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- 21.08.2005
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Das verlassene Militärgelände
Wie sich das Dorf wohl verändert hat, in den letzten gut 20 Jahren?
Ich erreiche es nach zwei Stunden Fahrt bei bestem Sommerwetter und parke am Ortseingang. Hier haben sich ein paar Läden zu dem alten Bäcker gesellt, und dahinter erstreckt sich ein Neubaugebiet mit pastellfarbenen Einfamilienhäusern, in deren Gärten Trampoline und Schaukeln stehen.
Es wird einfacher, das Dorf wie ich es als Kind kannte auszumachen, je weiter ich der Hauptstraße in die Vergangenheit folge: Zwar besetzen neue Gebäude ehemals unbebaute Flächen, doch ich erblicke alte, mir bekannte Häuser im DDR-typischen grauen Kratzputz, die schon damals heruntergekommen waren, und auf einigen Grundstücken picken noch immer hinter Staketen- oder Drahtgeflechtzäunen Hühner im Sand herum. Ein Gebäude ist zu einer Kita umfunktioniert worden: Über der Eingangstür bilden verspielte Buchstaben das Wort Küstenkrümel, und die Fensterscheiben dekorieren bunte Kinderhandabdrücke.
Ich komme an einen kleinen Platz mit einer Kreuzung. Gegenüber steht das Gebäude der freiwilligen Feuerwehr und schräg dahinter eine alte Backsteinhalle. Diese Stelle nannten mein Bruder und ich den Platz, weil sie uns als das Zentrum des Dorfes erschienen war. Jetzt kommt mir der Platz kleiner vor, und er hat sich verändert: Er ist geteert worden, man hat eine Verkehrsinsel mit Parkplätzen für die Feuerwehr auf ihm angelegt und das alte Buswartehäuschen durch eine gläserne Haltestelle ersetzt. Das Feuerwehrgebäude ist renoviert und eingezäunt worden. Doch die Backsteinhalle sieht wie damals aus: In den verwitterten Mauern klaffen Löcher, die Toröffnungen sind zugemauert und das Dach ist teilweise eingestürzt. Neu ist lediglich der Bauzaun.
Ich biege auf eine kleinere, jetzt ebenfalls geteerte Straße ab. Hier befand sich ein aufgegebenes Betriebsgelände mit einem niedrigen Bürogebäude, dessen Fenster und Türen eingeschlagen beziehungsweise herausgerissenen waren. Mich zog die Atmosphäre in diesem Bau an: die seltsame Stille (vom Gerassel der Grashüpfer draußen abgesehen), in der das Knirschen der Glasscherben unter meinen Schuhen so laut klang; der Geruch nach alten Baumaterialien; durch die Fenster hereinwachsende Brennesseln; die Spuren von Zeit und Zerstörung. Dort konnte ich ungestört ganz für mich sein.
Doch das Neubaugebiet hat sich dieses Gelände einverleibt.
Ich gehe weiter und schwenke nach links auf die Zufahrt der Kleingartensiedlung mit dem Haus ab, das meinen Eltern bis zu ihrer Trennung gehörte.
Das Gelände hier rechts nannten mein Bruder und ich das Feld, und dort erlebten wir viele unserer kleinen Abenteuer. Es war ein weiträumiges, brachliegendes Stück Land mit Randgehölz und einem Bach. Im Sommer war es von Pflanzen zugewuchert, darunter mannshoher Bärenklau; gelb blühender Rainfarn; Kletten, deren Früchte sich an unsere Kleidung hefteten; stachelige Disteln und Brennnesseln. Von Röhricht versuchten wir, Stücke wie Zigaretten zu rauchen. Einmal stießen wir auf bis zu fußballgroße Boviste und sprangen auf ihnen herum, um zu sehen, wie sie ihre Sporenwolken ausstießen.
Im Randgehölz hielten wir nach Tieren und ihren Spuren Ausschau und freuten uns über Mäuselöcher, angeknabberte Nüsse, Gewölle und Fährten. Wir kletterten auf die mittelgroßen Bäume, überwachten sanft im Wind schwankend die Umgebung und versuchten, mit zusammengesammelten Brettern Baumhäuser zu bauen. Und im hinteren, umfangreichsten Teil des Gehölzes, in dem ich mir immer ein bisschen wie im Dschungel vorkam, stieß ich einmal auf einen alten Koffer mit Pornoheften.
Am Bach beobachteten wir Frösche und Libellen, wurden kreativ bei Versuchen, das klare, kalte Wasser zu stauen, und einmal fand ich darin einen makellosen, weißen Rehbockschädel samt Geweih.
