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Das Vermächtnis des Kürbismannes
Wir schreiben das Jahr 1890. Knusti Hosenlupf war 50 Jahre alt und Bauer von Beruf. Er war im Gemüseanbau tätig, vorzugsweise Kürbisse. Sein grösster Traum war es, beim diesjährigen Kürbiswettbewerb den ersten Platz zu belegen. Dieser Wettbewerb fand jedes Jahr in seinem Dorf statt und zeichnete die drei grössten und schönsten Kürbisse aus. Der erste Platz war mit sage und schreibe 500 Groschen dotiert, der zweite Platz mit null, und der dritte mit dem Tod. Tja, so war das damals, die Zeiten waren hart. Letztes Jahr hatte Knusti den dritten Platz glücklicherweise nur knapp verfehlt und war dreineinhalbster geworden.
Knusti's Geheimnis war ein Spezialdünger, welchen er während 9 Monaten feinsäuberlich vorbereitete. Er hatte nur zu diesem Zweck eine Art Holzkammer gezimmert, damit er dort das Düngermittel reifen lassen konnte. Dabei handelte es sich um ein sogenanntes verfeinertes "Schichten-Konzept". Zuerst seinen Kot, dann etwas Stroh darüber, zugleich eine Prise Eigenurin und darüber etwas Eierschalen sowie frisches Heu, geträuft in Soja. Das Soja war der neuste Tipp seines Grossvaters. Er war überzeugt, dass er mit diesem Superdünger am diesjährigen Wettbewerb gewinnen konnte. So war die Zeit gekommen, im Frühjahr, mit dem Anpflanzen zu beginnen.
Sein Sohn Haurucki war ebenfalls vom Kürbisanbau angefressen. Er stammte ursprünglich aus Japan, daher auch der eigenwillige Name. Knusti hatte ihn vor einigen Jahren bei seinem letzten Japan-Urlaub adoptiert, damals war dies noch ohne grosse Bürokratie möglich, er sah den Jungen auf einem Markt und ersteigerte ihn für 200 Yen. In den darauffolgenden Jahren hatte er den Jungen fachmännisch ins Kürbisgeschäft eingeführt und ihm seine langjährigen Erfahrungen überliefert.
Nun war also der Tag der Anpflanzung gekommen. Knusti und Haurucki pflanzten jedes Jahr 50 Kürbisse in einer Reihe, direkt neben den Mangrovenbäumen auf dem Acker. So auch dieses Jahr. Knusti's Frau, Aikido, hielt das Kürbiswettrüsten für Unfug und Zeitverschwendung. Sie stammte ursprünglich aus Schleswig-Holstein, Knusti und sie hatten sich lustigerweise während eines Banküberfalls kennengelernt, wobei Knusti einer der Bankräuber war, was er jedoch bis heute vor ihr verschwieg. Während also Vater und Sohn die Kürbiskerne fachmännisch in den Boden stopften, beobachtete Aikido das bunte Treiben und nörgelte dabei vor sich hin. "Ist doch Kindergarten. Soll sich lieber mal ums Vieh kümmern..."
