konnte ich leise Stimmen vernehmen. Eine von ihnen gehörte Leonora. „Sei nicht töricht! Du weißt genau, dass das nicht geht.“ Die andere, ebenfalls eine weibliche Stimme, der Leonoras nicht unähnlich, jedoch ein wenig höher und kehliger protestierte: „Aber ich habe Durst!“
Ich spähte durch den schmalen Türspalt. Ich sah Leonora, den Rücken der Tür zugewandt in einem kleinen, von Kerzen erleuchteten Raum stehen. Die andere Person konnte ich nicht ausmachen.
„Ich habe dir Wasser gebracht.“
„Mag kein Wassern! Will von dem Roten!“
„Das kommt nicht infrage. Du weißt, was das letzte Mal passiert ist, als –“ Es polterte. Leonoras Stimme verstummte. Ich erschrak. Das Poltern kam nicht von der anderen Seite der Tür, sondern von unten. Ich drehte mich um und schaute hinab. Zwei Gestalten standen in der Tür zum Treppenhaus. Sie sprachen kurz miteinander – ich konnte nicht verstehen, was –, dann begannen sie, die Treppe emporzurennen.
Durch den Spalt konnte ich sehen, wie Leonora in Richtung Tür gelaufen kam. Die Schritte von unten näherten sich rasch. Mein Herz pochte. Wie erstarrt stand ich da und wusste nicht, was ich tun, in welche Richtung ich mich wenden sollte. Ich sah die beiden Gestalten – im schwachen Licht konnte ich nur ihre Umrisse erkennen – gerade auf der Treppe erscheinen, da entschieden sich meine Beine für die Flucht durch die Tür. Ich machte mir nicht die Mühe, nach der Klinke zu greifen, sondern rannte einfach geradewegs hindurch.
Die Tür schlug nach innen auf, brachte damit Leonora zu Fall und diese wiederum mich, der sie halb aufzufangen und halb sich an ihr festzuhalten versuchte. Ich landete auf dem Rücken, sodass ich genau in Richtung Tür schaute. Dort erkannte ich im Kerzenschein, der die gesamte Dachkammer in ein flackerndes Orange hüllte, die zwei Gestalten. Es waren der Kleine und der andere. Auf ihren Gesichtern stand blankes Entsetzten. Ihr Blick schien auf etwas gerichtet, das sich hinter mir befinden musste. Ihre Münder waren leicht geöffnet, die Augen weit aufgerissen.
„Was in drei Teufels Namen…“, stammelte der Kleine. Der andere machte einen vorsichtigen Schritt rückwärts. Leonora rappelte sich wieder auf die Beine, starrte zuerst auch hinter mich, dann auf die zwei in der Tür.
„Meine Schwester ist sehr krank!“, rief sie mit brüchiger Stimme, aus der teils Angst, teils Kränkung zu sprechen schien.
Der größere Typ machte noch zwei langsame Schritte rückwärts. Der Kleine stand einfach nur da.
Hinter mir hörte ich ein kurzes Tippeln, gefolgt von einem Rascheln, als würde jemand einen großen Strauß Trockenblumen schütteln. Dann ertönte ein gellender Schrei, der nur sehr wenig mit einer menschlichen Stimme gemein hatte. Ein einziges verzerrtes Wort. „Rooot!“
Leonora warf den Kopf herum, starrte hinter mich, starrte auf mich. „Nein!“ Sie stürzte in meine Richtung. „Nein, nicht ihn!“ Sie warf sich auf mich, drückte mich zu Boden.
Aus dem Augenwinkel sah ich etwas vorbeihuschen. Es war groß und weiß und auch, wenn ich es nicht mit Sicherheit erkennen konnte, würde ich doch schwören wollen, dass es Federn hatte. Ich hörte ein Rumpeln, Schreie, Rennen, einen letzten Schrei, schmatzendes Saugen. Dann verschwand die Welt um mich herum.
Ich erwachte am nächsten Vormittag auf meiner Couch. Mein Schädel schmerzte entsetzlich. Zwar langsam, aber bis zu dem Punkt meiner Ohnmacht lückenlos, kehrte die Erinnerung – aber war es tatsächlich Erinnerung? – an die Geschehnisse der Nacht zurück.
