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Das verwilderte Grundstück
„Macht, dass ihr wegkommt! Ich habe Feierabend, und von diesem neumodischen Rumgebettel halte ich sowieso nichts!“ Mit diesen Worten schlug Herr Sacher einfach die Tür zu.
„Ich hab dir doch gesagt, das hat keinen Zweck.“ Nadine warf Nils einen vorwurfsvollen Blick zu. „Er hat euch doch nicht mal eine Halloween-Party machen lassen.“
Ihr weiß geschminkter Bruder schien sie gar nicht gehört zu haben. „Na warte“, murmelte er wütend. „Es heißt ja nicht umsonst: Süßes, sonst gibt’s Saures!“ Er schwenkte die Tüte, die er in der Hand hielt.
Die Tüte mit den Eiern.
„Das kannst du doch nicht machen“, sagte Nadine. „In deiner eigenen Schule! Und schon gar nicht bei eurem Hausmeister. Er kennt dich doch!“ Sie war sowieso dagegen, irgendwelchen Leuten Eier an die Tür zu werfen, nur weil sie keine Süßigkeiten rausrückten. Sie fand, dass es dann einfach kein Spaß mehr war. Aber Nils bestand darauf, dass geizige Leute bestraft werden mussten. Deshalb ließ er Nadine die Stofftasche mit den eingesammelten Süßigkeiten schleppen, während er selbst die Plastiktüte mit den Eiern trug.
Wenn es nach Nadine gegangen wäre, hätte sie ihren Bruder gar nicht erst begleitet, sondern wäre mit Saskia und Dilan um den Block gezogen. Aber Mama und Papa meinten, Drittklässler – noch dazu Mädchen - könnten nicht alleine im Dunkeln herumlaufen. Deshalb war ihr nur die Wahl geblieben, auf Unmengen von Süßigkeiten zu verzichten oder mit ihrem zwei Jahre älteren, ätzenden Bruder zu gehen.
Nils gefiel das natürlich – einem netten, kleinen Mädchen gaben die Leute gerne etwas. Besonders, wenn sie so niedlich als gute Fee verkleidet war. Wenn er alleine unterwegs war, bekam er viel weniger. Er hatte aber auch selbst Schuld: Jeder in der Gegend wusste, dass er ständig nur Unfug im Sinn hatte und Ärger machte.
Ein richtiger Rabauke, sagte Oma immer.
Auch diesmal hatte ihn die Hoffnung auf Nadines Erfolg nicht getrogen. Fast an jeder Tür hatten sie etwas bekommen. Aber dann waren sie an der Schule vorbeigekommen, die Nils seit zwei Monaten besuchte (Nadine war nach wie vor schleierhaft, wie er es aufs Gymnasium geschafft hatte), und er war schnurstracks über den Schulhof zu dem kleinen Haus marschiert, in dem Herr Sacher mit seiner Frau wohnte. Dabei wusste er doch, dass der Hausmeister überhaupt nichts von so späten Störungen hielt. Vielleicht hätte Nils auch das Pappschild mit der Aufschrift „Kein Halloween!!!“ zu denken geben sollen, das an der Tür klebte.
Aber mit Denken war das bei ihrem Bruder nun mal so eine Sache, und auf seine Schwester hörte er ja schon aus Prinzip nicht.
Plötzlich hatte er dieses gefährliche Funkeln in den Augen, an dem Nadine erkannte, dass er wieder eine seiner bescheuerten Ideen ausgebrütet hatte. Die er selbst natürlich für genial hielt.
„Komm mit“, sagte er nur, verließ den Schulhof und ging die Straße entlang bis zur nächsten Kreuzung. Obwohl er alles andere als sportlich war, hatte seine Schwester jetzt Mühe, ihm zu folgen.
„Das verwilderte Grundstück!“, erklärte er unterwegs. Natürlich wusste Nadine sofort, was er meinte. Die Schule grenzte an ein großes, verwildertes Grundstück, direkt hinter Herrn Sachers Haus. Wenn sie sich von dort anschleichen würden, konnten sie Eier gegen die Fenster werfen, ohne dass jemand sie sehen würde.
Jetzt bog Nils rechts ab, ging an einem zweistöckigen Gebäude vorbei und blieb vor dem Bauzaun stehen, der das verwilderte Grundstück umgab.
Ängstlich ließ Nadine ihren Blick über die Büsche und Bäume hinter dem Zaun streifen. Im Dunkeln sah das Gelände aus wie ein riesiger Urwald, auch wenn viele der Bäume schon ihre Blätter verloren hatten. Nur die ersten paar Meter wurden von einer Straßenlaterne erhellt. Der Zaun auf der anderen Seite – dort, wo das Grundstück an die Schule grenzte – war nicht zu erkennen. Ebensowenig wie der Baucontainer, der schon so lange hier stand, dass er über und über mit Graffiti beschmiert war. Auf dem Gelände sollte anscheinend irgendwann etwas gebaut werden, aber der Zaun und der Container standen schon unverändert da, solange Nadine denken konnte.
