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Das Vier-Meilen-Riff

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27.10.2016
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Das Vier-Meilen-Riff

Der Sturm der letzten Tage hatte seine Spuren hinterlassen.
Eine zentimeterdicke, feine Sandschicht lag auf dem Asphalt der Straßen. An den Rändern, an manchen Stellen bis hin zur Fahrbahnmitte, häuften sich kleine Sanddünen. Kam ihnen ein Wagen entgegen, wischte der Fahrtwind den Sand von der Straße und legte, für Momente nur, Teile der dunklen Teerdecke frei.

Hamilton und Shirley Alcott fuhren entlang des Roten Meeres.
Zur Linken lag es, grau schimmernd, wie ein dünnes, glitzerndes Band am Horizont. Dazwischen flacher Sandboden, bedeckt mit kniehohem Buschwerk. Rechts der Fahrbahn breitete sich das Hellbeige des Wüstensandes bis hin zu den mittelhohen, dunklen Geröllbergen im Hintergrund. Im Licht der Vormittagssonne wirkten sie noch abweisender als sie es ohnehin schon waren. Dahinter tausende Kilometer Wüste, Stein und Vergessenheit.

Die Fahrt des Paares dauerte gewöhnlich nicht lange. Es befuhr diese Strecke von Jedda aus ans Meer mindestens einmal wöchentlich. Der Erholung wegen, schon seit Jahren. Und gewöhnlich hatten sie schon nach einer halben Stunde ihr Ziel, Obhar, erreicht. Eine kleine, überschaubare Meerenge, die sich irgendwann einmal an dieser Stelle ins Land gefressen hatte. Umgeben von scharfen, felsigen Rändern zum Norden hin, mit festem Lehm- oder Sandboden, je näher es dem offenen Meer zuging.

Hier hatten sich die Wohlhabenderen, Saudis und Ausländer, ihre Wochenendhäuser bauen lassen. Hier dümpelten ihre Motorboote und kleinen Yachten. All das in gebührender Entfernung zu einem Häuflein zerfallender Steinbauten, die von Fischern mit ihren Familien bewohnt waren.

Der Reichtum der Villeneigner oder Mieter war fast ausnahmslos, wie konnte es anders sein, auf die immensen Erdölvorkommen des Landes zurück zu führen. Ob direkt oder auch in Form einer gut bezahlten Position in einer vom Öl profitierenden Firma. Das finanzielle Glück so mancher kam dabei ganz plötzlich, fast über Nacht. Zum Wohle derer, die an den Schaltstellen saßen, aber auch zum Vorteil vieler, die indirekt am schwarz glänzenden Goldregen teilhaben durften. Dem Paar gehörte zwar keine dieser Villen, auf die Annehmlichkeit einer solchen Einrichtung mussten sie trotzdem nicht verzichten. In den Jahren ihres Aufenthaltes in diesem Land schlossen sie Freundschaften. Darunter auch solche, denen ein gewisser Luxus nicht fremd war und die sich die besagten Herbergen leisten konnten. Als Leiter einer britischen Firmenniederlassung war es unter anderem auch Hamiltons berufliche Pflicht, dem Geschäft dienliche Verbindungen zu knüpfen. Diese zu einheimischen Geschäftsleuten genauso wie zu den sonstigen am Ort lebenden Ausländern.

Im Großen und Ganzen gelang ihm dies auch.
Lediglich bei Letzteren, den Ausländern, genoss Hamilton einen eher zweifelhaften Ruf. Sein Verhalten, besser: sein außerdienstliches Verhalten ignorierte in regelmäßigen Abständen die ungeschriebenen Regeln des zwischenmenschlichen Verhaltens. Insbesondere seine ausschweifende Lebensfreude fand nicht immer die ungeteilte Zustimmung im Kreis derer, die ihn kannten. Selbst seine Ehe, es war nicht anders zu erwarten, litt unter seiner aus dem üblichen Rahmen fallenden Lebensweise.

Hamilton nahm die teils offene, teils hinter vorgehaltener Hand geäußerte Kritik zwar zur Kenntnis, sah indes keinen Grund, Konzessionen machen zu müssen. „Live the life you love“. Dies war sein Motto, und danach lebte er.

Shariff beispielsweise, Spross einer nicht sonderlich wohlhabenden, dafür angesehenen saudischen Familie, zählte zum engeren Freundeskreis des Paares.
Zu Reichtum brachte er es als Vertreter gleich mehrerer ausländischer Firmen. Jahrelang ruhten die Geschäfte oder dösten vor sich hin.
Bis das schwarze Gold sie hellwach werden ließ. Doch der plötzliche Geldregen brachte Shariff nicht um den Verstand.
Sorgfältig und überlegt investierte er seine Einnahmen und erstand unter anderem ein ansehnliches Haus in Obhar. Und dank seiner grenzenlosen Gastfreundschaft konnten Hamilton und Shirley es nutzen, wann immer es ihre Freizeit zuließ.
Selbst ein schon angejahrtes, jedoch sorgfältig gewartetes Motorboot stand ihnen zur Verfügung.
Hamilton und Shirley hatten soeben die selbst aus der Entfernung monströs anmutende Meerwasser-Entsalzungsanlage zur Linken hinter sich gelassen. Ein riesiger Bau der, einer Kathedrale gleich, schon aus meilenweiter Entfernung zu erkennen war.

Es war ein Sonntag. Werktag für die islamische Bevölkerung, ein freier Tag für Hamilton.
Etwa fünfzehn Minuten schon fuhr das Paar entlang der verkehrsarmen und sandbedeckten Küstenstraße, ohne das bisher ein Wort zwischen ihnen gefallen wäre. Eine gespannte Ruhe lag in der Luft, fast konnte man es den beiden Gesichtern ablesen.

Shirleys graublaue Augen blickten stur geradeaus. Dabei kaute sie nervös an den Nägeln ihrer rechten Hand. Das blonde Haar war fest aus der Stirn gekämmt und mit einer kleinen, schwarzen Spange zu einem Zopf gebunden. Ihr hübsches, offenes, von unzähligen Sommersprossen übersätes Gesicht kam dadurch noch besser zur Geltung. Niemand hätte sie auf Ende Dreißig geschätzt. Sie wirkte wesentlich jünger.

