Das verflixte erste Jahr - 5. Die Sache mit Chanel °5
Eva war ein Einzelkind. Schon immer gewesen und sie würde es auch immer bleiben. Und das, obwohl sich Eva immer jemanden gewünscht hatte, mit dem sie hatte teilen können. Ihre Barbiepuppen, ihre Haarspangen, ihre Diddl-Socken und ihren Brokkoli (sie haßte Brokkoli und hatte den konsequent mit Mira ihrer Beagle Hündin geteilt).
Als Eva von ihrem kleinen Einkauf zurück kam, waren Pepe und Vicky bereits aufgestanden und lümmelten mit verquollenen Augen auf den Sitzkissen in der Küche. Neben der Mikrowelle lief das Samstagmorgenfernsehprogramm und Zeichentrick-Superman rettete gerade die Welt vor psychopathischen Peperoni.
Apathisch starrte Pepe auf den Bildschirm und lachte hin und wieder leise über die platten Prügelszenen zwischen dem Superhelden und seinen Gegnern.
Eva musste ziemlich verwirrt ausgesehen haben, denn Vicky erklärte mit heiserer Stimme: „Glaub mir, in Wirklichkeit ist er ganz normal!“, und zeigte auf ihren männlichen Mitbewohner.
Währenddessen öffnete sie den Kühlschrank und holte die Reste vom gestrigen Essen aus der virulenten Kälte.
„Mmh, nichts geht über das kaltes Essen von gestern.“, sagte sie und begann ohne zu zögern die matschige Pampe zu essen. Das konnte doch nicht gesund sein.
Glücklich über das eben erstandene Frühstück, holte Eva das Müsli und die Milch aus dem Einkaufsbeutel und nahm sich eine Tasse vom Regal (die Existenz nützlicher Frühstückschüsseln war hier wohl noch unbekannt).
Beim Rascheln der Tüte horchte Pepe auf und wandte mit viel Mühe seine Aufmerksamkeit auf die essbaren Weizenflocken.
„Wow, richtiges Frühstück!“, staunte er. „Das gab es hier schon lange nicht mehr.“ Er nahm sich ebenfalls eine Tasse und begann genüsslich an Evas Müsli zu schlabbern.
„Du hast doch nichts dagegen, oder?“, fragte er mit vollem Mund und sah Eva unschuldig an. Nach einem Blick auf Vickys grinsendes Gesicht, zuckte Eva mit den Schultern.
„Klar. Bedien’ dich.“
Aus den Augenwinkeln sah sie, wie Vicky – noch immer grinsend – den Kopf schüttelte. Eva hatte mit einem Mal die Analogie mit dem kleinen Finger vor Augen. Egal, jetzt war es eh zu spät. Pepe hatte sich wieder dem Fernseher zugewandt und Vicky pulte die letzten Reiskörner aus der Aluschale. Eva musste das Teilen wohl auf die harte Tour kennen lernen. Nach der zweiten Tasse war Evas Hunger gestillt und sie spülte die Tasse aus.
Sie hatte nun die Wahl, entweder stellte sie die offene Milch in den epidemiefördernden Eiswürfel und ließ sie da vor sich hin schimmeln. Oder sie ließ den Karton draußen stehen und ließ ihn dort vor sich hin schimmeln. Sie entschied sich für die weniger gefährliche Variante und stellte Tetrapack und Müslischachtel auf den Kühlschrank.
Pepe und Vicky sahen beide nicht so aus als würden sie sich innerhalb der nächsten Zeit von ihren Sesseln erheben und Eva zog sich in ihr Zimmer zurück. Lustlos legte sie die Böden zurück in den Schrank und begann ihre Kleidung einzusammeln. 10 Minuten später war alles an seinem Platz. Die Langeweile kam weitere 5 Minuten später.
Sie trottete zurück in die Küche.
„Hey Eve,“ flötete Vicky. “Hast du vielleicht Bock heute Abend mit in die Disse zu kommen?”
„Was? Disse?“ War das nicht eine dieser total überflüssigen Tanzeinrichtungen wo junge Leute mit Ihrem Ersparten reingingen und total pleite, hackedicht und vermutlich noch mit einem ungewollten Tripper oder Herpes wieder rauskamen? Eva war noch nie in ihrem Leben in der Disco gewesen. Davon ausgeschlossen die Diskoabende während ihrer Ferienlagerzeiten bei denen frühpubertierende Jungs und Mädchen sich in jeweils eine andere Ecke des Raumes verkrochen und sich über alles und jeden die Mäuler zerrissen. Wenn sie jetzt darüber nachdachte glaubte sie allerdings nicht wirklich, dass sich das irgendwie geändert hätte.
Eva zuckte mit den Schultern.
„Na los!“, ermutigte sie Pepe. „Du wirst niemals eine richtige Berlinerin wenn du nicht wenigstens einmal eines dieser öffentlich-rechtlichen Bordelle besucht hast.“
Vicky rollte mit den Augen, erhob sich halb von ihrem Sessel und schlug Pepe auf den Oberarm.
„Au, wofür war das denn?“
Er rieb sich die Schulter und warf Vicky einen bösen Blick zu.