Seinen Grossvater Helmut hatte Knusti ebenfalls aus dem Land der aufgehenden Sonne importiert. Im Gegensatz zu Aikido hielt dieser den Anbau von Kürbissen für eine edle Sache. Er hatte Knusti bereits in jungen Jahren, genau wie Knusti heute seinen Sohn, in die Kunst der Kürbiszucht eingeführt. In seiner Heimat war er bekannt als der Kürbismann, da er dort die grössten und schönsten Exemplare weit und breit hervorgebracht hatte. Für eine aktive Beteiligung war er inzwischen jedoch zu alt. Er hockte jeweils auf der Veranda in seinem Lehmstuhl, den Knusti einst für ihn getöpfert hatte, und rief den Beiden zu: "Nein, etwas mehr nach rechts, ja, so ist es gut! Nein, die Kerne brauchen mehr Abstand! Nicht zwei Weibchen zusammen, die vertragen sich nicht!", und so weiter. Auch wenn die Ratschläge Gold wert waren; Knusti war am Abend jeweils ein bisschen von Grossvater's besserwisserischer Art genervt und war froh, wenn die Kürbiskerne einmal im Boden versorgt waren. Um 20 Uhr war es soweit. Die Kerne waren gesät, und nun kam die Düngermischung zum Einsatz. Knusti überliess die Düngerung seinem Grossvater und begab sich ins Haus, um in der Küche ein heisses Bad zu nehmen, während Haurucki noch im Maisfeld Verstecken spielte. Helmut war besonders stolz auf die neueste Düngerkreation, deshalb wollte er der erste sein, der die Mischung ausprobieren durfte. Also nahm er seinen Gehstock und ging zur Düngerkammer. Als er gerade die Tür öffnen wollte, spürte er es. Einen stechenden Schmerz in seinem Herz, der bis in seinen linken Arm ausstrahlte. Als fleissiger P.M.-Leser wusste er sofort, was mit ihm geschah. Es musste sich um einen Herzinfarkt handeln. Er brach zusammen und rief mit letzter Kraft: "Haurucki! Haurucki! Eile mir zur Hilfe!" Was er in seinem Schock vergass: Der Junge sprach nur russisch, da er usprünglich von einem Japaner aus Russland adoptiert worden war, bevor Knusti ihn auf dem japanischen Markt erworben hatte. Der 11-jährige verstand also nicht, was sein Urgrossvater ihm zuschrie. Zudem hielt er sich im Maisfeld auf, knapp fünfhundert Meter vom Anwesen entfernt, und konnte sowieso nichts hören, denn was niemand wusste: Der Junge war von Geburt an taub. So kam es, dass Helmut neben dem Düngerhäuschen verstarb.
Am nächsten Morgen machte Knusti den grausigen Fund. Die Familie beschloss, zu Ehren Helmuts dieses Jahr den allergrössten, wunderschönsten und grandiosesten Kürbis aller Zeiten zu präsentieren, und mit dem Preisgeld eine Stiftung gegen Herzversagen zu gründen. Auch Aikido, welche die ganze Kürbisgeschichte sonst für deppert hielt, war nun der Überzeugung, dass es ihre Bestimmung war, in diesem Jahr zusammen mit Knusti und Haurucki den besten Kürbis zu züchten. Helmut wurde noch am selben Tag hinter dem Haus bestattet, im alten Kartoffelfeld, welches Knusti aber schon seit Jahren nicht mehr bewirtschaftete, weil er in den letzten Jahren ganz den Kürbissen verfallen war. Damals kannte man noch keine Särge, und Helmut wurde in den Kleidern, die er bei seinem Ableben getragen hatte, in die feuchte Erde gelegt und begraben.
Wenige Tage später begannen Knusti und Haurucki mit dem Verteilen des Düngers, welcher sehr grobe Klumpen enthielt. Knusti war überrascht, aber dachte sich nichts weiter dabei.
Über die kommenden Wochen wuchsen und wuchsen die Kürbisse, bis der Wettbewerb nur noch 6 Tage bevorstand. Knusti wusste um seinen argsten Widersacher, den Bauer Wilfried, der regelmässig den ersten Platz belegte. Er gab Haurucki den Auftrag, dessen Felder zwecks Spionage zu inspizieren, um in den letzten paar Tagen noch das Maximum aus seinen eigenen Kürbissen herauszuholen, auch wenn dies hiesse, die Technik von seinem Erzfeind kopieren zu müssen.