Hamiltons Unruhe war ihm nur auf dem zweiten Blick anzumerken.
Und auch dann nur, wenn man ihn gut kannte. Sein breites, schnauzbärtiges Gesicht mit den zusammengekniffenen Augen sah immer gleich teilnahmslos aus. Nur waren die Augenschlitze heute noch schmaler, eng wie zwei Striche unter dunklen, zerzausten Augenbrauen. Mit der zu breit geratenen Nase, den wulstigen Lippen und einem lockigen, dunklen Haarwuchs, der selbst die Ohren bedeckte, glich er eher einem Boxer als einem Manager.
Auch seine Finger zeugten von Nervosität. Sie umklammerten das Lenkrad fester als gewöhnlich. So fest, dass die Knöchel des ansonsten braunen Handrückens weißlich hervortraten.


„Musst Du ewig nur saufen, ewig den Frauen hinterherlaufen?“

Shirleys Frage schlug ein wie der Blitz ins Wageninnere. Die sich langsam füllende Blase angespannter Stille war mit einem Mal zerplatzt. Ihre ungewohnt laute und aggressive Stimme war voller Zorn.

„Kannst Du Dich nicht ein einziges Mal zusammenreißen? Dich ein einziges Mal so benehmen, dass Du nicht unangenehm auffällst?“

Hamilton ließ sich diesen verbalen Angriff nicht anmerken. Er zog es vor, zu schweigen. Und blickte weiterhin teilnahmslos hinaus auf die endlose, nur von wenigen ausholenden Kurven unterbrochene Gerade. Nur seine Lippen presste er zusammen. Als wollte er seinem Mund verbieten, jetzt zu reden.

„Hast Du jeden Anstand verloren?“

Shirley redete sich in Rage, ihre Stimme überschlug sich fast. Und es ärgerte sie, dass keine Antwort kam.
Dann, endlich, blickte Hamilton zur Seite.

„Spielst Du wieder die Anstandsdame?“

Auch seine Stimme war jetzt lauter als sonst, er liebte keine Konkurrenz.

„Ich habe es satt, mich nach jeder verdammten Party von Dir fertig machen zu lassen! Ich habe mich benommen wie jeder andere auch. Bin ich etwa nach Hause getorkelt? Soll ich Säfte schlürfen und den Frauen aus dem Weg gehen? Lass mich mit Deiner Keiferei in Ruhe. Ich tue, was ich für richtig halte!“

Dann starrte er wieder auf die Fahrbahn, das Weiß seiner Handknöchel trat noch stärker hervor.
Shirley atmete tief, hasserfüllte Blicke trafen Hamiltons Profil.

„Nein! Ich sage Nein!“

Ihre Hysterie schien sich auf einen Höhepunkt zuzubewegen.

„Du benimmst Dich wie ein Ferkel und ich muss dabeistehen und mir wortlos alles ansehen!“

Mit beiden Händen umklammerte sie den Türgriff an ihrer Seite des Wagens, zitterte am ganzen Körper.

„Du hast absolut keine Hemmungen mehr! Du blamierst mich in aller Öffentlichkeit, Du ruinierst…“

Plötzlich schwieg sie, denn Hamilton trat scharf auf die Bremse. Vor ihnen zog eine Herde Dromedare über die Straße. Sie kamen von rechts, aus der unwirtlichen Richtung, den Geröllbergen. Das magere, doch grüne Buschwerk zum Meer hin, noch taubeladen, hatte sie angezogen.

„Willst Du aussteigen und Dich denen anschließen?“

Hamilton hätte diese Frage nicht stellen dürfen. Doch musste er seinem Sarkasmus hin und wieder freien Lauf lassen. Auch wenn der Zeitpunkt diesmal recht ungünstig war.
Shirley atmete hörbar unregelmäßig, riss dann mit einem kräftigen Ruck die Tür auf. Mit wütendem Schwung drehte sie sich zur Seite, stieg aus und warf, kaum im Freien, die Tür wieder ins Schloss.
Fünfzehn Jahre waren sie bald verheiratet und es hatte den Anschein, als steuerte das Zusammenleben des Paares in immer turbulentere Gewässer.

Hamilton war überrascht, diese Reaktion hatte er von seiner Frau nicht erwartet.
Er schob seinen Kopf an den Rückspiegel und vergewisserte sich, ob sie tatsächlich zurücklaufen würde. Sie tat es. Trotzig und mit festen, ausholenden Schritten.
Hamilton wendete dann den Wagen, überholte Shirley und kam ihr langsam wieder entgegen. Er öffnete das rechte Fenster und beugte sich zur Seite.

„Shirley, komm schon. Es war nur ein Scherz!“

Doch sie lief weiter, am Wagen vorbei. Hamilton hatte keine Wahl. Er musste aussteigen, mit ihr sprechen. Als er sie schließlich einholte, war der Ärger aus seiner Stimme verflogen. Versöhnlich klang sie nun.
„Shirley, bitte! Es war mir nur so rausgerutscht. Ich meinte es wirklich nicht so!“

Dabei hielt er ihren Arm und versuchte vorsichtig, ihren Schritt zu bremsen

„Denk doch an das Wochenende, bitte! Wir haben das Haus, wir haben das Boot. Lass uns die Sache in Ruhe bereden!“

Tatsächlich blieb Shirley stehen. Ganz unerwartet für Hamilton, und sie blickte ihn verächtlich an.

„Kannst Du mir sagen, wie oft Du diesen Satz schon heruntergeleiert hast? Natürlich nicht. Kein Mensch kann soweit zählen!“

Hamilton nahm seine Hand von ihrem Arm. Ihre unvermittelte Kälte, ihr Zynismus trafen ihn. Für Augenblicke schien sie ihm wie eine andere. Er zog es wieder vor, zu schweigen
Shirley sah hoch zum wolkenlosen Blau des Himmels, dann hinüber zum Meer. Gedankenverloren, wie es schien.
„Also gut!“

Eine Weile schwieg auch sie und fuhr dann immer noch unversöhnlich fort.

