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Das Vermächtnis
Leben zu zeugen ist nicht schwer. Zumindest wenn man ein Wesen männlichen Geschlechts ist und dazu der menschlichen Art angehört.
Manchmal haben die Männchen dieser Art die Angewohnheit, sich auf Liebesakte ohne Geschlechtspartner einzulassen, sei es aus Langeweile, Entrüstung oder dem unerklärlichen Drang, die Muskeln der Arme trainieren zu wollen und das, obwohl der einsame Liebesakt von vielen Individuen derselben Art als ekelerregend empfunden wird und früher sogar als eine Krankheit oder als eine Expression böswilliger Kräfte angesehen wurde. Nichtsdestotrotz ist diese Art der Selbstverwirklichung eine der beliebtesten unter den Menschen.
Und so kam es, dass an einem regnerischen Sommertag ein gewisser Herr W., wohl aus Langeweile und Entrüstung zugleich, in völliger Einsamkeit seinen Arm trainierte. Nach erfolgter Erleichterung schenkte er das Licht hunderten Millionen von Keimzellen, die er liebevoll in der Toilette entsorgte.
Zur gleichen Zeit liess der sturmartige Regen gewaltige Wassermengen herniederprasseln, die die Kanalisation schnell zum Überfliessen brachten. Die Keimzellen des Herrn W., in der feindlichen Umgebung der Kanalisation eigentlich zum Tode verurteilt, wurden nach sehr kurzer Zeit über einen Überlaufkanal in einen See geschwemmt. Gerade mal 300 überlebten diesen Prozess und wie der Zufall es so wollte, erreichte ein Dutzend davon eine frei im Wasser schwimmende Eizelle eines Fisches.
Als ob das nicht genug wäre, schaffte es eine der Keimzellen, die Hülle der Eizelle zu durchdringen und sich mit ihr zu vereinen, denn sie war auf eine sehr eigenartige Art durch die Einwirkungen von Oxidantien, Säuren, Basen und mechanischen Kräften verändert worden, sodass sie einer Fischspermie sehr ähnlich war. Und auch das beschädigte Genom hatte es ein leichtes, mit der weiblichen Erbinformation des Fisches zu verschmelzen.
Nur wenige Tage nach der erfolgreichen Befruchtung, welche Wissenschaftler wohl als unmöglich bezeichnen würden, kam ein winziges Wesen auf die Welt.
Die kleine Kreatur erblickte die Umgebung, fühlte das Wasser, welches es sanft umhüllte und hörte zum ersten Mal in seinem Leben die Welt. Es bekam mit seinen winzigen Händchen den Stengel einer Alge zu greifen und klammerte sich krampfhaft daran fest. Es riss sein Maul auf und begann damit pumpende Laute zu erzeugen, die sich dumpf in der Wasserumgebung ausbreiteten. So blieb es und wartete auf etwas, wusste aber selber nicht auf was. Es fühlte sich alleingelassen und sehnte sich nach Zuneigung und Schutz.
Doch nichts passierte. Nach langem, unbeantworteten Schreien, realisierte die Kreatur, dass niemand kommten würde und entschloss sich, sein Leben selber in die Hand zu nehmen.
Es hatte das Bedürfnis, etwas zu saugen, also saugte es sich an dem erstbesten Objekt fest. Es lag gut in seinem kleinen Mund und war angenehm mit Schleim überzogen. Dass es sich dabei um das Auge einer Wasserschnecke handelte, konnte das kleine Wesen ja nicht wissen. Also saugte und saugte es, bis die gesamte Schnecke durch ihr Auge auf qualvolle Art und Weise im Inneren des Wesens verschwand.
Das gefiel der kleinen Kreatur und es bekam Lust auf mehr. Die Müdigkeit, die es anfänglich gar nicht als Müdigkeit erkannt hatte, verschwand und ein befreiendes Gefühl der Stärke machte sich breit.
Das Wesen begann sogleich von Schnecke zu Schnecke zu schwimmen und sie auszusaugen. Mit der Zeit begann es immer grösser zu werden und seine Gestalt zu verändern. Je grösser es wurde, desto mehr Schnecken musste es verzehren, bis es schliesslich auf die grösseren und nahrhafteren Fische überging, die es seltsamerweise durch das After auszusaugen pflegte.
Jahre vergingen, die Kreatur wuchs zu einer bemerkenswerter Grösse an. Es hatte lange, gut ausgebildete Finger, kraftvolle Muskeln an seinen Gliedern, die es gekonnt zum Schwimmen einzusetzten wusste. Es atmete durch die Haut, die mit einer dicken Schleimschicht überdeckt war. Dies funktionierte lange Zeit gut, doch immer öfter bekam das Wesen das Gefühl nicht genügend gut atmen zu können.