Haurucki war aufgrund seiner Grösse - er war kleinwüchsig - perfekt geeignet für einen solchen Spionageeinsatz. Ausgerüstet mit einem Notizblock und einer Füllfeder begab er sich am Sonntagmorgen auf das Feld von Bauer Wilfried. Dort angekommen, legte er sich ungefähr 100 Meter vom Kürbisfeld entfernt ins hohe Gras und hielt dort inne. Nachdem während drei Stunden nichts passierte, was ihm irgendwie von Nutzen gewesen wäre, begann er, langsam Richtung Kürbisse zu robben. In einiger Ferne sah er Bauer Wilfried nackt auf seiner Veranda sitzen, mit einem Hut über dem Gesicht und seiner Schrotflinte im Arm. Er schien vor sich hin zu dösen. Trotzdem musste Haurucki vorsichtig sein, denn Wilfried hatte Spürhunde, die regelmässig seine Felder durchkämmten und jedem Eindringling gnadenlos am Bein herumrammelten. Als Haurucki den Kürbissen direkt gegenüberlag, stellte er aufgrund des Geruches fest, dass Wilfried die Kürbisse offenbar mit Fliegenurin düngerte, anstatt wie üblich mit Dünger aus Mist. Dies notierte er in seinem Notizheft. Weiter sah er, dass Wilfried um jeden Kürbis herum einen separaten kleinen Zaun aus Streichhölzern aufgestellt hatte, vermutlich um Schnecken und andere Schädlinge fernzuhalten. Der Mann war ein Genie. Während Haurucki seine Notizen machte, spürte er, wie der Boden zu vibrieren begann. "Was zum heiligen Kanonenrohr ist das denn?" dachte er in russisch, und drehte sich um. Da sah er, wie sich von hinten Wilfried's Frau auf einem Mähdrescher näherte. Doch als er dies bemerkte, war es schon beinahe zu spät. Wegrennen konnte er nicht mehr, da er seit Geburt lahme Beine hatte und sich nur robbend fortbewegen konnte. Der Mähdrescher hingegen kam mit hoher Geschwindigkeit auf ihn zu. Man muss sich dieses Gefährt sehr primitiv vorstellen, da es zu dieser Zeit noch keine motorisch betriebenen Fahrzeuge gab. Der Mähdrescher wurde von zwei Ochsen gelenkt, während der Fahrer in einer erhöhten Kabine weiter hinten sass und den Ochsen wiederum akustische Richtungsanweisungen zurief. Die Tiere waren trainiert worden, um die Worte "Links, Rechts, Vorwärts, Halt" zu verstehen und in motorische Bewegungen umzusetzen. Dahinter steckte jahrelange Inzucht und hartes Training. Trotzdem: Das Gefährt hatte ein enormes Gewicht, und die Ochsen hatten ein ordentliches Tempo drauf. Haurucki merkte, dass die Frau auf dem Fahrzeug ihn offenbar wegen des hohen Grases nicht sehen konnte, und wollte schreien, was ihm jedoch aufgrund seines fehlenden Kehlkopfes, den er bereits seit Geburt nicht besass, misslang. Es kam, wie es kommen musste, und Lieselotte, so hiess die gute Frau, überfuhr den kleinen Haurucki. Eine Leuchtfackel, welche der Bub in seiner Hosentasche gehabt hatte, ging zufällig los, als sich der Mähdrescher genau über ihm befand, und als Lieselotte das gleissend helle Licht unter dem Fahrzeug sah, bemerkte sie, dass etwas nicht stimmen konnte. Als sie abstieg und das Ausmass der Katastrophe realisierte, war sie am Boden zerstört. Sie alarmierte sofort ihren Mann, der sich, wie bei einem Notfall üblich, nicht die Zeit nahm um sich anzuziehen, und stattdessen nackt daherzurennen kam. Die Beiden vermuteten, dass sich der Junge zum Spielen und Herumtoben ins Gras gelegt hatte, und benachrichtigten Knusti per Brieftaube - das war damals das schnellste Kommunikationsmittel - über den tragischen Vorfall.
Als Knusti die Nachricht erhielt, war er natürlich erstmal geschockt und eilte sofort herbei. Was, wenn Wilfried die Spionageaufzeichnungen bemerkt hatte? Glücklicherweise konnte das Leben des kleinen Haurucki gerettet werden, da der Mähdrescher nur seine ohnehin lahmen Beine erfasst hatte. Allerdings musste er sofort ins Krankenhaus eingeliefert werden, und da er aufgrund des Schocks sowie der sprachlichen Differenzen nicht ansprechbar war, konnte er seinen Vater nicht mehr über die Spionagebeobachtungen in Kenntnis setzen. Kurze Zeit später kam der Krankenwagen, ebenfalls von Ochsen gezogen, und der verletzte Junge wurde auf den Karren gehievt. Haurucki wurde im Eiltempo ins Krankenhaus gebracht.