„Ich komme mit Dir. Aber nicht Deinetwegen, merk` Dir das!“

Schweigend liefen beide zurück zum Wagen, wortlos wurde die Fahrt fortgesetzt.

Endlich endete der Asphalt.

Fester, staubiger Lehmboden ersetzte die weitere Route. Kurz vor den „Vierzehn Palmen“, in der Ferne erkannte man ihre schweren Kronen, ging es linker Hand zum Meer.
Gezählt hatte diese Palmen sicher niemand. Da aber jeder von den „Vierzehn Palmen“ sprach, musste die Anzahl zutreffen. Und wer diesen Wegweiser vergaß oder verpasste, vielleicht nur zwölf zählte und sich an der falschen Stelle wähnte, der hatte die Möglichkeit, sich an eine weitere Orientierungsmarke zu halten.
Nicht weiter als hundert Meter unterhalb des Palmenhains, zum Meer hin, stand die Ruine eines Königspalastes. Ein pompöser, erschreckend umfangreicher, halb vollendeter Bau. Irgendjemand in der Königsfamilie, vielleicht der Herrscher höchstpersönlich, musste über Nacht die Lust am Meeresblick verloren haben.

Hamilton und Shirley hatten inzwischen das Gittertor des Wochenendhauses erreicht. Kaum hielt der Wagen, stürmte ein kleiner, flinker Junge um die Hausecke. Gekleidet in eine schneeweiße Jellaba, der Nationaltracht.
Er bückte sich, hob zwei Eisenriegel aus ihrer Verankerung und schob mühsam die schweren Eisenflügel der Einfahrt auf.

Drissi war sein Name, Marokkaner und der gute Geist des Hauses.
Mit seinen sechzehn oder siebzehn Jahren, genaueres über sein Alter wusste auch er nicht, nahm er hier draußen die Rolle eines unverzichtbaren Managers ein. Drissi bewachte das Haus, säuberte es, kochte, bediente und war immer zur Stelle, wann immer der Hausherr oder ein Gast glaubte, Hilfe in Anspruch nehmen zu müssen. Bei allem war er zuvorkommend höflich und verzog bei jeder sich bietenden Gelegenheit sein Gesicht zu einem spitzbübischen Lächeln.

„Saalam alaikum, Sir!“

Natürlich wurde nur der Herr begrüßt. Aber für die Frau erübrigte Drissi zumindest ein freundliches Nicken.

Nachdem er die Taschen und Beutel seiner Gäste aus dem Wagen ins geräumige Haus getragen und Shirley alle Mitbringsel verstaut hatte, ging das Paar seiner Wege.
Zwar setzte sich die frostige Stimmung fort, jedoch wurde vereinbart, nach dem Mittagessen und einer Siesta hinaus aufs Meer zu fahren.
Shariff, der Hausherr, so hieß es, würde mit seiner Frau und den Kindern erst am späteren Nachmittag oder am frühen Abend eintreffen.
Haus und insbesondere das Motorboot konnten bis dahin von Hamilton und Shirley genutzt werden.

Es war eine lieb gewonnene Gewohnheit, auch abenteuerliche Abwechslung, auf die Hamilton und Shirley nicht mehr verzichten wollten. Trotz unterschiedlicher Stimmungslagen waren sie sich darin einig.

An den Wochenenden oder auch an Wochentagen fuhr das Paar hinaus aufs Meer. Entweder zum Vier-Meilen oder, entsprechend weiter entfernt, zum Zwölf-Meilen-Riff. Dort wurden gemeinsame Tauchgänge in einer zum großen Teil noch unverdorbenen Unterwasseridylle unternommen. Oder man schwamm selbstvergessen, mit Gummiflossen, Taucherbrille und Schnorchel ausgerüstet, über den Riffs.

Beruhigend war es, und aufregend zugleich. Als überfliege man, auf dem Wasser liegend, eine fremde, geheimnisvoll abgeschirmte andere Welt.


Shirley verbrachte die wenigen Stunden bis zum Mittagessen im Garten.
Sie saß vor dem lilaweißen Strauch einer ausholenden Bougainvillea, hatte Sonnenbrille und Schirmmütze aufgesetzt und las in einem Buch. Vom Fenster der Küche her hörte sie das Klappern der Töpfe und Schüsseln. Drissi kochte, Safranreis mit Huhn sollte es geben.

Hamilton hatte sich, wie üblich nach der Ankunft, gleich zum Motorboot begeben.
Es war sein Spielzeug und ihm jedes Mal eine Freude, an Bord steigen zu dürfen. Er prüfte den Tank, den Ölstand und setzte sich, einem Ritual gleich, mit einem Glas Whisky in der Hand auf den ledernen Sitz hinter das Steuer.
Ein leichter Wind wehte vom Meer, ansonsten war alles wie vor dem Sturm der letzten Tage. Versonnen blickte der Wochenendkapitän hinaus in die Weite des Meeres, als er Drissis Rufen vernahm.

Das Mittagessen war bereitet.
Hamilton stellte das leere Glas auf den Boden und hob seinen kräftigen, behaarten Körper aus dem Kapitänssitz. Im Gegensatz zu seiner Frau sah er älter aus, als er es tatsächlich war. Fünf Jahre nur trennten ihn von Shirleys Alter. Doch Hamilton wirkte wie jemand, der die Fünfzig schon länger überschritten hatte.

Gemächlich stieg er von Bord und hielt noch einmal Umschau. Stille überall. Von der Hektik der landeseigenen Wochenenden, die auf den Freitag fielen, war nichts zu spüren.
Gelangweilt dümpelten Jachten und Motorboote an den teils aufwendig hergerichteten, teils einfach gebauten Stegen. Die Glut der Mittagssonne stand über allem, schläfrig waren die wenigen Menschen in Obhar zu dieser Zeit.
Nachdenklich nahm Hamilton die wenigen Stufen hoch zum Eingang des Hauses und öffnete die Tür.
Shirley saß bereits am Mittagstisch, neben ihr stand Drissi mit dem Tablett. Eine erdrückende, unangenehme Stille herrschte im Speisezimmer. Unsichtbar, doch bereits zündelnd, schien eine Lunte den Raum zu durchlaufen. Hin zu der Stelle, die die Explosion auslösen würde.