Doch vom Feld ist nicht viel übrig: Man hat die Vegetation niedergemäht, das Randgehölz zurückgedrängt und das Gelände zu einer Sportanlage umgewandelt. Von Laternen und Bänken gesäumte Kieswege schlängeln sich hindurch.
Ich lege das restliche Stück zur Kleingartensiedlung zurück – durch das Tor sehe ich nur ein einziges Auto auf dem Parkplatz stehen. Ich betrete die Anlage.
Die Häuser reihen sich an den Seiten eines kleinen Wegs entlang nach links. Ich bemerke, dass die Schaukel, die mein Vater an einer Seite des Parkplatzes aufgebaut hat, verschwunden ist.
Unser Haus war das am Parkplatz. Als Hecke hat mein Vater Lebensbäume gepflanzt, zu dicht für ihre jetzigen Ausmaße. Über sie hinweg sehe ich das rote Satteldach, nachgedunkelt, und das Fenster des engen, dreieckigen Dachbodens, auf dem mein Bruder und ich eine Kuschelecke und unsere Modelleisenbahn hatten. Dort war es im Sommer auch immer sehr heiß, und als mein Bruder einmal irgendetwas angestellt hatte, schickte unser Vater ihn zur Strafe dort hinauf, um seine „Bösartigkeit auszuschwitzen“. Als er nach Stunden wieder herunterdurfte, erschien er in durchnässter Unterwäsche und vor Schweiß glänzend.
Das mit weißer Folie ausgekleidete Dachbodenfenster wirkt wie ein blindes Auge.
Ich gehe zu dem niedrigen Gartentor und spähe hinüber. Die Fassade des Hauses aus weißem Kunststoffklinker ist gealtert, und in den Fenstern sitzen vor den heruntergelassenen Rollläden noch immer wie Rautezeichen die gewundenen Stangen, die mein Vater eingebaut hat, als einmal durchs Küchenfenster eingebrochen worden war. Auf der Veranda stehen regengeschützt aufgestapelt Terrassenmöbel und fremde Kinderspielsachen.
Ich würde das Grundstück gerne betreten, doch ich habe keine Berechtigung dazu. Allerdings sind die neuen Bewohner gerade nicht da und die Siedlung ist fast leer ... Mit einem etwas mulmigen Gefühl steige ich über das Tor und gehe auf den Rasen vor das Haus.
Auch an den restlichen Fenstern wurden die Rollläden hinter den Stangen heruntergelassen – das Haus scheint zu schlafen. An den Holzspalieren der Terrasse ranken sich statt wie früher eroberungswütige Schlingknöterich-Lianen andere Kletterpflanzen vergleichsweise schüchtern empor.
Mir fällt ein, dass ich einmal hier, wo ich gerade stehe, mein erstes Zwergkaninchen in einen Kreis aus kniehohem Drahtgeflecht setzte. Es hatte erst vor Kurzem nach langem Betteln meinerseits zu uns gefunden, und ich sah interessiert zu, wie es Blätter mümmelte. Dann ging ich kurz weg, und als ich zurückkam, war es fort. Hektisch begann ich, im Garten zu suchen, dann in der ganzen Siedlung, ich sprach alle Nachbarn an, denen ich begegnete, doch niemand hatte es gesehen. Schließlich fand ich es auf dem Feld. Es lag auf der Seite, scheinbar unversehrt, doch sein Auge war trübe, und im Nackenfell klebte ein bisschen Blut. Meine Mutter und ich begruben es dort.
Ich besehe mir den umgestalteten Garten und bemerke, dass die Johannisbeersträucher, von denen wir immer kiloweise ernten konnten, fort sind. Da fällt mir ein weiteres Erlebnis ein: Zu seinem Geburtstag wollte ich meinem Vater einmal eine Flasche selbstgepressten Johannisbeersaft schenken. Also begann ich, über einer leeren Glasflasche Beeren zu zerdrücken. Das erwies sich als unerwartet mühsam, denn eine Beere ergab nur einen Tropfen Saft. Doch es gab ja auch Fruchtsaft mit Fruchtfleisch, und so ließ ich die zerquetschten Beeren mit in die Flasche fallen. Doch auch das dauerte mir zu lange und ergab außerdem eher Matsch als Saft, also verwarf ich das Ganze schließlich und schleuderte die Flasche aufs Feld. Ein paar Tage später stieß ich dort auf sie: Sie war heil geblieben und in ihr befand sich neben dem schimmeligen Johannisbeermatsch eine tote Maus.