Und eines Tages betrachtete es die gelbweiss leuchtende Scheibe, die von weit oben her leuchtete. So weit es sich erinnern konnte war diese Scheibe immer da gewesen, abgesehen von den periodisch auftretenden Dunkelzeiten. Und da fragte sich das Wesen, wieso es eigentlich nie auf die Idee gekommen war, nach oben zu schwimmen und sich dieser Scheibe zu nähern. Da es nichts Besseres vorhatte und ein starkes Bedürfnis empfand, hochzuschwimmen, begann es sich auf die Scheibe zu zu bewegen.
Und nur wenige Augenblicke später tauchte es aus dem Wasser auf. Neugierig betrachtete es die neuartige Umgebung und begann instinktiv Luft mit einem Organ einzusaugen, das es bis jetzt nur für Anpassungen an Tiefenverlagerungen gebraucht hatte. Das rhythmische Pumpen des Organs liess das Gefühl der Atemlosigkeit verschwinden.
Das Wesen erblickte nicht weit von sich entfernt, den Rand seines Lebensraums, wo sich der Boden aus dem Wasser erhob und sich eine breite, schroff aussehende Fläche bildete. In der Ferne befanden sich Pflanzen, die das Wesen an Algen erinnerten, aber viel grösser waren und robuster aussahen.
Es schwamm zum Rande des Wassers, berührte den Boden mit den Beinen und bewegte sich vorsichtig und wacklig aus dem Wasser heraus. Es stand da, atmete die feuchte Luft und genoss die Wärme der hellen Scheibe, die hier viel angenehmer war. Die Scheibe selber liess sich aber nicht anschauen, denn ihr Licht bereitete seinen Augen Schmerzen.
Das Wesen ging zurück zum Wasser und wusch sich den Schleim von der Haut, welcher austrocknete und sich in Fetzen abzulösen begann. Als es sich aufrichtete erblickte es eine ihm ähnlich aussehende Kreatur, die der Wasserlininie entlang lief und sich ihm näherte.
Das fremde Wesen sah zart und friedlich aus, hatte lange helle Haare und trug eine Art verschiedenfarbige Überhaut. Sie gefiel ihm und erst jetzt wusste er, dass er ein er war und sie eine sie war.
Sie beobachtete ihn lange und aufmerksam, ohne von ihrem Weg abzuweichen. Seine unteren Körperteile fand sie wohl besonders interessant. Als sie ihm wieder in die Augen blickte, hatte sie gerötete Backen und sie verzog ihren Mund auf eine Art und Weise, die ihm sehr angenehm vorkam. Er empfand ihr gegenüber eine Zuneigung, die er sich selber nicht erklären konnte.
„Hallo“, tönte es aus ihr heraus.
Er fand es schön und versuchte sie nachzuahmen.
„Hallo“, sagte er mit kratzender Stimme, räusperte sich und wiederholte sich noch einmal. „Hallo.“
Das weibliche Wesen verzog seinen Mund noch stärker und blickte ihn mit grösser werdenden Pupillen an.
„Woher kommst du? Ich habe dich noch nie hier gesehen“, sagte sie.
Er wollte es wiederholen, doch hatte er diese lange Tonfolge schnell wieder vergessen. Stattdessen verzog er seinen Mund auf die gleiche Art und Weise, wie sie es tat.
Sie blickte ihn längere Zeit erwartungsvoll an.
„Du bist mir ein komischer Kerl“, sagte sie. „Was machst du hier so ganz alleine?“
„Alleine“, wiederholte er.
Sie warf auf einmal ihren Kopf nach hinten und machte laute Geräusche.
„Ich sehe, du redest wohl nicht viel“, sagte sie dann nach einer kurzen Pause.
Sie liess ihren Blick über die Umgebung schweifen. „Es gehört sich nicht, ohne Kleider herumzulaufen. Und so wie es aussieht hast du gar nichts dabei. Komm mit. Wir ziehen dir was über.“
Er fühlte, wie ihre weisse, weiche Hand sich langsam um die seine schloss. Ein angenehmes Gefühl breitete sich in seinem gesamten Körper aus. Das weibliche Wesen begann zu gehen und zog ihn mit sich. Er wehrte sich nicht. Er wusste, dass es das Richtige war.
Kurz bevor sie in den Wald aus den robusten Algenpflanzen eintauchten blickte er zurück zu seiner Geburtsstätte, die nun ganz klein und unbedeutend aussah; eine ruhige Wasserfläche, die sich in die Weite zog und von endlosen Wäldern umgeben war. Es tat ihm leid, seine Heimat zu verlassen, doch nun fühlte er sich wohl und er wusste, dass eines Tages er und seine Nachkommen wieder dorthin zurückkehren werden.