Das verlorene Geheimnis
Wir stehen in der Schlange vor den Kassen, vor uns zwei mit leichtem Überhang gefüllte Einkaufswagen, und bewegen uns millimeterweise in Richtung der genervten Kassiererin. Jedes Jahr das Gleiche! Jedes Jahr kommt Weihnachten so überraschend schnell. So schnell, dass die Filialleiter kein zusätzliches Personal anstellen können. So schnell, dass uns, den Verbrauchern, kaum Zeit bleibt, die notwendigen Vorräte anzulegen, die das Überleben der Feiertage garantieren und so schnell, dass nur wenige Stunden bleiben für die Entscheidung, wer sich über welches Geschenk freuen könnte. Hatte ich mir nicht im letzten Jahr ganz fest vorgenommen, die Geschenke im Sommer zu kaufen?
„Haben wir alles?“ fragt meine Frau. Ich weiß es nicht, denn ich weiß nicht, was alles ist. Alles könnte ja auch Würstchen mit Kartoffelsalat sein, was meine Großeltern Heiligabend immer gegessen haben.
Wir sind an unserem Ziel angekommen. Wir legen jedes Teil, das wir in der letzten Stunde in den Wagen gelegt haben, auf das Band, dann schnell zurück in den Wagen, denn die nach uns wollen auch ans Ziel. Wir schieben die Wagen beiseite an die kleinen Tische vor dem Ausgang. Dort ordnen wir alle Sachen in die Tüten und die Tüten ordnen wir ins Auto. Wie viele Male wird eigentlich so ein Stück Butter von irgendwo nach irgendwo gelegt, bis es seinen Zweck auf dem Brot oder in der Pfanne erfüllen darf?
Zuhause angekommen tragen wir die unzähligen Tüten in die Küche. Der Kühlschrank ist zu klein. Wollten wir nicht einen größeren kaufen? Unser Hund begrüßt uns freudig und untersucht den Inhalt der Tüten, die es noch nicht vom Fußboden in die Schränke geschafft haben. „Geh Du mit ihm 'raus. Ich räume den Rest weg“ entscheidet meine Frau, den Kopf weit in den Kühlschrank hinein gebeugt, um die effektivste Anordnung der Vorräte zu gewährleisten. Ich nehme die Leine und mein Hund springt voller Vorfreude an meinen Beinen hoch. Er weiß nichts von Weihnachten. Er weiß nichts von den anstrengenden Vorbereitungen und von der Kunst des Packens. Aber er weiß, dass wir jetzt spazieren gehen. Auf der Treppe treffe ich meinen Nachbarn. Sein Sohn spielt mit unserem Hund und wir reden das übliche Nachbarschaftliche. Er erzählt mir, dass er gleich mit seinem Sohn einen Weihnachtsbaum schlagen wird. Die Forstwirtschaft hätte es dieses Jahr wieder freigegeben. Ob ich nicht mitkommen wolle? Eigentlich habe ich keine Lust. Ich habe keinen Sohn, mit dem ich zum Jagen in den Wald gehen muss. Dann fällt mir die Abzocke vom letzten Jahr ein: der Typ, der für seine spärlich in Reihe stehenden Krücken von Bäumen tatsächlich 40 € haben wollte. Irgendwie überlege ich nicht weiter, entscheide mich und sage zu. Mein Nachbar klopft mir auf die Schulter. „Na dann, bis gleich, unten am Auto. Das wird ein Spaß!“ Ich bereue meinen Entschluss gleich wieder, aber ich traue mich nicht, es ihm zu sagen. Schließlich ist Weihnachten.
Wir sind im Wald angekommen und mit uns zehn andere, vorwiegend Väter mit ihren Kindern, beladen mit Schubkarre, Beil und dicken Handschuhen. Schei...! Ich habe meine Handschuhe vergessen und die Tannenspitzen pieken bestimmt. Außerdem ist es bitterkalt! Der Förster zeigt uns die Baumreihen, in denen wir uns als Jäger und Holzfäller betätigen dürfen, ungestraft vom Arm des Gesetzes. Irgendwie tauge ich als Jäger nichts, denn die anderen sind schon weit voraus, um sich den geradesten, vollsten und imposantesten Baum als Beute zu sichern. Der Wald um mich herum schluckt ihre Schritte und ihre Stimmen. Ich stehe allein und ich vergesse kurz, weshalb ich eigentlich hier bin. Der Wald sieht malerisch aus. Gestern abend ist der erste Neuschnee gefallen, dick, weiß und weich. Noch sind kaum Spuren im Schnee. Die Natur ist unschuldig, unberührt. Sie weiß nicht, dass sich gleich elf Männer über sie hermachen werden, damit die Natur auch in die Häuser kommt. Unter dieser gefällten Natur liegen dann Pakete und Päckchen, Schleifen und Krippenfiguren und davor steht meine Mutter, meine Schwiegermutter, mein Bruder mit Frau und meinen drei Neffen und, ja natürlich, meine Frau - wenn sie es rechtzeitig aus der Küche schaffen sollte.