Wilfried, immer noch nackt, und seine schluchzende Frau klopften dem bleichen Knusti auf die Schultern. "Wird schon werden, ist ja ein kräftiger Bursche!", sagte Wilfried, und verliess dann zusammen mit seiner Angetrauten den Schauplatz. Knusti winkte dem Krankenwagen noch hinterher, und wollte sich dann auf den Heimweg machen. Das diesjährige Kürbiswettrüsten war eine einzige Katastrophe. Sein Ehrgeiz hatte schon zwei Opfer gefordert. Wie weit musste er noch gehen, um den ersten Platz zu gewinnen? Er fühlte sich elend und wollte nur noch nach Hause, um ein heisses Bad zu nehmen. Da bemerkte er auf dem Boden einen zerknitterten Notizzettel. "Moment mal...", sagte er. Er bückte sich, und hob das Papier auf. Als er es sorgfältig auseinanderfaltete, hätte er fast laut aufgeschrien vor Glück. "Haurucki, du kleiner, schlitzäugiger Bastard! Hahaha!" Auf dem Papier waren sämtliche Notizen von Haurucki's Spionagemission niedergeschrieben. "Und ich dachte, es sei alles verloren..." Er rannte, so schnell er nur konnte, nach Hause.
Dort angekommen, begab sich Knusti sofort in den Kuhstall. "Aikido! AIKIDO!!!", schrie er. Sein Frau eilte herbei. "Was ist denn? Wie geht es Haurucki?"
"Er wird wieder gesund. Aber viel wichtiger: Ich habe seine Notizen gefunden! Los, fang mir alle Fliegen hier im Stall ein und melke sie! Dann: Fahr zum Schreiner und besorge 500 Streichhölzer! Ich kümmere mich um den Rest."
"Fliegen? Streichhölzer..? Aber Knusti, was zum heiligen Buschtelefon hast du vor..?"
"Später, Schatz, später. Die Zeit läuft! Na los!"
Seine Frau gehorchte und holte eine Mistgabel, um die Fliegen im Stall in eine Ecke zu drängen und dann einzufangen. Knusti begab sich währenddessen auf sein Kürbisfeld. "Mein Dünger taugt nichts, der muss weg!", schrie er, während er wie ein Irrer den Mist entfernte. Zwei Stunden später kam auch bereits Aikido mit einem Trottinett angedüst, gleichfalls mit drei Ochsen gezogen, was ziemlich schwer war zu dieser Zeit, da man das Gleichgewicht halten musste, ohne die Füsse zu benutzen. Eigentlich gehörte das Trottinett Haurucki, aber dieser hatte keine Freude daran gefunden. Und die Eltern ärgerten sich nur um die Groschen, welche Sie dafür bezahlt hatten. Doch in dieser Situation war es perfekt, um Knusti die gewünschten Dinge zu liefern. Sie übergab ihm das Fliegenurin und die Streichhölzer. "Was hast du denn vor damit?!", fragte sie endlich.
"Iwanuga hana!", antwortete Knusti, was in japanisch soviel bedeutete wie "Schweigen ist Gold". Er war durch die Aufregung nämlich ein wenig paranoid geworden, und befürchtete, seine Frau würde ihm, sofern sie von seinem Vorhaben erfahren würde, mit einer eigenen Kürbiszucht Konkurrenz machen und ihm vielleicht sogar den ersten Preis abjagen. Das konnte er nicht riskieren, nicht so knapp vor dem Ziel.
Knusti war voll im Vibe, er steckte die Streichhölzer akurat in den Boden, und träufelte das Fliegenurin sorgfätig auf die Erde. Dies wiederholte er während den nächsten Tagen.