Doch es blieb ruhig. Nur das Notwendigste kommentierend, dabei den Blicken des anderen ausweichend, nahm das Paar die köstlich zubereitete Mahlzeit zu sich. Und so blieb es bei wenigen Wortbrocken, die Hamilton und Shirley sich gegenseitig zuwarfen.

„Tauchen wir oder schnorcheln wir?“

Hamilton war es, der den ersten Brocken warf.

„Schnorcheln reicht mir heute!“

Zwei kurze Sätze nur, aber jeder konnte damit etwas anfangen.

Hamilton wusste, was er für den Nachmittag vorzubereiten hatte. Und Shirley konnte dem folgenden Schweigen entnehmen, dass ihr Vorschlag Gehör fand.
Hamilton stellte nach dem Essen die Ausrüstung zusammen und bat Drissi, diese aufs Boot zu tragen.
Shirley begab sich wieder hinaus in den Garten, verzog sich in ihre Bougainvillea- Ecke und las weiter in ihrem Buch.

Hamilton ging kurz darauf ins Gästezimmer, legte sich aufs übergroße Doppelbett, stellte den Ventilator an und fiel alsbald in einen tiefen Mittagsschlaf.

Pünktlich um drei, die Sonne zeigte erste Zeichen der Ermüdung, lebte Shariffs Gästehaus auf.
Es war ein günstiger Zeitpunkt für das vereinbarte Unternehmen. Das Essen war verdaut, die Hitze wurde erträglicher und der Meeresspiegel hatte seinen niedrigsten Tagesstand erreicht. Niedrig lag er damit auch über den verschiedenen Riffs, die in Sichtweite des Ufers oder auch im offenen Meer ihre felsigen, korallenbewerten Rücken bis an die Wasseroberfläche hoben.

Für das ausgeruhte Paar und ihr Vorhaben war dies das Startzeichen. Sie schlenderten, dabei gegenseitigen Abstand wahrend, hin zum Boot, überprüften noch einmal ihre Tauchutensilien und bereiteten sich auf die Abfahrt vor.
Drissi stand derweil auf dem Steg und wartete auf weitere Anweisungen. Da kein Wunsch mehr ausgesprochen wurde, löste er schließlich die Hanfseile von den muschelbewehrten Bohlen.

„Möchtest Du fahren?“

Hamilton stellte diese Frage immer, bevor sie in See stachen. Er wusste, dass Shirley das Boot so gut wie er beherrschte.

Doch letztlich war es nur eine rhetorische Frage. Fast immer verneinte sie, wohl wissend, dass ein Ja ihn unendlich enttäuschen würde. Das Boot war eines seiner liebsten Spielzeuge und die Freude daran, die fast kindliche Begeisterung, die wollte sie ihm nicht nehmen.


Doch heute lagen die Umstände anders. Hamilton war deshalb skeptisch und wartete gespannt auf Shirleys Reaktion. Dann, es schien ihm wie eine Ewigkeit, schüttelte sie ihren Kopf.
Erleichtert stellte er eine zweite Frage.

„Wohin?“

Kurz fiel sie aus, so, wie es sich für diesen Tag gehörte.

„Zwölf-Meilen-Riff!“

Es war relativ weit entfernt, 12 Meilen eben, dafür wesentlich naturerhaltener. Nur selten fuhren sie diese weite Strecke. Shirley blickte zur Seite, als sie antwortete.

„Und warum nicht das Vier-Meilen-Riff?“ Hamilton hätte sicher die kürzere Strecke bevorzugt.

„Weil es kaputt ist. Zerhackt und geplündert!“

Ihre Stimme hatte schon wieder diesen bösen Unterton. Fast so, als fiel ihr das Reden lästig
„Ich brauche heute eine heile Welt. Wenn ich sie hier oben schon nicht finde, dann wenigstens da unten!“

Diese Bemerkung traf zwei Ziele gleichzeitig.
Ihr persönliches Unglück schlug sie Hamilton damit um die Ohren, für das zweite konnte er nichts. Denn das Vier-Meilen-Riff wurde im Laufe der Jahre tatsächlich geräubert. Die fragilen, für die Unterwasserfauna lebenswichtigen Korallen waren zum großen Teil abgeschlagen, ihre grünlich-schwarzen Stümpfe und Reste übersäten den sandigen Meeresboden. Die brauchbaren, in Säure gereinigten Beutestücke zierten derweil Wände und Vitrinen gewissenloser, wissensloser Taucher.

Nach drei Versuchen heulte der Motor endlich auf.
Stahl und Holz vibrierten. Drisse drückte kräftig gegen die Reling und langsam löste sich das Boot vom Steg.
Shirley saß seitlich auf einer kleinen Bank, hielt dabei mit einer Hand den silberglänzenden Stahl der Bootsumrandung. Ihr blondes Haar war jetzt gelöst und flatterte wild im Fahrtwind. Über ihren schwarzen Badeanzug trug sie ein weißes, kurzärmeliges Hemd, das vorne zu einem Knoten gebunden war. Sie blickte nach vorn, aufs Meer. Ein stolzes, schönes Profil, das sich der sinkenden Sonne entgegenstreckte.

Hamiltons schwerer, behaarter und ölglänzender Körper hockte derweil hinter dem Steuer. Abwechselnd sah er hinaus aufs Meer und auf den Geschwindigkeitsmesser. Der Motor erbrachte knappe 25 Knoten. Und die hatte er fast erreicht.