Als ich alles gesehen habe, verlasse ich das Grundstück wieder. Ich gehe am Parkplatz entlang, biege auf den kleinen Weg ab und bleibe stehen, um das Haus aus dieser Perspektive zu betrachten.
„Kann ich Ihnen helfen?“, ruft scharf eine weibliche Stimme.
Ich drehe mich um: Im Garten gegenüber steht eine kleine Frau mit grau-blonden Haaren und sieht mich misstrauisch an.
„Ich, äh, das Haus hier hat mal meinen Eltern gehört, vor gut zwanzig Jahren …“
Sie mustert mich. „Hutter, richtig?“
„Genau“, bestätige ich, verblüfft, dass sie sich so schnell erinnert hat. Ich glaube, sie ebenfalls wiederzuerkennen, doch ich hatte kaum etwas mit ihr zu tun.
Sie nickt. „Sie waren doch zu zweit?“
„Ja, ich bin der jüngere Bruder.“
„Mhm. Also, es sind nicht mehr viele hier von damals, die meisten haben inzwischen verkauft.“ Sie überlegt laut und kommt schließlich auf zwei Nachbarn, die ihr Haus auch noch besitzen. Während sie redet, wird mir bewusst, dass ich nicht mehr hierhergehöre. Ich fühle mich irgendwie verstoßen und traurig, und erkläre, dass ich mir nur kurz die Siedlung ansehen will.
Sie winkt ab: „Ja klar, keine Eile“, und verschwindet.
Ich wende mich wieder dem Haus zu, doch fühle mich beobachtet und gehe schließlich weiter.
Die Häuser sehen noch ungefähr so aus, wie ich sie in Erinnerung habe. Manche haben ein neues Dach oder wurden gestrichen, und natürlich haben sich die Gärten verändert. Einen bevölkern plumpe Betonskulpturen, darunter ein Delfin, ein Drache und ein Seestern. Sie waren das Hobby des Sohns der Leute, die hier wohnten und anscheinend immer noch wohnen.
Eins der letzten Häuser gehörte Franz. Ihm waren mein Bruder und ich stets willkommen gewesen; er war in seinen Vierzigern gewesen und hatte einen etwa 20-jährigen Sohn gehabt, Marvin.
Einmal wollten ein paar Männer aus der Siedlung (darunter mein Vater) auf der Wiese neben der Siedlung ein Volleyballnetz errichten. Ein Freund von Franz vom Bau kam in einem kleinen Bagger angerumpelt, fuhr seine Schaufel in die Höhe und drückte mit ihr die erste von den Männern gehaltene Stange in den Boden. Bei der zweiten ging es nach einem Stück nicht weiter, der Bagger stemmte sich vorne selbst in die Höhe, und in der Fahrerkabine gestikulierte Franz‘ Freund machtlos herum.
„Egal, das reicht!“, riefen die Männer, und der Bagger ließ von der Stange ab und fuhr seine Schaufel wieder herunter.
Franz ging mit einer Plastiktüte klirrender und gluckernder Flaschen zu ihm und legte sie in die Schaufel. Sein Freund rief fröhlich etwas, hob zum Dank die Hand und drehte die Schaufel noch etwas ein, wie eine Hand.
Franz kam zurück, sagte zu mir etwas wie: „Kein Geld – damit kann er mehr anfangen“, und zwinkerte.
Die Männer riefen Franz‘ Freund ihren Dank zu, und der winkte freundlich zurück und rumpelte wieder davon.
Einmal später geriet Franz bei einem Volleyballspiel mit seinem Sohn in Streit. Es wurde laut, und schließlich zeigte Marvin ihm den Mittelfinger und rief: „Fick dich!“ Franz zeigte ihm den Mittelfinger zurück und rief: „Nein, fick du dich!“, woraufhin Marvin fluchend die Wiese verließ.
Ich war schockiert: Dieses Verhalten war in unserer Familie undenkbar. Ich sah zu meinem Vater, doch der schien unbeeindruckt. Aber Franz musste mir etwas angesehen haben, denn er sagte zu mir: „Keine Sorge, man kann sich auch mal heftiger streiten, solange man sich danach wieder verträgt. Nachher trinken wir ein Bier zusammen, und dann ist es wieder gut.“
Irgendwann später erzählte uns unser Vater, dass Franz eine Tankstelle überfallen hatte und dafür ins Gefängnis gekommen war. Schließlich bewohnten andere Leute Franz‘ Haus, und ich sah ihn nie wieder.