Nun waren es noch zwei Tage bis zum grossen Tag! Knusti und Aikido waren entschlossener denn je, den Wettkampf für sich zu entscheiden. Die folgenden beiden Nächte verbrachte Knusti auf dem Kürbisfeld, um in der Endphase rund um die Uhr für seine Kürbisse da zu sein. Wenn Aikido tagsüber mit einer warmen Mahlzeit vorbei kam, schlang Knusti diese wie ein Verrückter hinunter, um die Ablenkung möglichst kurz zu halten. "Helmut... Haurucki... Ich werde euch rächen! Die Opfer werden sich gelohnt haben, das verspreche ich euch!", sagte er, während er zusammengekauert vor den Kürbissen sass. Der Schlafmangel hatte bereits Spuren hinterlassen, und tiefe Furchen zierten Knusti's Gesicht. In der letzten Nacht bewegte sich Knusti gefährlich nahe am Wahnsinn. Im Halbschatten des Mondes kauerte er vor den Kürbissen, welche ihn wie fette, orange Gesichter anstarrten. Knusti nagte an einer Wurzel, die er im Gras gefunden hatte, und murmelte vor sich hin: "Das Grauen... Das Grauen hat ein Gesicht... Das Grauen..."
Doch am nächsten Morgen war es endlich soweit. Der grosse Tag war herangebrochen. Knusti und Aikido gingen langsam durch das Feld, um die drei grössten Kürbisse zu ernten. Alle 50 Stück konnten sie nicht mitnehmen, dazu war die damalige Transporttechnik noch nicht weit genug fortgeschritten. Auf dem Weg zum Austragungsort, dem Dorfplatz, würde Knusti dann von den drei Kürbissen den einen aussuchen, welchen er ins Rennen schicken wollte. Nachdem die beiden sich für drei Exemplare geeinigt hatten, machten Sie sich mit der Schubkarre auf den Weg. Die Schubkarren damals sahen noch anders aus, als man sie heute kennt. Vorne war zwar ein Rad befestigt, dafür fehlten hinten die Griffe, womit man die Schubkarre heben und anschieben konnte. Im Prinzip handelte es sich einfach um eine Blechtonne mit einem Rad darunter. Man musste das Gefährt also andauernd balancieren, damit es nicht umfiel. Am besten ging dies, wenn zwei Personen die Karre seitlich hielten.
Auf dem Dorfplatz war die Hölle los. Dutzende von Kürbissen waren bereits aufgestellt worden, und die stolzen Besitzer sassen jeweils daneben und schrien herum. Ein Kürbis war bereits von streitenden Männern zertreten worden, und sein breiiger Inhalt breitete sich langsam unter ihm aus. Der Druck wurde jedes Jahr grösser, so kam es Knusti vor. Doch das Mitmachen war schlussendlich freiwillig. Knusti suchte sich einen Platz, wo er seinen schönsten Kürbis aufstellte. Er schaute sich bereits nach Wilfried um, doch er konnte diesen nirgends sehen! Die Dorfgemeinde hatte extra einen Mini-Kran gemietet, angetrieben durch Ochsen, damit die Kürbisse auf dem Dorfplatz positioniert werden konnte. Knusti war sehr nervös, denn wenn etwas schief ging mit dem Kran, wäre der Traum zerplatzt und die Rache dahin. Da sah er ganz weit hinten am Markt seinen Widersacher Wilfried, nackt, wie immer. Die fehlende Bekleidung schien offenbar sein Markenzeichen zu sein. Er zog eine Karre hinter sich her, doch Knusti konnte den Kürbis nicht sehen. Mit zusammengekniffenen Augen versuchte er, wenigstens den Umriss des Kürbisses zu erkennen. Als Wilfried näher kam, verstummten die lärmenden Leute mit einem Schlag, und Knusti sah den Kürbis. Wilfried's Exemplar war noch grösser und schöner als letztes Jahr. Knusti blickte zu seinem eigenen Kürbis, der ein wenig kleiner war und auf einer Seite ein paar wenige Flecken hatte, so wie praktisch alle anderen Kürbisse auf dem Markt.
"Oh Gott, ich habe nicht den Hauch einer Chance. So ein Mist...", sagte Knusti verzweifelt.