Sobald das offene Meer vor ihnen lag, zog er das Steuer leicht nach Backbord. Irgendwo weit draußen, vom Meer bedeckt, lagen die Riffs.
Nur das auffällige Kräuseln des Wassers über ihnen, bei hohem Seegang die brechenden Wellen, verrieten ihre Existenz. Langgestreckten Bergkuppen mit tief abfallenden Hängen glichen sie. Übersät mit weißen und roten Korallen. Kräftig, baumstark die einen, filigran wie Spinnennetze die anderen. Dazwischen wog das Grün des Tangs, warteten riesige, geöffnete Konche Muscheln auf ihre Beute, wedelten rosarote Büschel der Seenelken. Auch sie unruhig, Nahrung suchend.

Versöhnlich stimmte es, wenn der Schwimmer oder Taucher wenige Meter über dieser fremden, verborgenen Welt im Wasser lag und die unendliche Vielfalt des Lebens und die Farbenpracht unter sich beobachten konnte.

Das Festland lag bereits weit hinter ihnen, die Küste zog sich als weißer, schmaler Strich am rückwärtigen Horizont entlang, als Hamilton die Geschwindigkeit drosselte.
Er zwängte seinen schweren Körper aus dem Kapitänssitz, hielt schützend die Hand vor die Augen und sah angestrengt aufs offene Meer. Dann erkannte er das unruhige Hin und Her auf der Oberfläche, die kleinen, in alle Richtungen tanzenden Wellen. Das Zwölf-Meilen-Riff lag vor ihnen.

Nach wenigen Minuten vorsichtiger Fahrt konnte man vom Boot aus den dunklen Grund erkennen. Hamilton war zufrieden, sein Spürsinn hatte ihn nicht verlassen.
Er stellte den Motor ab und streckte, einem Sieger gleich, die kräftigen Arme von sich.

„Geschafft!“

Es war das erste Wort in der andauernden Ruhe.

Shirley hantierte bereits mit ihrer Tauchausrüstung. Prüfte sorgsam den Verschluss der Tauchmaske und zog sich dann das Hemd aus.
Hamilton stieg derweil hinunter in die kleine Kajüte und kehrte gleich darauf mit einer Flasche Whisky und einem Glas in den Händen zurück.

„Geht es nicht ein einziges Mal ohne den Whisky? Musst Du schon wieder saufen?“

Verachtung lag in Shirleys Stimme. Unüberhörbar auch die Angriffslust, die mitschwang. Hamilton blieb stehen, die schmalen Augenschlitze auf seine Frau gerichtet.
„Was heißt hier schon wieder?“

Seine Hand mit dem halbvollen Glas zitterte, als er dann auf Shirley zuging. Dieses Mal war es seine Stimme, die viel zu laut war.

„Ich will Dir mal was sagen. Hier draußen“, und Hamiltons Arm mit dem Glas in der Hand holte aus zu einem Halbkreis, wobei er einen Augenblick stockte, „hier habe ich Urlaub, Feiertag, verstehst Du das? Und ich kann tun und lassen was ich will! Und wenn es Dich stört, mach Dich auf ins Wasser! Kannst Du nichts Anderes mehr von Dir geben als diese ewige Nörgelei?"

Und wie zum Trotz nahm er einen tiefen Schluck aus seinem Glas, wobei er seiner Frau noch näherkam.

„Komm mir nicht zu nah, Dein stinkender Atem stört mich.“ Ihre Hand hielt Shirley bei dieser Bemerkung vor Mund und Nase. Sie schien tatsächlich angeekelt, verzog das Gesicht zu einer Grimasse. „So, wie es mich jede Nacht ankotzt! Du bist einfach ein Widerling!“

Ihre Worte, dazu noch leise gesprochen, trafen Hamilton wie ein Stich. Wutentbrannt und mit einem kräftigen Schwung goss er den verbliebenen Rest seines Glases über Bord.
Es war sicher nicht die Reaktion auf den Vorsatz, einen Neuanfang zu beginnen. Es war eher verzweifelte Wut, die ihn dazu brachte, dass ihm Liebste über Bord zu schütten.

Wortlos lief er dann zur gegenüberliegenden Seite des Bootes und löste eine Aluminiumleiter, die an der Reling befestigt war. Vorsichtig ließ er sie ins Wasser und senkte die Haltebügel über den Bootsrand.
Zu hoch war der Rumpf des Schnellboots, um ohne diese Hilfe an Bord zu gelangen. Anschließend setzte er sich auf die Seitenbank und beugte sich über die Reling. Gedankenverloren blickte er hinunter zum Wasser, strich sich dabei zwei, dreimal durchs wilde Haar.

Nicht mehr als vielleicht drei, höchstens vier Meter trennte die Meeresoberfläche vom türkisblauen Grund des Riffs. Und sachte dümpelte das Boot vor sich hin.

Als Hamilton zur Seite schaute, stand Shirley an der Leiter.
Augen und Nase waren von der Tauchermaske bedeckt, ihre Füße umspannten graufarbene Gummiflossen. Dann bückte sie sich und prüfte den Sitz ihres Tauchermessers. Sie zog es aus einem Schaft, der an ihrem rechten Unterschenkel befestigt war. Es war ein großes Messer. Scharf und mit geriffelter Klinge. Mit dem Daumen zog sie an der Schneide entlang, als prüfe sie dessen Schärfe. Steckte das Werkzeug anschließend wieder zurück in den Schaft und stieg die Aluminiumleiter hinunter.

Hamilton beobachtete sie gelassen. Für einen Moment schien es, als belustigte ihn Shirleys Gehabe. Ein flüchtiges Lächeln durchzog sein Gesicht.

Kaum war der blonde Schopf Shirleys unter dem Bootsdeck verschwunden, stand er auf. Langsam ging er zur Leiter und beobachtete, wie seine Frau, im Wasser liegend, ihr Kopf dem Festland zugewandt, an ihrer Maske hantierte.
Plötzlich bückte sich Hamilton, fasste unter die Bügel der Leiter und hob sie leicht an. In diesem Moment beendete Shirley ihre Tauchvorbereitungen, ruderte mit den Beinen und griff mit zurückgestrecktem Arm zur Leiter.
Ihre Hand suchte und suchte. Überrascht sah sie zurück, blickte hoch zum Boot und sah Hamilton, wie er grinsend die Leiter in seinen Händen hielt.