Am Ende des Wegs mache ich kehrt. Als ich zum Haus der Frau komme, ist sie nicht zu sehen, also gehe ich einfach vorbei und verlasse die Anlage wieder.
Ich betrete den Hauptkiesweg der Sportanlage. Es fühlt sich seltsam an, das Feld auf diese Weise zu überqueren – ein bisschen, wie über ein Grab zu gehen.
Vor dem Rest des hinteren Gehölzes mündet der Weg in die kleine Straße, die vom Platz kommt.
Während sich links endlose Reihen von Erdbeerpflanzen erstrecken, liegt zur Rechten ein weites, grünes Rapsfeld: Auf dem See der noch unreifen Schoten schweben Inseln aus weiß-gelben Kamillenblüten mit Tupfern leuchtend roten Mohns und blauer Kornblumen. In der Ferne fahren Autos auf einer Bundesstraße vorbei.
Auf einmal wird mir bewusst, dass all diese Orte und Stellen, die ich so gut kenne, die ganze Zeit über hier gewesen sind – während allem, was ich in den letzten gut 20 Jahren erlebt habe, sind sie hier gewesen: im Sonnenschein, im Regen, im Dunkel der Nacht, im Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Und ich bin auch hier gewesen, damals, es ist alles echt und wirklich passiert, kein Traum, kein anderes Leben, und nichts kann das negieren.
Ich komme an eine Kreuzung und biege nach links auf einen Sandweg ab, der breit genug für ein Auto ist und durch Felder führt. In der Ferne erhebt sich das ehemalige Militärgelände, wie mein Bruder und ich das Gebiet nannten.
Die Anlage ist etwa 400 mal 600 Meter groß und der Sandweg zerteilt sie. Den kleineren Bereich links umgeben als Windschutz Wände riesiger Pappeln. In ihm versteckt ein bewachsener Hügel eine Garagenanlage in sich, und verschiedene Betonelemente, etwa Winkelstützen für Schießübungen, stehen herum. Den deutlich größeren Bereich rechts begrenzt eine gut mannshohe, stacheldrahtbewehrte Mauer. In ihm stehen Bunkeranlagen und Mannschaftsunterkünfte, oft ebenfalls als Hügel getarnt oder zumindest bewachsen, und kleine Wachtürme.
Während ich mich dem ehemaligen Militärgelände nähere, bricht die Erinnerung an ein zutiefst unheimliches Erlebnis mit einer Wucht über mich herein, als wären nicht Jahre, sondern bloß Tage vergangen.
Es war ein heißer Sommertag; ich war neun oder zehn Jahre alt und lag im kleineren Bereich des ehemaligen Militärgeländes auf dem Garagenhügel. Ich hatte mich durch ein Loch in dem altersschwachen Maschendrahtzaun gezwängt und das verlassene Gebiet in Augenschein genommen, doch seit meinem letzten Besuch hatte sich nicht viel getan: Die Natur eroberte das Gelände zurück – sogar zwischen den Betonbodenplatten wuchsen Sträucher und Bäumchen hervor. Hinter einer Betonwinkelstütze hatte ich ein halbverrottetes Tarnnetz gefunden, und in der offenen, leeren Garagenanlage eine Gewehrpatrone, so groß wie mein Finger. Jetzt starrte ich in die silber-grünen Kronen der Pappeln über mir: Die Blätter flirrten und rauschten im gelegentlich aufkommenden, leichten Wind, Sonnenstrahlen blitzten hindurch. Ich holte meine Digitalkamera heraus und machte ein Foto davon. Die Pappeln unterhielten sich. Ich schloss die Augen und lauschte dem hin- und herwogenden Baumgespräch.
Irgendwann begann ich, in dem Blätterrauschen ein Flüstern wahrzunehmen … Es war ein menschliches Flüstern, auch wenn ich die Worte nicht verstand. Und es schien, als würde es vom anderen Bereich des ehemaligen Militärgeländes herüberwehen.
Fast ohne den Entschluss dazu richtig gefasst zu haben, stieg ich den Hügel hinab, zwängte mich durch den Maschendrahtzaun, lief auf dem Sandweg zu dem großen, alten Eisentor in der Stacheldrahtmauer und spähte durch die rostigen Stangen. Doch ich sah niemanden. Das Flüstern hatte ausgesetzt, doch jetzt war es wieder zu hören. Das Tor besetzten lange Eisenspitzen, doch in der Mitte waren ein paar abgebrochen, und ich nutzte diese Lücke, um hinüberzuklettern.