"Gib nicht auf, vielleicht geschieht noch ein Wunder!", sagte Aikido und legte ihren Arm tröstend um ihren Mann.
Während der nächsten zwei Stunden wurden die Kürbisse von ihren Besitzern noch ins rechte Licht gerückt, also poliert, eingeölt, und dann so gedreht, dass die beste Seite gegen die Jury zeigte. Knusti's Kürbis stand direkt neben Wilfrieds. Die beiden Kontrahenten warfen sich verächtliche Blicke zu. "Du und deine idiotisch Frau habt meinen Sohn auf dem Gewissen", sagte Knusti zornig.
"Er hätte sich ja auch nicht so dämlich ins hohe Gras legen müssen. Wie dumm muss man sein?!", gab Wilfried zurück.
"Deine Nackedei ist widerlich, du anarchistischer Prolet!"
"Lassen wir doch einfach die Kürbisse sprechen, oder Knusti? Haha!"
Knusti verstummte. Wilfried hatte Recht. Es gab nichts mehr, was Knusti jetzt noch tun konnte. All seine Beleidigungen und Vorwürfe brachten ihn nicht weiter. Er würde dieses Jahr wieder nicht als Sieger hervorgehen.
Die Jury bestand aus Donald McDünger, Inhaber einer Kürbis-Fastfood-Kette, Peter Weller, Chef der Vereinigung für moderne Bauern, sowie Polly Duster, einem tschechischen Busenwunder, das von Kürbissen nicht die Bohne verstand, aber einfach dazugeholt wurde, um dem Anlass einen Hauch Erotik zu verleihen und das öffentliche Interesse zu steigern. Die Jury begann ganz vorne beim ersten Kürbis. Jeder Kürbis erhielt von den Juroren jeweils eine Punktevergabe von 1 bis 10. Knusti und Wilfried waren ganz am Ende der Kette. Während Knusti zusah, wie sich die Juroren von Kürbis zu Kürbis vorarbeiteten, knetete er aufgeregt die Innenseite seiner Hosentaschen, wie er es immer tat, wenn die Umstände ihm Anlass dazu gaben. Da fiel ihm auf, dass neben dem bisschen Kleingeld, dem wiederverwendbaren Pflaster und seinem vollgerotzten Taschentuch, das er immer in seinen Hosensäcken aufhob, auch noch ein kleines Stück Papier dazwischen war. Er runzelte die Stirn und zog das Papier aus seiner Tasche. "Was zum heiligen Güllenloch ist das denn?", fragte er sich. Auf dem Papier stand nur "Hinter dem Haus, mein Sohn. Hinter dem Haus." Knusti wurde schlagartig klar, was hier los war: Irgendjemand hatte ihm den Fötzel Papier aus irgendeinem Grund in die Hose gesteckt, um ihn auf irgendetwas aufmerksam zu machen. Doch was konnte dies sein? Knusti begann zu hirnen. Hinter dem Haus? Hinter welchem Haus? Und wer nannte ihn 'mein Sohn'? Knusti war ratlos.
Die Juroren waren mittlerweile in der Mitte der Kürbiskette angekommen. Polly Duster sagte irgendetwas Bescheuertes, das wohl witzig sein sollte, und die Männer gröhlten, wohl in der Hoffnung, bei ihr zu landen. Als Knusti die balonartigen Brüste der Blondine anstarrte, kam es ihm auf einmal. "Grossvater!", rief er, und die Leute drehten sich verwundert nach ihm um. Knusti rannte los, und liess die Menge ratlos zurück. "Lauf, Forrest, lauf! Hihi!", scherzte Polly Duster, und die Menge tobte und klatschte.