„Willst Du mich umbringen?“

Sie schrie die Frage hoch zu ihm, Angst lag in ihrer Stimme. Unruhig ruderte sie mit den Beinen und Armen im Wasser, das blonde Haar lag wie ein Kranz um ihren Körper. Und sie fuhr fort:

„Mach, was Du willst, getötet hast Du mich schon lange vorher!“

Dies war nun keine Angst mehr, eher Ausdruck dessen, wie sie sich fühlte. Dann rückte sie ihre Tauchmaske zurecht, senkte den Kopf ins Wasser und schwamm mit wedelnden Flossen davon.

Mit dieser Reaktion hatte Hamilton nicht gerechnet.

„Shirley!“

Ihren Namen rief er so laut, dass sie unwillkürlich den Kopf aus dem Wasser hob.

„Shirley, es war nur ein Scherz! Lass uns endlich Frieden schließen!“

Und was für ein Scherz, fürwahr! War Hamilton am Ende seiner Argumente, hatte er sich in ihrer Stärke getäuscht?
Als Reaktion tauchte Shirley ihr Gesicht zurück ins kräuselnde Wasser. Ihre Beine streckte sie plötzlich in die Höhe, und mit den Flossen wedelnd verschwand sie im Meerestief.

Langsam setzte Hamilton die Leiter wieder zurecht.
Er war ungeschickt im Umgang mit Shirley, er spürte es. Missmutig, auch seines eigenen Verhaltens wegen, ging er zurück in die Kajüte und goss sich einen weiteren Whisky ein.
Grübelnd sah er aus dem kleinen Bullauge, wischte sich mehrmals über den Bart und nahm einen tiefen Schluck.

Dann bereitete auch er sich vor. Zog sich die Flossen über die Füße, die Tauchermaske über den Kopf auf die Stirn und stieg die Leiter hinab. Er nahm sich vor, die Ungerechtigkeit dieser Welt über dem Wasser eine Zeit lang zu vergessen.

Shirley hatte soeben den Bug des Schiffes umrundet, als sie unvermittelt den Kopf hob und beobachtete, wie Hamilton mit paddelnden Flossen dem Heck des Bootes zustrebte.
Plötzlich hielt sie inne und wartete. Als er nicht mehr zu sehen war, schwamm sie mit kräftigen Schlägen der Leiter entgegen. Kaum erreicht, umklammerte sie die erste Aluminiumstrebe, zog sich an den Sprossen hoch und stieg so schnell es die langen, störenden Flossen zuließen, an Bord.

Oben angelangt, bückte sie sich und griff unter die Bügel der Leiter. Wiederholte das Spiel, das er mit ihr trieb. Im gleichen Augenblick sah sie, wie Hamiltons Kopf am Bug erschien. Die Taucherbrille schob er sich hoch an die Stirn.
Sofort erkannte er, was vor sich ging. Hatte er sie nicht zu diesem Scherz animiert? Ein Lächeln überzog sein Gesicht und mit einem Satz erreichte er die unterste Sprosse.

Shirley spürte sofort den Widerstand seiner Kraft, als sie die Leiter anhob. Hörte sein höhnisches Gelächter, stockte für einen Moment und warf die Aluminiumstiege dann mit einem kräftigen Stoß ins Wasser.
Sekunden später rannte sie zum Ruder und drehte mit zitternder Hand den Schlüssel. Der Motor seufzte, schien für einen Augenblick zu starten und erstarb dann wieder.
Dann hörte sie ein Schlagen. Metall gegen Metall. Es war die Leiter, die an die Außenwand des Bootes schlug.

„Shirley, was soll der Blödsinn?“

Hamiltons lautes Rufen klang verärgert. Die Bügel der Leiter suchten dabei Halt, balancierten an der Reling entlang.
Shirley sah es und lief zurück an den Rand des Bootes. Die oberste Sprosse der Leiter und ein Bügel gleich rechts von ihr bewegten sich auf die Querstange der Reling zu. Sofort umklammerte sie das Aluminium, hob die Leiter an und warf sie erneut ins Meer.

„Was soll das, bist Du verrückt geworden?“

Hamilton ahnte, dass es diesmal kein Scherz war. Er begriff in diesem Moment, dass es um sein Überleben ging. Worte, gutes Zureden, es würde nichts mehr bringen.

Shirley lief zurück zum Steuer, drehte erneut den Schlüssel. Nach rechts und hielt ihn fest. Gleichzeitig ertönte wieder dieses klackende Geräusch. Stahl schlug erneut auf Stahl. Es kam näher. Klack, dann ein wiederholtes Schlagen.
Und endlich sprang der Motor an.

Shirley legte den Gang ein, drückte aufs Gas und sah dabei nach rechts. Panische Angst ergriff sie.
Einer der Bügel hatte sich in der Reling verfangen. Sofort zog sie das Boot nach Backbord, in eine scharfe Linkskurve. Während sie Geschwindigkeit und Steuerung beließ, stand sie zögernd auf.
Jeden Moment erwartete sie Hamiltons Kopf am Rande der Reling. Seine Augenschlitze, die breite Nase, das nasse, wirre Haar.

Langsam ging sie auf die Reling zu, der Wind zauste an ihrem blonden Haar. Dann warf sie einen Blick nach unten.

Hamilton umklammerte mit seinen Armen die dritte Sprosse. Der schwere Körper lag flach im Wasser, den Kopf hielt er dabei fest gegen die Leiter gepresst. Verzweifelt suchte er, den aufprallenden Fluten Stand zu halten. Die Taucherbrille hatte er längst verloren.

Shirley kehrte abrupt um. Setzte sich, ruhiger geworden, ans Steuer, erhöhte die Geschwindigkeit und vollführte die waghalsigsten Wendemanöver.

Dabei blickte sie stur nach vorn, die Augen halb geschlossen. Und die Lippen presste sie aufeinander, als wollte sie Hamilton nachahmen.
Kraft und Entschlossenheit waren ihr jetzt anzusehen, ihr ansonsten offenes Gesicht zeigte eine Kälte, die es fast entstellte.