Auf der anderen Seite hüllte mich die sommerlich-träge Atmosphäre des weiten, aufgegebenen Geländes ein. Wie eine Ascheschicht hatte sich eine Pflanzendecke auf diesen Ort gelegt, unter der dunkle Garagen gähnten und verbrauchte Gesichter anderer Gebäude lauerten. Während ich in das Gebiet hineinspürte, kam es mir so vor, als wären die Geräusche – das Grashüpfergerassel, Vogelgezwitscher und Rascheln der Blätter und Gräser – gedämpft; doch das Flüstern schien irgendwie über allem zu schweben. Allerdings konnte ich immer noch keine Wörter ausmachen. Die Sonne brannte auf mich herab und ein Schweißtropfen lief mir den Rücken hinunter.
Das dominierende Gebäude war ein großer, hangarähnlicher Bunkerbau, erdüberdeckt, dessen offene Rolltore zur Erkundung seines halbdunklen Inneren herausforderten – doch ich wandte mich der verwitterten Front eines Garagenbunkers zu, dessen hohe Falttore ebenfalls offenstanden. Irgendwie zog es mich zu der kleineren, grün-rostigen Doppeltür eines angeschlossenen Bunkers. Sie war geschlossen, und in ihrem linken Flügel saß unten ein verbeultes Drahtgeflecht. Ich fasste die Klinke, und plötzlich hörte das Flüstern auf. Der rechte Türflügel schabte über den Boden, während ich ihn mit beiden Händen aufzog.
Sonnenlicht erhellte den Anfang eines Betongangs. Die Tür mit einem Fuß offenhaltend machte ich einen Schritt hinein und wartete, dass sich meine Augen an die neuen Lichtverhältnisse gewöhnten. Das Flüstern setzte wieder ein – es schien aus dem Inneren des Gebäudes zu kommen. Im Dunkel vor mir begann ich die Umrisse einer schweren, offenstehenden Schleusentür auszumachen. Plötzlich nahm ich aus dem Augenwinkel etwas auf dem Boden links von mir wahr. Ich sah hin: Da lag ein vertrocknetes Wildschaf.
Der ausgemergelte, verdrehte Kadaver lag in Richtung der Tür. Den Großteil des Schädels mit den schneckenförmig gedrehten Hörnern bedeckte dunkles Fell, in dem die Augenhöhlen klafften. Die Knochen der Schnauze lagen schmutzig-weiß frei, so wie die der Beine, an denen schwarze Hautreste klebten. Am Rücken fehlte das Fell, und die ledrig-verdorrte Haut hatte sich so fest um das Skelett zusammengezogen, dass einige Wirbel sie durchstochen hatten.
Ich schnupperte vorsichtig, doch es roch kaum nach Verwesung – das Tier musste schon lange hier liegen und von der Luft, die durch das Drahtgeflecht zirkulierte, ausgetrocknet worden sein. Ich fragte mich, wie es wohl hierhergelangt war.
Das Flüstern war erneut kurz verstummt, doch jetzt nahm ich es wieder bewusst wahr: Es rief mich in den Bunker.
Hinter der Schleusentür lag nur Schwärze. Ich nahm meine Kamera, richtete sie auf die Türöffnung und knipste. In dem Sekundenbruchteil greller Helligkeit sah ich den Ausschnitt eines Raums mit einem holzgetäfelten Pfeiler in der Mitte. Ich betrachtete das Foto auf dem kleinen Kamerabildschirm, doch es zeigte nicht viel mehr: Neben dem Pfeiler war das Blitzlicht von der Dunkelheit verschluckt worden.
Ich zögerte. Wenn ich weiterging, würde die Tür zufallen, und wenn ich sie aus irgendeinem Grund nicht wieder aufbekam, wäre ich hier in der Dunkelheit mit dem vertrockneten Schaf gefangen. Doch das Flüstern zog mich weiter.
Während ich die Hand nach der Schleusentür ausgestreckt vorwärtsging, fiel hinter mir schabend die Tür zu und schnitt Licht und Wärme ab. Meine Finger trafen auf das Metall der Schleusentür, und ich trat blind in die Türöffnung. Es war kühl hier, mit einem Mal klebte mein T-Shirt kalt an meinem Rücken und ich bekam eine Gänsehaut. Es roch muffig nach feuchtem und wieder getrocknetem Gemäuer. Ich glaubte, dass das Flüstern von links kam, drehte mich etwas, und fotografierte erneut. Die Wände und die Decke des großen Raums waren mit Holzpaneelen getäfelt. Auf dem Bildschirm sahen sie eher nach Plastik aus, und einige waren herabgefallen. Unter der Decke lief ein metallener Lüftungsschacht entlang, und ein paar Kabel hingen herunter. Geradeaus ging ein Gang ab, der sich schnell im Dunkel verlor. Von dort kam das Flüstern.