Völlig verschwitzt und röchelnd kam Knusti bei seinem Bauernhof an. Er musste sich kurz in die Knie stützen und verschnaufen, doch ihm lief die Zeit davon. Er richtete sich wieder auf und rannte um sein Haus herum zum Kartoffelfeld. Als er um die Ecke kam, traute er seinen Augen nicht. Über dem Grab von Helmut lag ein riesiger Kürbis. Er war von einer absolut perfekten Rundung und leuchtete in einem sagenhaften, köstlichen Orange. Sein Durchmesser war enorm und betrug einen guten Meter, die Oberfläche war blitzblank und nicht mit der kleinsten Unreinheit versehen. Und dies alles ohne Spezialdünger, ohne Streichhölzer, Fliegenpisse oder dergleichen. Wie konnte das nur sein? Knusti kamen die Tränen und er sackte lachend zusammen. "Aber natürlich...", begriff er plötzlich. Grossvater Helmut hatte immer einen kleinen Kürbiskern in seiner Brusttasche mit sich getragen. Wenn Knusti ihn jeweils gefragt hatte, was er mit dem Kern denn wolle, hatte Helmut immer nur erwidert: "Er bringt mir Glück. Und dir eines Tages auch, mein Sohn." Knusti konnte mit Philosophie und Gefühlsgedöhns nie viel anfangen, doch nun begriff er. Als Helmut vor einigen Wochen mitsamt dem Kern in der feuchten Erde begraben worden war, sollte der kleine Kern zu Helmut's letztem Vermächtnis heranwachsen: Dem perfekten Kürbis. Trotz der enormen Emotionalität, die Knusti nun durchfuhr, durfte er jetzt keine Zeit verlieren. Er sprang auf, rannte zum Grab und sagte: "Danke, Opa. Du bist der Beste! Du bist wahrlich der Kürbismann." Nachdem er sich eine Träne weggewischt hatte, küsste er noch den Grabstein und wandte sich dann dem Kürbis zu. Mit aller Kraft hievte er diesen vorsichtig aus der Erde heraus. Er war so schwer, dass Knusti ihn fast nicht tragen konnte. Da fiel ihm ein, dass er seine Schubkarre ja auf dem Markt gelassen hatte. Er realisierte, dass ihm nichts anderes übrigblieb, als den riesigen Kürbis zu Fuss bis zum Markt zu tragen. "Ich schaffe das! Opa, gib mir Kraft!"
Er nahm einen kleinen Bissen von der Unterseite des Kürbisses, worauf ihn ein regelrechter Energieschub durchfuhr. Mit der neu gewonnen Kraft machte er sich auf den Weg zum Markt.
Währenddessen war die Jury auf dem Markt bereits im letzten Viertel angekommen. Wilfried lächelte zufrieden, da er sicher war, dass er einmal mehr als Sieger hervorgehen würde. "Sind ja auch nichts wert, diese bräunlichen Klumpen da...", meinte er abschätzig, während er die Kürbisse seiner Kontrahenten musterte. Neben ihm stand Aikido, die ihn mit einem sauren Gesichtsausdruck ansah, da sie zuvor eine Zitrone verspiesen hatte.
Wenig später war die Jury auch schon bei Wilfried angekommen. "Donnerwetter, dieser Kürbis macht sogar meinen Kürbissen Konkurrenz, hihi!", witzelte Polly Duster, worauf die Menge abermals in schallendes Gelächter ausbrach und für die gekonnte humoristische Einlage applaudierte. "Ganz klar 10 Punkte", sagte sie und hob ein Schild auf, welches mit einer 10 beschriftet war. "Zweifelsohne der bisher prallste und schönste Kürbis, da brauchen wir auch kein Massband, das sieht man!", sagte auch McDünger und hob die 10 Punkte Tafel in die Höhe. "Nun ja...", meinte da Peter Weller. "Wir modernen Bauern sind zum Schluss gekommen, dass Grösse nicht mehr alles ist. Heute ist Lean Management gefragt, der Kunde legt immer mehr Wert auf Qualität anstatt Quantität, und auch die Prozessicherheit muss gewährleistet sein, was man ja bei diesem Bauern, der es nicht mal für nötig hielt, sich für die Präsentation seiner Produkte eine Hose anzuziehen, nicht behaupten kann. Trotzdem ein sehr schönes Exemplar, das möchte ich nicht abstreiten. Von mir 9 Punkte." Die Zuschauer tobten wutentbrannt. Den Weller, den konnten sie nicht ausstehen, der musste immer alles vermiesen! Trotzdem, die 9 Punkte waren sowieso die höchste von ihm jemals vergebene Punktzahl, es war inwzwischen einfach schon fast Tradition, ihn bei der Vergabe auszubuhen.