Nach einer Weile blickte sie nach rechts. Der dunkle Punkt draußen im Wasser, vielleicht hundert Meter entfernt, war Hamilton.
Er hatte sich der Kraft des Wassers nicht widersetzen können. Irgendwann in den letzten Minuten musste er den Kampf gegen die Fluten aufgegeben, verloren haben.

Shirley saß am Steuer, drosselte die Geschwindigkeit und überlegte. Alles lag nun in ihrer Hand.
Da draußen schwamm er noch, ihr Ehemann. Sie konnte ihn retten, sie konnte ihn untergehen lassen.
Dann zog sie Bilanz. Saß im Kapitänsstuhl und sah, wie Hamilton langsam auf das Boot zu schwamm.

Fünfzehn Jahre waren sie verheiratet, davon drei, vielleicht auch vier Jahre ohne Probleme. Der Kindersegen blieb aus, dafür hatte es bei ihm nicht gereicht. Aber großen Wert hatte er auf Nachwuchs nie gelegt.

Eine Scheidung kam für ihn nicht infrage. Grundsätzlich nicht, und schon gar nicht der finanziellen Folgen wegen. Nur über meine Leiche, sagte er einmal. Damals, als sie ernsthaft die Trennung in Erwägung zog.

„Nur über meine Leiche“, murmelte Shirley. Hamilton war noch etwa 50 Meter vom Boot entfernt.

Die Sonne war inzwischen zu einem orangenen Feuerball mutiert und setzte sich gerade auf den wässrigen Horizont. Leise lief der Motor, das Boot schaukelte. Shirley stand auf und lief zur Kajüte.
Mit der Whiskyflasche und einem Glas kehrte sie zurück. dann goss sie fingerbreit den Alkohol ins Glas und schüttete den Rest ins Meer. Sie trank und blickte dabei hinüber zu Hamilton.
Doch plötzlich wurden ihre Augen nass, dicke Tränen liefen ihr die Wangen hinab.

„Shirley!“

Sie hörte den verzweifelten Schrei genau, als dieser durch das Geräusch des tuckernden Motors an ihr Ohr drang. Lang gezogen war er, anklagend, flehend und verzweifelt. Ein wenig brüchig kroch er über die unruhiger werdenden Wellen.
So anders war diese Stimme, so unterschiedlich zu dem, was sie bisher hörte.

Shirley setzte das leere Glas ab und ging zur Reling. Die noch an einem Bügel hängende Leiter hob sie an und befestigte sie vorsichtig in der vorgesehenen Halterung.

Dann setzte sie sich wieder ans Steuer, legte den Gang ein und drückte das Gaspedal. Erst noch unentschlossen, dann aber sehr bestimmt. Langsam wendete sie das Boot und fuhr in Hamiltons Richtung.

Tausend orangefarbene Sternchen glitzerten im Grauschwarz der Wellen, der Rest des Sonnenballs versprühte ein letztes Feuerwerk. Aber selbst bei genauem Hinsehen war Hamiltons Kopf nicht mehr auszumachen. Und auch kein Rufen folgte mehr.

Mit einem kräftigen Schwung des Steuerrades drehte Shirley dann nach Backbord und erhöhte erneut die Geschwindigkeit. Das Boot zog eine weite, ausholende Kurve, eine Abschiedskurve.
Noch einmal änderte sie die Richtung. Mit aufheulendem Motor fuhr sie jetzt dem Festland entgegen, einem vom Restlicht bestrahlter Strich am Horizont.
Shirleys Entscheidung war getroffen.

Fünfzehn Minuten später erkannte sie die schmale Einfahrt. Obhar lag vor ihr, ein kleines Licht auf der linken Seite musste der Eingang zu Shariffs Haus sein.
Sie drosselte die Geschwindigkeit und steuerte darauf zu. Noch bevor sie den Steg erreichte, schrie sie Shariffs Namen. Dann noch einmal, es klang wie ein Hilferuf.

Oberhalb des Stegs, auf der leichten Anhöhe, wurde die Eingangstür geöffnet. Shariff stand im Licht, Drissi neben ihm.

„Shariff!“
Wieder schrie Shirley seinen Namen.

Drissi lief die Treppe hinunter, Shariff in seinem weißen Gewand folgte ihm.

„Was ist, wo ist Hamilton?“

Shariff erkannte instinktiv den Grund ihres Rufens.

„Draußen, Shariff, draußen!“

Shirley zeigte mit dem rechten Arm aufs Meer.

„Draußen und ich weiß nicht, wo. Ich habe gesucht und gesucht!“

Sie schlug die Hände vors Gesicht und stand wie ein Häuflein Elend neben dem Steuer.
Drissi war an Bord gesprungen und befestigte die Hanfseile am Steg.

„Ruhig, Shirley! Ruhig! Wir werden ihn finden!“

Es klang nicht nur nach Beruhigung, sondern auch wie ein Befehl. Hamilton musste gefunden werden!
Shariff stieg an Bord und legte seinen Arm um ihre Schultern.

„Shirley, wo genau habt ihr getaucht? Komm, wir holen ihn!“

Es war eine ruhige, beruhigende Stimme, die auf Shirley einsprach.

„Drissi!“ Shariff wandte sich an den Hausjungen, “hol‘ die beiden Scheinwerfer!“

Shirley hatte sich inzwischen auf die kleine Bank vor der Reling gesetzt. Den Kopf gesenkt, die Hände immer noch vor ihr Gesicht haltend.
Shariff setzte sich neben sie.

„Shirley, Du hast mir noch nicht geantwortet. Wo habt ihr getaucht?“

„Am Vier-Meilen-Riff!“

Ihre Stimme war gefasst. So, als hätte sie ein Unglück akzeptiert. Und das unglücksbringende 12-Meilen-Riff hatte sie damit aus ihrem Gedächtnis verdrängt, gestrichen.

„Es wurde schon dunkel und plötzlich sah ich ihn nicht mehr. Und wieder hatte er getrunken!“
Es klang so anklagend, so verzweifelt.

 

Hallo beauchamps!