„Also los! Er hat es verdient!“ Nils stampfte ein paar Meter weiter, ans Ende des Bauzauns. Zwischen dem benachbarten Geschäftshaus und dem Zaun war eine Lücke, durch die sich selbst ein Erwachsener zwängen konnte und die deshalb auch für den ziemlich pummeligen Fünftklässler kein Problem darstellte.
Da er wie immer nicht auf seine Schwester wartete, folgte sie ihm, bevor er in der Dunkelheit verschwinden und sie in dieser menschenleeren Straße allein zurücklassen würde. Sie drängte sich so dicht an ihn, dass er schließlich meinte: „Was hast du denn solche Angst? Ach, ich weiß – bestimmt hast du die Gerüchte über das Hexenhaus gehört.“
Vor Schreck blieb Nadine stehen, und diesmal hielt auch Nils an. Hier war es schon so dunkel, dass sich Nadine nicht sicher war, ob ihr Bruder tatsächlich grinste. „Was für ein Hexenhaus?“, fragte sie ängstlich.
„Na ja“, antwortete Nils gedehnt, „es gibt bei uns an der Schule so Gerüchte... Angeblich soll auf diesem Grundstück vor langer, langer Zeit ein Hexenhaus gestanden haben. Damals, als es rundherum noch keine Straßen und so gab. Als hier alles noch Wald war. Niemand weiß genau, was aus der Hexe geworden ist. Angeblich ist sie verbrannt worden. Es heißt aber, in Wirklichkeit konnte sie fliehen. Manchmal taucht sie wohl noch hier auf, aber nur in der Walpurgisnacht. Ach ja“ - Nadine war sich jetzt sicher, dass Nils grinste, sehr breit sogar – „und natürlich zu Halloween.“ Damit drehte er sich abrupt um und wälzte sich weiter durch das Unterholz.
„Hör auf!“, rief Nadine und lief ihm hinterher. „Das sag ich Mama, dass du mir absichtlich Angst machst!“
„Aber das Schlimmste hab ich doch noch gar nicht erzählt“, erklärte ihr Bruder, dessen Gesichtsausdruck beim besten Willen nicht mehr zu erkennen war. „Das war nämlich nicht irgendeine Hexe, sondern eine ganz berühmte. Von der hast du auch schon gehört. Es war nämlich genau hier, auf diesem Grundstück, wo Hänsel und Gretel fast verspeist worden wären.“
Jetzt hatte er es übertrieben. Mit so etwas konnte er einem Mädchen aus der dritten Klasse nun wirklich nicht mehr kommen.
„Ha, ha, sehr witzig“, murmelte sie und ging wieder etwas langsamer.
„Weißt du was?“, fragte Nils plötzlich. „Ich muss mal. Bleib hier und warte auf mich.“
„Spinnst du? Ich bleib doch nicht alleine hier stehen!“
„Zugucken kannst du jedenfalls nicht.“ Damit war er hinter dem nächsten Busch verschwunden.
„Wär ja sowieso viel zu dunkel dafür“, grummelte Nadine vor sich hin. „Man kann ja kaum noch die Hand vor den Augen sehen.“ Sie drehte sich langsam im Kreis. Fang jetzt bloß nicht an zu weinen, dachte sie. Sonst zieht er dich ewig damit auf. Überhaupt, was für ein Blödsinn. Hexen. Hänsel und Gretel. Klar.
Aber es war so schrecklich dunkel, und selbst die Straßenlaterne war inzwischen von Bäumen verdeckt.
Wo blieb ihr total bescheuerter Bruder eigentlich so lange? Sie fing an, ihn zu rufen. Einmal. Zweimal. Dreimal. Natürlich antwortete er nicht. War ja die Gelegenheit, ihr noch mehr Angst zu machen.
Schließlich hielt sie es nicht mehr aus und ging ihm einfach hinterher. Irgendwo hier musste er doch stecken!
In diesem Moment sah sie einen schwachen Lichtschimmer. Kam der aus Herrn Sachers Haus? Die Richtung stimmte ungefähr, aber nicht ganz. Wenn sie sich nicht sehr täuschte, dann musste dort drüben der Baucontainer stehen – eine Art Werkzeugschuppen aus Metall. Sie ging darauf zu, und tatsächlich erkannte sie jetzt deutlich die Form des Containers. Das Licht fiel durch ein Fenster in der Wand.
Merkwürdig, sie hatte gar nicht gewusst, dass der Container ein Fenster hatte. Aber natürlich war sie auch noch nie so nah dran gewesen.
Sie schlich sich an, um hineinzusehen. Dabei blickte sie aber ständig um sich. Irgendwo hier hatte sich Nils versteckt, ganz sicher, und jeden Augenblick würde er sie anspringen und erschrecken, so doll er nur konnte. Sie kannte ihn schließlich.