Anhand des Fotos schätzte ich die Route ein und ging mit ausgestreckter Hand los. Mein Fuß stieß gegen etwas, das laut wegschlitterte. Dann trafen meine Finger auf die Wand und fanden die Türöffnung – ich stand vor dem Gang.
Ich hatte gehofft, dass meine Augen sich weiter an die Dunkelheit gewöhnen würden und es wenigstens ein bisschen Licht geben würde, doch mich umgab vollkommene Schwärze: Es machte keinen Unterschied, in welche Richtung ich sah und ob ich die Augen auf- oder zumachte. Zusätzlich setzte jetzt erneut das Flüstern aus, was meine Orientierungslosigkeit noch verstärkte. Klaustrophobie drang auf mich ein, und schnell knipste ich. Türöffnungen auf beiden Seiten des Gangs. Der Boden war dunkel gefliest und dreckig, von den Wänden schälte sich schmutzig-weiße Tapete, die Decke bestand aus unsauber angeschraubten, ehemals weißen Paneelen.
Das Flüstern begann wieder, und ich machte ein paar Schritte und fotografierte auf der geschätzten Höhe einer Türöffnung nach links. Ein kleiner Raum, in dem eine Art Schaltschrank stand, der eine ganze Wand in Beschlag nahm.
Ich ging weiter und knipste nach rechts. Ein ähnlicher Raum mit grün-rostigen, beschrifteten Stromkästen. Ich zoomte auf dem Bildschirm heran und las mehrmals Kraftsteckd. und Vertlg., gefolgt von Nummern und Kürzeln.
Das Flüstern drängte, es kam tiefer aus dem Gang. Während ich mich dorthin bewegte, bemerkte ich einen kaum wahrnehmbaren Schein aus der letzten Türöffnung links.
Ich erreichte den Raum, aus dem das Flüstern zu kommen schien, und spähte vorsichtig hinein. Ein wenig fahles Licht enthüllte klobige technische Geräte mit Knöpfen, Schaltern und Anzeigen, die übereinandergestapelt auf U-förmig angeordneten Tischen standen. Vor ihnen saß mir halb abgewandt ein Mann in olivgrüner Uniform und mit Kopfhörern, starrte auf etwas in seinen Händen und bewegte flüsternd die Lippen – die immer noch unverständlichen, abgehackten Laute flatterten vogelhaft umher und zogen mich in den Raum. Schon hatte ich zu einem Schritt angesetzt, als ich sah, dass das in den Händen des Mannes eine Pistole war. Ich wich zurück, als der Mann seinen Kopf drehte und mich weiterflüsternd ansah. Sein Blick flackerte, als würde etwas ihn wie seine Worte zerhäckseln. In seinen Augen begann sich etwas zu manifestieren, die flüsternden Lippen verzogen sich zu einem Grinsen, und das Gesicht des Mannes wurde zu einer Fratze. Als er sich die Pistole in den Mund steckte, immer noch weiterflüsternd, glaubte ich, gleich zu erkennen, was sich da in seinen Augen wand – da drückte er ab.
Es gab keinen Knall, doch der Mann wurde Kopf voran nach schräg hinten gerissen, seine Kopfhörer flogen herunter, das Flüstern riss ab, der Stuhl kippte und der Mann fiel geräuschlos zu Boden.
Ich war wie betäubt. Nach einem Moment bemerkte ich, dass ich mit beiden Füßen im Raum stand. Als ich aufsah, saß der Mann plötzlich wieder mit den Kopfhörern auf dem Stuhl vor den Tischen und hielt die Pistole in seinen Händen – nur sah er mich jetzt direkt mit seinem flackernden Blick grinsend an und begann wieder zu flüstern. Ich spürte, wie es mich weiter in den Raum zu ziehen begann, doch ich konnte nicht noch einmal zusehen, wie sich das in diesen Augen Windende hervordrängte – möglicherweise würde es dann auf mich überspringen, ich würde anfangen, die Wortfetzen zu verstehen, und dann würde ich werden wie dieser Mann ... Ich kam aus dem Gleichgewicht und stolperte aus dem Raum zurück in den dunklen Gang. Kurz war ich orientierungslos, dann hastete ich los und ließ dabei meine Hand an der Wand entlangstreichen: Wand, Wand, Türrahmen, Leere, Türrahmen, Wand … Gleichzeitig fotografierte ich voraus. Vor dem getäfelten Raum. Ich tastete mich durch die Türöffnung. Weiter, etwas rechts halten. Ich stürzte. Schmerz explodierte in Knien und Handballen. Die Kamera! Würde ich hier blind im Dunkel herumkriechen, während der Mann aus seinem Raum kam? Das Flüstern umschwirrte mich.