Es ist kalt ohne meine Handschuhe. Ich reibe meine Hände aneinander. Aber ich will hier im Wald bleiben! Warum nicht hier, zwischen den vom Jagdfieber verschonten Baumbeuten, Heiligabend feiern? Kann ein Abend heiliger sein als inmitten der scheinbar unberührten Natur, überspannt von einem schwarzen Zeltdach, glitzernd gepunktet durch Licht, deren Quellen wahrscheinlich gar nicht mehr existieren und dessen geruchlose und geschmacklose Durchsichtigkeit die giftigen Abgase unserer Wohlstandsgesellschaft unseren Sinnen entzieht? Lieber lasse ich mir so den Frieden auf Erden vortäuschen als inmitten unseres übervollen Einkaufszentrums.
Mein Nachbar kommt zurück. Hinter sich her schleift er einen kapitalen Baum. „Na, Sie stehen ja immer noch hier, können sich wohl nicht entscheiden, was? Sind aber auch schöne Bäume dieses Jahr!“ Ich will mich abwenden, um meinen Baum zu suchen. Im Gehen begegnen sich meine Blicke mit denen des Nachbarjungen. Sie lassen mich nicht mehr los, auch nicht, als ich eine halbe Stunde später mein mitgebrachtes Beil in einen Stamm fallen lasse. Während ich meinen Baum bearbeite, sehe ich sie vor mir: sie strahlen vor Stolz, strahlen vor Vorfreude. Sie bergen das Geheimnis, das wir Erwachsenen schon längst verloren haben. Mühsam erinnere ich mich an das Gedicht meines Großvaters, das er jedem, egal, ob er es hören wollte oder nicht, in der Vorweihnachtszeit erzählte:
„Weihnachten ist das Fest, das die Menschen meinen verloren zu haben.
Beladen mit all ihren wertvollen Gaben stellen sie dann fest:
Sie haben es nicht verloren, nur vergessen. Verlieren kann nur der, der es zuvor besessen!“
Hatte ich es je besessen? Ja! Als Kind haben es mir meine Eltern und Großeltern geschenkt: beim Plätzchen-Backen, beim Geschenk-Basteln, bei angezündeten Kerzen und beim Schneemann-Bauen. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass sie es mir in einem Supermarkt geschenkt haben. Sie haben mir von dem Geheimnis erzählt, denn sie hatten nichts anderes zu tun. Damals kam Weihnachten auch nicht so schnell. Es kam so langsam, dass ich es kaum erwarten konnte. Nie konnte ich das Geheimnis verstehen oder ganz erfassen. Aber es war da. Jedes Jahr neu und jede Stunde des Wartens. Dann habe ich es verloren wie die anderen auch: während unserer Arbeit, unserer Ehe, in der Stadt, in unserer Eitelkeit und Scheinheiligkeit; ich weiß nicht, wo noch überall. Wenn wir es verloren haben, dürfen wir es an einem einzigen Tag im Jahr wieder suchen? Ich weiß es nicht.
Mir ist kalt. Ich friere. Es ist schon fast dunkel. Mein Baum kämpft unterdessen mit meinem Beil. Bei jedem Schlag lenkt er es ein wenig ab. Nie treffe ich die gleiche Kerbe. Aber er verliert trotzdem und fällt um. Ich schleife ihn hinter mir her, raus aus dem Wald, raus aus dem Geheimnis. Es raschelt in den Bäumen. Vor mir steht ein Reh, völlig erstarrt über seinen Irrtum, die zweibeinigen Baumjäger seien schon weg, verängstigt, einen Moment lang unfähig wegzulaufen. Auch ich bleibe stehen und eine verschneite Ewigkeit schauen wir uns in die Augen, bis es sich hektisch umdreht und mich allein zurücklässt. Aber in dieser Ewigkeit fällt es mir ein: Ja, wir dürfen das Geheimnis suchen, auch wenn es uns nur einen Tag dazu auffordert. Wir dürfen es suchen, weil es besser ist, es an einem Tag im Jahr zu finden, als an gar keinem Tag. Und jeder wird es suchen, wo er es zu finden glaubt: Im Singen unter dem Baum, in einem Brief, den man sonst nicht schreibt, in der Kirche, in der Freude derjenigen Kinder, die sich freuen dürfen, im Weihnachtsessen, das so viele nicht essen können. Und die weniger Glücklichen suchen es noch viel mehr, denn sie brauchen es noch viel mehr. Ich gehe nach Hause und nehme mir vor, meiner Frau endlich mal wieder zu sagen, dass sie nicht alleine ist.