Polly Duster hob die Goldmedaille bereits über Wilfried's Kopf, und quietschte "Tja, ich denke, damit hätten wir ..."
"WARTET!", schrie da einer in der Ferne. Die Leute drehten sich gleichermassen entsetzt wie auch freudig überrascht nach links, wo der Schrei herkam. Da sahen sie Knusti, der mit einem riesigen Kürbis den Dorfplatz überquerte. "Nicht so schnell! Mein Kürbis wurde noch nicht bewertet!", rief er, während er an den aufgestellten Kürbissen vorbeiging. Die Mitbewerber starrten ungläubig auf den riesigen Kürbis. Auf dem Marktplatz war es muckmäuschenstill. Schritt für Schritt stapfte Knusti mit seinem Kürbis bis zum Ende der Schlange und stellte seinen Monsterkürbis neben Wilfried's Exemplar, das nun auf einmal sehr mickrig und behindert aussah. Wilfried wurde blass. Auch Polly Duster blickte auf den riesigen, perfekt geformten Kürbis und fiel in Ohnmacht. Die Menge applaudierte wieder, verstummte aber relativ schnell, um sich wieder Knusti's Prachtexemplar von einem Kürbis zu widmen. McDünger sagte: "Nun gut, da Frau Duster nicht ansprechbar ist, werte ich den Kürbis in ihrem Namen mit 10 Punkte, ganz klar, das hätte sie so gewollt. Und auch ich vergebe ganz klar die höchste Wertung, ebenfalls 10 Punkte. Peter..?" Einen kurzen Moment war es still, nur das Rauschen einer warmen Sommerbrise war zu hören.
Nach einiger Zeit brach Peter Weller den Bann und schrie: "ZEHN PUNKTE!" Der ganze Marktplatz schrie auf und tobte vor Freude, und die Leute versammelten sich um Knusti und seinen Kürbis herum. Peter Weller hatte noch niemals 10 Punkte vergeben! Aikido fiel ihrem Gatten mit Freudentränen um den Hals und flüsterte ihm ins Ohr: "Ich wusste, dass du es schaffst!" Die Leute hievten Knusti in die Luft und trugen ihn Richtung Siegerpodest. "Knusti! Knusti! Knusti!", schrien die Leute im Chor, und setzten ihn schliesslich vor dem Podest ab. McDünger verlas die Siegerehrung: "Knusti Hosenlupf, es ist uns eine Ehre, in dieser langjährigen Tradition unseres Dorfes erstmals Zeugen eines so perfekten, grossartigen, ja göttlichen Kürbisses zu werden. Du, Knusti, hast dem Wort 'Kürbis' eine neue Bedeutung gegeben. Wir danken dir, dass wir daran teilhaben dürfen! Hiermit übergebe ich dir die Goldmedaille sowie 500 Groschen! Herzliche Gratulation!"
"Vielen Dank! Ich nehme den Preis an!", schrie Knusti fast schon hysterisch lachend. Die Menge schrie im Chor: "Knusti! Knusti! Knusti!"
Da hielt Knusti kurz inne und rief dann: "Aber dankt nicht nur mir, sondern auch meinem Grossvater Helmut, der dieses Wunder erst hervorgebracht hat!" Die Zuschauer applaudierten wieder und riefen "Helmut! Helmut! Helmut!"
Knusti dann: "Naja, also genau genommen ist es ja schon mein Kürbis, wenn man so will..."
Die Leute darauf wieder "Knusti! Knusti! Knusti!" Knusti lächelte zufrieden, und als er in der Menge auch noch seinen vollständig einbandagierten Sohn Haurucki im Rollstuhl sah, der gerade noch rechtzeitig aus dem Krankenhaus entlassen worden war, um seinen Vater bei der Siegerehrung zu sehen, realisierte Knusti, dass dies der beste Tag seines Lebens war.
Ende