Ein Blitz! Die Öffnung der Schleusentür, ein paar Meter schräg voraus. Ich wagte nicht, zurückzusehen, rappelte mich auf und humpelte darauf zu. Etwas peitschte mir ins Gesicht. Ein Kabel.
In der Türöffnung schluchzte ich auf: Ein Stück vor mir lag das Wildschaf in dem bisschen Tageslicht, das durch das Drahtgeflecht der Doppeltür fiel. Ich rannte zur Tür und zog an dem Flügel – doch der rührte sich nicht. Mit flatternden Fingern betastete ich die Klinke und das Schloss, rammte mir schmerzhaft Rostflocken unter die Nägel. Ich bemerkte einen gequälten, winselnden Ton, den ich noch nie aus meiner Kehle hatte kommen hören. Das Flüstern verstummte. Auf dem Boden neben mir regte sich etwas, doch ich zwang mich, nicht hinzusehen und versuchte erneut, die Tür aufzuziehen. Ein leises, kratzig-heiseres Blöken erklang von unten, und etwas Trockenes, Haariges berührte mein Bein. Ich schrie auf und warf mich verzweifelt nach vorne – und die Tür schwang schabend auf.
Ich stürzte in grellweiße Helligkeit, Hitze, Grashüpfergerassel, frische Luft. Hinter mir setzte das Flüstern wieder ein. Halbblind blinzelnd hastete ich zum Eisentor, wuchtete mich hinüber und rannte davon, so schnell ich konnte.
Ich stehe auf dem Sandweg vor dem ehemaligen Militärgelände und trinke aus meiner Wasserflasche, während ich es betrachte. Ich war durstig, doch jetzt wird mir bewusst, dass ich auch irgendwie die Erinnerung herunterspülen will.
Ich gehe weiter. Die Pappeln um den kleineren Bereich des Geländes sind noch riesiger geworden und der altersschwache Maschendrahtzaun wurde durch verschraubten Bauzaun ersetzt. Das Gebiet selbst ist völlig zugewuchert und uneinsehbar.
Während ich dem Weg zwischen dem Bauzaun und der alten Stacheldrahtmauer folge, ertappe ich mich, wie ich auf das Blätterrauschen der Pappeln lausche.
Ich erreiche das Eisentor in der Mauer, es ist noch das von damals mit den abgebrochenen Spitzen oben. Farbige Schilder sind an ihm angebracht, doch etwas Glänzendes und metallisch-dunkelblau Changierendes dahinter zieht meinen Blick an: Solarmodule. Auf dem ganzen größeren Gebiet stehen Reihen großer, schräg ausgerichteter Solarpanels, außer auf den Hügeln und Gebäuden. Die Schilder deklarieren das Gelände als PV-Anlage, verbieten das Betreten und warnen unter anderem vor Elektrizität. Auf einer alten, verwitterten Trafostation bemerke ich eine Kamera, die auf das Tor gerichtet ist. Ich stehe vor einem Solarpark.
Als ich das Ganze eine Weile betrachtet habe, gehe ich weiter. Der Weg besteht bald aus großen, alten Betonplatten und führt hinter dem ehemaligen Militärgelände durch weitere Felder hindurch. Ich biege auf einen Spurweg mit hohem Randgebüsch ab, der zum Dorf führt. Der Weg wird zu einer schmalen, geteerten Straße, und auf der linken Seite geben die Büsche den Blick auf ein in der Sonne goldgelb leuchtendes Meer aus Gerste frei. Schräg links ragen die geraden, dunkelgrünen Pappel-Wände daraus hervor. Der Anblick hat etwas Fremdartiges.
Plötzlich berührt etwas mein Hosenbein: Ein mittelgroßer, gescheckter Hund sieht neugierig und mit hängender Zunge zu mir auf.
„Oh, wer bist du denn?“ Ich halte ihm meine Finger hin, und als ich sein von der Sonne warmes Fell zu streicheln beginne, lässt er sich nieder. Ein alter Mann mit Strohhut nähert sich.
„Hallo“, sage ich.
