Das verflixte erste Jahr - 6. Die Sache mit dem Cosmopolitain Wannabe
Kurz nach 22 Uhr wurde Eva vor dem laufenden Fernseher wieder wach. Noch immer kam ein vibrierender Bass aus dem Musikzimmer begleitet von der lauten, wenn auch sehr schiefen Stimme von Pepe.
"Wie siehts aus? Machst du dich fertig? Wir müssen uns gleich losmachen."
"Losmachen? Wohin?", fragte Eva, gähnte genüsslich und rieb sich die müden Augen.
"Na ins La'wall!", antwortete Vicky und setzte sich mit ihrem Schminktäschchen bewaffnet an der CampingSchrägstrichEsstisch. Sie hielt einen Spiegel in Augenhöhe und begann mit geübten Strichen ihre Augen anzumalen.
"La'wall?", fragte Eva verwirrt.
"Jap, La'wall. Du weißt schon: die Mauer'. Verstehste? Das ist n echt super Club. Hin und wieder arbeit ich da auch. Ich komme immer kostenlos rein. Der Türsteher ist n Ex von mir. Und mit dem Besitzer hatte ich auch man was. Sylvio! Mann, dem sabber ich heute noch hinterher. Der hatte Cash. Und ganz ok hat er auch ausgesehen"
Oh nein! Eva hatte die Sache mit der Disko schon erfolgreich verdrängt gehabt. Und bei dem begeisterten Gesichtsausdruck von Vicky glaubte sie nicht um die Sache herumzukommen.
"Uuhhh, ich glaube nicht dass ich mitkommen sollte. Ich habe doch garnix anzuziehen."
Hey es war ein Versuch wert.
"Ich habe dir schon was von mir rausgelegt. Da müsstest du reinpassen. Mir war irgendwie klar, dass du nicht die passenden Klamotten hast.", antwortete Vicky mit einem wissenden Grinsen.
War das jetzt ein Kompliment oder eine Beleidigung?
Vorsichtig betrat sie Vickys Zimmer und tatsächlich lagen auf dem Bett (herzförmig und zugedeckt mit schwarzer Samtbettwäsche) eine schwarze Hose und ein giftgrünes Oberteil, das am Hals zusammengebunden wurde. Eines dieser Kleidungsstücke die Eva immer mit den schniecken Möchtegerntussis von ihrer Landeischule assoziiert hatte. Und somit eines der Kleidungsstücke die Eva nie tragen wollte.
Misstrauisch beäugte sie den Stofffetzen und hob ihn sich an der Oberkörper. Ob sie da einen Rollkragenpulli drunterziehen konnte? Sie grinste bei dem Gedanken. Waren es nicht immer diese Aktionen die einen neuen Trend einführten? Was glaubt ihr wohl wie man zu der Modeerscheinung mit dem Rock über der Hose gekommen ist?
"Das sieht sicher klasse aus bei dir.", tönte eine Stimme von der Tür. Vicky kam fertig angemalt in ihr Zimmer und ließ sich neben Eva auf das Bett nieder.
"Probier mal an.", forderte sie Eva auf.
"Ja bitte, probiers an. Mal schaun wie die Farben zu deinem Chi passen!"
Mit einer unverkennbar tuntigen Handhaltung stand Pepe im Türrahmen und beobachtete die Beiden, woraufhin Vicky sich erhob und ihm mit einem theatralischen Augenbrauenheber die Tür vor der Nase zuknallte.
"Hey, ich will doch nur nicht dass ihr ein fashion faux pas begeht." Er seufzte durch die Tür. "Hhm. na schön. Aber beschwert euch dann nicht bei mir über fehlendes je ne sais quoi."
"Ignorier' ihn. Er ist nur neidisch, weil er von den Türstehern immer rausgeworfen wird, bevor er überhaupt rein kommt."
Inzwischen hatte sich Eva in die Hose gezwängt und begann damit das Oberteil in die richtige Form zu ziehen. Sogar nur mit Unterwäsche bekleidet würde sie sich angezogener fühlen.
Ok, etwas übertrieben.
Wie auch immer, Eva fühlte sich ziemlich unwohl und besah Vicky mit einer ungläubig hochgezogenen Augenbraue.
"Wirklich Eve! Das sieht super aus! Vertrau' mir!"
*****
‚Memo an mich! Vertrau' niemals wieder Vicky!', schmollte Eva und trat zitternd von einem Fuß auf den anderen. Sie waren mit der Bahn bis Ostkreuz gefahren und dann noch ein paar Stationen mit dem Bus. Die Temperaturen waren auf knapp über den Gefrierpunkt gefallen - zumindest fühlte es sich so an. Die Schlange vor der Disco war etwa 3 Kilometer lang und wurde aus unerfindlichem Grund im Sekundentakt länger.
"Da anstellen?", fragte sie entsetzt ihre Begleiterin und Vicky lächelte geheimnisvoll.