Endlich erreichte sie den Container, und im Lichtschein aus dem Fenster sah sie etwas so eigenartiges, dass sie ihren Bruder glatt vergaß. Die Wand des Containers war nicht gelb wie sonst, Nadine konnte auch keine Spur von den Schmierereien erkennen, und ganz sicher war das auch kein Metall. Es sah merkwürdig aus, beinahe wie... Aber daran wollte sie nicht einmal denken.
Trotzdem streckte sie die Hand aus, brach ein winziges Stück von der Wand ab, steckte es in den Mund und kostete. Das war aber ziemlich sinnlos, denn ihr wurde schlagartig klar, dass sie gar nicht wusste, wie Pfefferkuchen eigentlich schmeckte.
Mit Gänsehaut auf den Armen beugte sie sich vor und blickte durch das Fenster. Sie sah eine alte Frau, die in einer vielleicht noch älteren Küche stand. Ganz so alt konnte die Küche allerdings auch wieder nicht sein, immerhin schlug die Frau gerade Eier in eine Pfanne, die auf einem schon etwas rostigen Elektroherd stand.
Durch die Glasscheibe hörte Nadine die Frau sagen: „Was für ein glücklicher Zufall. Ich hatte schon den ganzen Abend Appetit auf Rührei, da kamen mir diese Eier gerade recht.“ Und noch während Nadine sich zwei Dinge gleichzeitig fragte – woher die alte Frau diese Eier hatte und in welche Richtung sie losrennen sollte, falls die Frau zum Fenster blicken würde -, fügte die Alte hinzu: „Aber was wäre Rührei ohne einen schönen Schinken, nicht wahr?“ Und dann lachte sie schrill und gehässig, und Nadine verlor jeden Zweifel daran, dass sie tatsächlich eine Hexe war.
Die Hexe drehte sich etwas und stand jetzt mit dem Rücken zum Fenster. Das gab Nadine die Gelegenheit, sich noch weiter vorzuwagen, und so sah sie schließlich den Käfig in der Zimmerecke. Er war aus dicken Holzstäben gebaut, und Nadine war nicht wirklich überrascht, Nils darin zu sehen. Er starrte die Hexe sprachlos an, ungefähr so, wie ein Kaninchen wohl auf eine Schlange starrt, die es fressen will.
Nadine dachte einen Augenblick nach. Dieser Elektroherd war eindeutig zu klein, um eine Hexe hineinzustoßen. Also Hilfe holen? Na klar, jeder Erwachsene würde sofort mitkommen, um ihren Bruder aus der Hexenküche im Baucontainer zu befreien. Sie hörte sich schon sagen: „Doch, wirklich, Sie müssen mir glauben! Sie kennen doch diese alte Hexe aus dem Märchen. Und sie hat meinen Bruder. Sie kennen doch meinen Bruder! Diesen Rabauken, der immer nur rumstänkert und mich zu Tode erschreckt und Leuten Eier an die Tür wirft, wenn sie keine Süßigkeiten geben.“
Na ja, versuchen musste sie es wohl. Er war ja immerhin ihr Bruder – auch wenn sie sich oft gewünscht hatte, ein Einzelkind zu sein. Also schlich sie auf dem Weg, auf dem sie gekommen war, zurück. Nicht zu schnell natürlich, sie wollte ja keinen unnötigen Lärm machen. War ja niemandem damit gedient, dass sie auch noch in diesen Käfig gesteckt würde.
Sie erreichte wieder den Bauzaun, zwängte sich durch die Lücke und machte sich auf den Weg nach Hause. Vielleicht, dachte sie, sollte sie nicht genau die Wörter „Hexe“ und „Käfig“ verwenden, wenn sie einen Erwachsenen um Hilfe bat. Sie sollte sich wohl lieber etwas einfallen lassen, das für einen Erwachsenen glaubwürdiger klang.
Sie ging noch etwas langsamer, damit sie Zeit hatte, sich etwas Glaubwürdigeres einfallen zu lassen. Vielleicht so etwas wie: „Mein Bruder hat unterwegs eine alte Frau getroffen. Ich weiß ihren Namen nicht, aber er kennt sie schon ganz lange, und sie hat ihn zum Abendessen eingeladen.“ Ja, das klang vernünftig.
Sie warf im Schein der Straßenlaterne einen Blick in die Tasche mit den Süßigkeiten. Ganz schön viel für ein einzelnes Kind, dachte sie.
„Ganz schön viel für ein Einzelkind“, verbesserte sie sich laut und grinste vor sich hin.
Ein Mann und eine Frau kamen ihr entgegen, sahen ihr Kostüm und riefen ihr zu: „Fröhliches Halloween!“
„Danke“, sagte sie höflich, während sie ihren Weg fortsetzte. „Das ist es schon.“