„Hallo.“
„Schönes Tier.“
Er brummt, bleibt stehen, wischt sich mit einem Stofftaschentuch über die Stirn und sieht zu den Pappeln. „Sie haben da eben so zum NVA-Gelände rübergesehen.“
„Ja, ich bin da als Kind manchmal rumgestreunert.“
„Ach ja?“ Er blickt mich aus halb zugekniffenen Augen an. „Sie kommen aus der Gegend?“
Ich erkläre es ihm, und er nickt.
„Ich wohne ein Dorf weiter.“ Er deutet in die Richtung, aus der er kam und dann auf den Hund. „Sie ist noch jung, braucht viel Bewegung.“ Er sieht wieder zu dem Gelände. „Ich hab da gedient.“
„Ach, echt? Wow!“
„Ja. Lange her.“ Er lächelt mich leicht an. „Da waren Sie wahrscheinlich noch nicht mal geboren.“
„Das kann gut sein. Und was … Also, was war das eigentlich genau für eine Anlage?“
„Zentraler Gefechtsstand einer Flugabwehr-Raketenbrigade und Funktechnische Abteilung. Von da aus wurden alle Flugabwehr-Raketenabteilungen geführt, Übungen, Manöver und so. Und es wurde natürlich die Luftlage im Ostseeraum überwacht.“ Er hält inne. „Die Technik war ziemlich modern für damals. Ich war da Elektriker. Hatten eine störgeschützte Funkmessstation in einem Radardom zur Ortung von Tieffliegern. Eine Rundblickstation zur Luftraumaufklärung und Zielzuweisung. Einen Funkmesskomplex zur Luftraumaufklärung und Jägerleitung. Funkhöhenmesser.“
Ich verstehe nicht viel von den genannten Dingen, und nachzufragen würde wahrscheinlich nicht viel helfen.
„Hat unfassbar viel Strom gezogen, die ganze Anlage. Da hat auch einiges ziemlich gestrahlt. Viele, die da gearbeitet haben, haben später Krebs bekommen. Ich zum Glück nicht.“ Er hält wieder inne. „War keine schlechte Zeit. Die meisten da waren in Ordnung. Bis auf ein paar dem Regime hörige Wichtigtuer natürlich. Und einer hat sich umgebracht.“
„Oh?“
Er nickt. „Ein Funkorter. Hat sich während seines Dienstes im Funkraum erschossen.“
Ich versuche, mir nichts anmerken zu lassen. „Und … warum?“
„Keine Ahnung. Wusste keiner.“ Er sieht mich an. „Wer weiß, auf was für Frequenzen der vielleicht zu lange unterwegs war, was?“
Ich versuche, zurückzugrinsen.
„Naja. Lange her. Ist ja inzwischen auch alles ausgeräumt da. Schrottdiebe.“
„Und ein Solarpark“, sage ich.
Er schnaubt und nickt. „Für ein paar Jahre noch.“
„Wieso?“
„Dann muss rückgebaut werden. Die Gemeinde hat das Gebiet für zwanzig Jahre an den Betreiber verpachtet.“
„Ah, das wusste ich gar nicht. Und was passiert dann mit dem Gelände?“
Er zuckt die Schultern. „Wird wohl wieder sich selbst überlassen.“
Er wendet sich seiner Hündin zu. „So, jetzt müssen wir aber. Komm!“
Die Hündin springt auf und der Mann wendet sich zum Gehen.
„Ja dann … schönen Tag noch“, sage ich.
„Auch so.“
„Und danke … für die Informationen.“
Er hebt die Hand, während die Hündin voranprescht.
Ich sehe noch einen Moment zwischen dem alten Mann und den Pappel-Wänden, die aus dem Gerste-Meer ragen, hin und her. Schließlich gehe auch ich weiter.
Ich erreiche das Dorf nun von der anderen Seite. In diesem Teil hielt ich mich früher nicht so oft auf, doch auch hier gibt es sowohl neue als auch alte Häuser, geteerte Straßen und Laternen. Ich erreiche den Platz und gehe das restliche Stück zurück zum Ortseingang, wo ich gestartet bin.
Dort drehe ich mich noch einmal um und nehme mir einen Moment, um über das nachzudenken, was ich während meines Besuchs gesehen habe: Läden, das Neubaugebiet, neue Häuser, die Kita, die Sportanlage, der Solarpark, befestigte und beleuchtete Straßen – äußerlich ist der Ort mit der Zeit gegangen. Doch darunter ist er noch das alte, karge, von Verlassenheitsverfall melancholisch geprägte Dorf, wie ich es kenne. Das zu sehen, zieht in meiner Brust und ich frage mich, ob das Dorf, wenn es jetzt andersherum mich sehen könnte, auch noch den Jungen von damals in mir erkennen würde.