Ich setzte mich auf, rieb mir die Schläfen. Ich dachte an den verwilderten Hof, das Treppenhaus, die Dachkammer. Dachte an Leonora und die zwei Typen aus der Uni. Dachte an das Ding – meine Schwester ist sehr krank! – mit den weißen… Federn? War das alles wirklich passiert? War irgendetwas davon passiert? Hatte ich im Rausch geträumt?
Ich stand auf, um mir ein Glas Wasser und ein Aspirin zu holen. Auf halbem Weg in die Küche blieb ich stehen. Das große Fenster stand sperrangelweit offen. Für gewöhnlich öffnete ich nur einen der zwei Flügel zum Lüften. Vielleicht war mir gestern Abend übel gewesen, ich hatte es im Suff aufgerissen, war eingeschlafen… Ich starrte hinaus. Die Wohnung, die sich heute vermutlich kein Student mehr leisten könnte, lag im vierten Stock des Altbaus. Einige der benachbarten Häuser waren niedriger und man konnte auf ihre roten Ziegel- oder schwarzen Teerpappedächer hinabschauen. Auf einem von ihnen saß ein Schwarm kleiner dunkler Vögel.
Ohne recht zu wissen warum – oder besser gesagt, ohne mir recht eingestehen zu wollen warum – ging ich zur Wohnungstür. Sie war von innen verschlossen. Der Schlüssel hing nicht wie gewöhnlich an seinem Nagel neben der Tür, sondern steckte. Ich drehte ihn herum, verließ die Wohnung und ging hinunter ins Chloé.
„Leonora?“
Die Kellnerin hob die Brauen.
„Ist sie heute Morgen hier gewesen?“
Sie zuckte mit den Schultern. „Wer?“
„Das Mädchen, das immer die Vögel füttert. Sie frühstückt immer hier. War sie heute da?“
„Ach so, die. Nein, die war heute nicht hier.“
Mein Blick wanderte zu dem Hoftor hinüber und das dahinterliegende Gebäude empor. Die Vormittagssonne spiegelte sich in dem großen Treppenhausfenster. Die gleißenden Strahlen stachen schmerzend durch meine Augen direkt in mein dumpf pochendes Hirn.
„Verstehe, danke“, stammelte ich und ging auf die schmiedeeiserne Pforte zu.
Wie in der Nacht zuvor war sowohl diese als auch die Tür zum Haus unverschlossen. Mit banger Hast eilte ich die Treppen hinauf. Die Tür zur Dachkammer war nur angelehnt. Ich trat ein. Bis auf einen wachsbefleckten Tisch und ein matratzenloses Metallbettgestell war das Zimmer leer. Vor einem großen geöffneten Fenster, dessen Scheibe mit vergilbtem Zeitungspapier abgeklebt war, wirbelten Staubkörner im gelben Sonnenlicht.
Ich schlurfte zu dem Bettgestell hinüber, betrachtete es einen Moment lang und wendete mich zum Gehen um. Dabei fiel mein Blick auf einen großen dunklen Fleck auf dem Dielenboden. Etwas in meinem Magen wurde zuerst sehr leicht – Mag kein Wassern! –, im nächsten Augenblick sehr schwer – Will von dem Roten! Ich sprang über den dunklen Fleck – Rooot! – hinweg, stürmte durch die Tür, die Treppen hinunter, durch den Hof und zurück auf die Straße. Mein Schädel dröhnte und obwohl ich mich liebend gern übergeben hätte, konnte ich es nicht. Ich ging zurück nach Hause, legte mich ins Bett und schlief bis die Sonne untergegangen war.
Das ist so ziemlich die ganze Geschichte. Ich hatte ja gesagt, dass sie eigenartig ist. Ob ich sie wiedergesehen habe? Nein. Nur manchmal träume ich von ihr und… Aber lassen wir das. Das ganze lange Erzählen hat mich nämlich doch recht durstig gemacht.