"Eve, sieh zu und lerne!", sagte sie und lief provokant an den frierenden Eisprinzessinnen vorbei, die allesamt - einer Lungenentzündung zum Trotz - soviel an hatten wie ein Huhn nach dem Rupfen. Der Chor klappernder Zähne und ultraböse Blicke begleiteten Vicky und Eva auf dem Weg zum Eingang. Der Eingang wäre wohl kaum als dieser erkennbar gewesen, wenn nicht ein schrankähnlicher Arni vor der Barackentür gestanden hätte und desinteressiert den anstehenden Diskogängern entgegengeblickt hätte. Der Typ blinzelte nicht, atmete nicht und sogar der Wind schien seinen Haaren nichts anhaben zu können. Was allerdings auch an einer halben Packung Haargel hätte liegen können. Eingeschüchtert sah Eva sich um und warf den Wartenden entschuldigende Blicke zu.
"Hi Bert.", begrüßte Vicky. Küsschen rechts - Küsschen links.
‚Bert!!!', oh mein Gott, der Name sollte verboten werden, genau wie dieses Küsschen-Ritual.
Ohne weiteres Gerede öffnete Bert (grusel) die Tür und Vicky huschte hinein, während hinter ihnen ein lautstarkes Geschimpfe begann. Neben einigen Morddrohungen konnte Eva noch ein paar zwielichtige Angebote hören, die offensichtlich mit viel nackter Haut zu tun hatten.
Eva warf einen ängstlichen Blick auf Bert (grusel) und folgte Vicky in das dunkle Loch hinter der Fabriktür hinein.
"Das war dein Ex? Gabs den gratis zu einem zweijährigen Gefängnisaufenthalt?", fragte Eva.
"Sag einem Kerl dass du nichts von ihm willst und er wird der reinste Kuschelbunny, glaub mir.", erwiderte Vicky.
Sie standen in einem langen Gang, rechts und links beleuchtet von kalten Industrieglühbirnen. Eine junge Frau sammelte von ihnen jeweils 20 ein. Bassbetonte Musik von X-zibit wummerte ihnen entgegen und Eva spürte wie sich ihr Herzschlag an den Takt anglich.
BummBumm!
Der Boden unter ihren Füßen vibrierte. Am Ende des Ganges war eine weitere Tür durch die sie nun gingen.
Dem weiten Klang der Musik zufolge musste die Fabrikhalle mindestens die Größe eines Fußballfeldes haben, aber Eva hatte sogar Mühe Vicky zu erkennen, die nur einen Meter vor ihr lief. Weiße, dunstige Rauchschwaden zogen an ihnen vorbei und rechts und links erkannte Eva nun Personen, die an den Wänden lehnten, in Sitzecken rumlümmelten und wie in Trance mit ekstatischen Bewegungen die Musik begleiteten.
"KOMM MIT RÜBER, DA IST ES ETWAS RUHIGER!", brüllte Vicky ihr ins Ohr.
'Ruhiger ist gut.', entschied Eva.
Sie liefen an der Tanzfläche vorbei, ein Meer zappelnder, zuckender Arme und Beine und Köpfe. Auf der anderen Seite des Raumes war eine Bühne wo im Moment eine große Musikanlage stand und ein kaum erkennbarer Typ stand am Mischpult und wedelte mit den Armen abwechselnd auf den Gerätschaften und über seinem Kopf.
Eva unterdrückte einen Hustenreiz und räusperte ihren kratzenden Hals (20€ für eine Rauchvergiftung - Yippieh).
Soviel Menschen und soviel Krach in einem Raum. Das war wie ein Atombunker während der Kubakrise. Ein gutaussehender Mann mit freiem, glänzenden Oberkörper lächelte Eva süffisant entgegen ('Oh Gott, hoffentlich kein Ex von Vicky!') und kam mit selbstbewussten Schritten auf sie zu. Währenddessen bemühte sich Eva nicht den Anschluss an Vicky zu verlieren. Der Mann stand nun plötzlich genau in Evas Weg, machte eine Trinkgeste und zeigte auf die Theke.
"Vicky, VICKY!", rief Eva und ergänzte ein total untergehendes "Ich bin mit jemandem ..."
Glücklicherweise hatte Vicky sich umgedreht und kam nun zurück zu Eva, zog sie am Arm zu sich heran und umfasste ihre Taille.
"SIE GEHÖRT ZU MIR!", brüllte Vicky, sah für einen Moment dem Fremden in die Augen und begann genüsslich an Evas Ohr zu knabbern. Erschrocken riss Eva die Augen auf und zwang sich zu einem - nun ja - fast entspanntem Lächeln.
Halb schmollend, halb überrascht zuckte der Typ mit den Schultern und drehte sich mit einem abfälligen Blick um.
"Ach du heilige Maria!", murmelte Eva, ohne dass sie ihre eigenen Worte verstand.
Ihr Ohr war noch feucht von Vickys Zunge und als der Typ endgültig in der Menge verschwunden war, hob sie ihre Hand zum Ohr und berührte leicht ihr Ohrläppchen.
'Habe ich schon Heilige Maria erwähnt?'
Vicky grinste sie noch immer an und zog sie am Ärmel weiter.
"KOMM SCHON, EVE! ICH WILL DICH NOCH MEINEM EX VORSTELLEN."
Was denn, noch einer?
Das würde ein verdammt interessanter Abend werden. Und das Schlimme war, er fing gerade erst an.