Ein herzliches Willkommen wünsche ich dir hier :)

Irgendwie hast du mit deiner Geschichte einen Nerv von mir getroffen. Mir gefallen dein Schreibstil und vor allem die Bilder, die durch ihn bei mir entstanden sind. Ein bisschen zeitlos, stellenweise fast schon verträumt ist die Geschichte bei mir angekommen. Gestört hat mich beim Lesen eigentlich nur eine kleine Sache: Dass das Paar anfangs in eine so passive Rolle gezwängt wird:

Die Fahrt des Paares dauerte gewöhnlich nicht lange. Es befuhr diese Strecke von Jedda aus ans Meer mindestens einmal wöchentlich. Der Erholung wegen, schon seit Jahren. Und gewöhnlich hatten sie schon nach einer halben Stunde ihr Ziel, Obhar, erreicht.
Hier mischst du als Autor für meinen Geschmack zu viel selber mit. Liegen kann das meiner Meinung nach an mehreren Sachen: Zum Einen, "hältst" du das Paar, wie schon gesagt, durch die Formulierung "Es befuhr diese..." sehr weit zurück. Da habe ich als Leser eigentlich das Gefühl, dass ich den beiden folgen soll, bzw. darf, es aber nicht schaffe, weil mich irgendetwas zurückhält. Mein Vorschlag wäre, dass du ihnen gleich anfangs einen aktiveren Part gibst. Beispielsweise mit "Sie fuhren diese..." oder dergleichen.

Als zweiten Punkt habe ich die Dialoge. Mit denen konnte mich während der ganzen Geschichte nicht so ganz anfreunden:

„Musst Du ewig nur saufen, ewig den Frauen hinterherlaufen?“
So normal das ausgedrückt ist, vielleicht kriegst du hier noch den Gedicht-Drall raus!
„Tauchen wir oder schnorcheln wir?“
...klingt durch die doppelte Wir-Konstruktion unfreiwillig komisch, finde ich.
Ich lasse es mal bei diesen beiden Beispielen.

Mit der zu breit geratenen Nase, den wulstigen Lippen und einem lockigen, dunklen Haarwuchs, der selbst die Ohren bedeckte, glich er eher einem Boxer als einem Manager.
Och nee... Kein Mainstream-Vergleich. :bib: Mein Deutschlehrer hätte hier gesagt, dass der Autor die Interpretation lieber dem Leser überlassen soll... Sonst bekommt der Leser möglicherweise das Gefühl, dass er glauben und annehmen muss, was da steht.-

Ich freue mich auf deine Rückmeldung!

liebe Grüße,
SCFuchs

 

Hallo SCFuchs,

bedanke mich für die sicher berechtigten Kritikpunkte bzw. Anmerkungen. Ich freue mich immer auf jegliche Rückmeldung zu meinen Erzählungen. Ich werde es für die Zukunft in diesem Sinne berücksichtigen und entsprechend ändern.

Zusätzlich freue ich mich natürlich, dass die Geschichte einen insgesamt positiven Eindruck hinterlassen hat und hoffe, dass auch der Rest des Buches - ohne sonderliche Änderungen/Ergänzungen - dem Leser gefällt. Diese Kurzgeschichte ist Teil eines bereits veröffentlichenten eBooks mit dem Titel "Ein Gewisses Risiko" (Erzählungen und Kurzgeschichten) - evtl. findest du die anderen Geschichten dort auch lesenswert :)

Nochmals besten Dank für deine Lese- und Schreibmühe!

beauchamps

 

Hallo beauchamps!

Willkommen bei den Wortkriegern.

Du bist ja hoffentlich nicht nur hier, um Werbung für dein Buch zu machen, oder?

Okay, zu dieser Geschichte, die ich unter dem Spannungsaspekt lese. Der Anfang ist nicht spannend, weil du 'ne Menge erklärst und den Spannungsaufbau dabei überhaupt nicht im Auge zu haben scheinst. Spätestens bei "Firmenniederlassung" denkt sich ein Spannungsleser: Was soll das ganze Blabla? Viele Spannungsleser steigen hier bereits aus deinen Text aus. Es gibt so viele Geschichten zu lesen.

Okay, ich will kommentieren, daher mache ich weiter, wo der Dialog beginnt. (Übrigens, das Anrede-Du schreibt man in literarischen Texten klein.)
Der Dialog ist genauer gesagt ein Ehestreit. Könnte spanndend sein, aber er bietet nichts, was ich nicht ähnlich schon tausend Mal gelesen habe. Wenn du mich als Leser packen willst, dann werde individueller in deinem Erzählen.

Im Wochenendhaus passiert auch nichts Interessantes. Ich scrolle inzwischen schon ziemlich. Dein Text ist viel zu lang für das, was da passiert (das Interessante passiert ja erst am Ende, aber bis dahin werden viele Leser gar nicht kommen), du schreibst viel zu viele Belanglosigkeiten nieder, und die auch nicht in originellen Formlierungen oder so.
Dazu die Handlung, die leider auch nicht originell ist, nicht, wenn man schon ein paar Krimis gelesen hat.

Tja, für mich war das nichts.

Grüße,
Chris

 

Hallo beauchamps,

Nochmals besten Dank für deine Lese- und Schreibmühe!
Gern geschehen! - und ich freue mich, dass du antwortest!
Verbesserungswürdig finde ich eigentlich, wie schon angesprochen, vor allem noch die Dialoge. Das kommt mir alles zu einfach daher. Keine Spannung, nichts Neues, was mich zum Weiterlesen "motivieren" könnte. Da musste meiner Meinung nach no'mal ran ;)
Wünsche dir viel Spaß dabei!


Übrigens, Chris Stone: krass, wie unterschiedlich man eine Geschichte sehen kann:

Tja, für mich war das nichts.
:lol:

Zusammen mit dem Tag 'Spannung' hast du da aber natürlich auf diese Weise voll ins Schwarze getroffen... Huiui, den (wunden) Punkt hatte ich mir gar nicht angeschaut. Vielleicht weil Spannung und Dunkles allgemein eher nicht so mein's ist...

liebe Grüße,
SCFuchs

 

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