„Du bist ein Idiot, Pepe.“
„Immer wenn sie das sagt, hab ich gewonnen!“, grinste Pepe und drehte den Ton am Fernseher lauter, sodass Vickys Antwort vollkommen unterging.
„Gegen 11 sollten wir da sein. Hast du noch irgendwas anderes vor heute? Wir könnten shoppen gehen. Oder ich zeig dir einfach ein bisschen die Ecke. Wir könnten Sven fragen ob er mitkommt. Der kriegt uns kostenlos in den Tierpark.“
„Sven?“ Der Name kam Eva doch irgendwie bekannt vor. „Der mit Katze?“
Vicky grinste. „Du hast ihn also schon kennen gelernt. Seine Freundin hatte vorher einen Zwergpinscher der hieß Tequila.“
Pepe begann gerade leidenschaftlichen die Titelmusik von Yuh-Gi-Oh mitzustimmen. Sie konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen jemals ein ernsthaftes Gespräch mit ihm führen zu können. Und plötzlich gefiel Eva die Idee diese Wohnung hier so schnell wie möglich zu verlassen und frische Luft zu schnappen.
„Rausgehen klingt gut.“
„Super ich zieh mich nur um.“ Vicky sprang auf und verschwand in ihrem Zimmer, während Pepe mit ausladenden Bewegungen die Kampfgeräusche aus dem Fernseher nachahmte.
Eva war sich nicht sicher ob sie darüber lachen oder Mitleid mit ihm haben sollte. Hastig verließ sie die Küche und ein paar Minuten später die Wohnung im Schlepptau von Vicky.
Der Oktober zeigte sich von seiner besten Seite und die Temperaturen waren seit dem frühen Morgen noch einige Grad nach oben geklettert. Vicky hatte auch dementsprechend ihre Garderobe ausgewählt und Eva verkniff sich ihr „Willst du nicht eine Hose unter dem Gürtel tragen?“
Eine Etage über ihnen klingelte Vicky an einer Wohnungstür. Auf dem Knopf stand „Nicht klingeln – ich schlafe“, doch fünf Sekunden später ging die Tür auf und mit einem heiseren Kläffen quetschte sich Katze durch die Spalte und sprang Eva entgegen.
„Katze! Aus!“, schimpfte Sven und zog den Hund am Halsband wieder zurück.
„Verdammt, hast du n’ Steak in deiner Jackentasche?“, lachte Sven und strubbelte sich durch die wirren Haare. Eva wischte sich den Sabber vom Oberschenkel und ging einen Schritt nach hinten.
„Kommst du mit? Ich wollte Eva die Gegend zeigen.“, fragte Vicky.
„Und da hattest du zufälligerweise an den Zoo gedacht, seh’ ich das richtig?“
Der Versuch verärgert zu klingen misslang gewaltig, da Sven weiterhin breit grinste.
Sie traten hinter ihm in die Wohnung ein. Sie war kleiner als die WG von Eva, Vicky und Pepe aber wirkte größer. Denn was fehlte waren Möbel.
„Wurdest du ausgeraubt?“ erschrak Eva.
„Ausgeraubt?“ verdutzt sah Sven sie an. „Nee, wieso?“
„Naja, ich meine ja bloß ...“ Eva hatte nicht vor kopfüber in ein Fettnäpfchen zu treten und dann wie ein Kartoffelkäfer auf dem Rücke liegend um eine helfende Hand zu bitten.
„Das ist ne lange Geschichte.“ rief Sven aus dem Raum nebenan und kam ein paar Sekunden später angezogen zurück in den Flur.
„Seine Ex hat ihn verlassen und hat alles mitgenommen.“, erklärte Vicky und Sven grummelte: „Naja doch nicht so lang.“
„Alles? Das ist ja unglaublich! Das kann sie doch nicht machen!“
„Oh doch, sie kann. Ihr neuer Freund hat nen Waffenschein!“
„Was?“
„Kleiner Scherz, er hat gar keinen Waffenschein. Nur ’ne Waffe!“
Vielsagend sah Sven sie an und nahm sich die Jacke von der Garderobe – ein in die Wand gehauener Nagel. Katze jaulte schon eifrig vor der Tür mit der Leine im Maul und als Sven die Wohnungstür öffnete preschte der Hund in den Hausflur, prallte zuerst gegen die gegenüberliegend Wohnungstür und flitzte dann die Treppen hinunter.
„Katze! Beifuß!“, brüllte Sven ihm hinterher. „Ach Scheiße!“ Er folgte dem Hund, immer drei Stufen auf einmal nehmend. Vicky schloss hinter ihnen die Tür.
„Die Sache mit Sven und Lucy war ziemlich hässlich.“ erzählte Vicky. „Du musst dir das mal in Ruhe von ihm erklären lassen. Außerdem ist es voll süß wenn er wütend wird. Da kriegt er immer diese roten Punkte im Gesicht.“
Der Zoo entpuppte sich als ein großer Park, in dem hin und wieder Gehege für die Tiere standen. Sven hatte seinen Zivi als Tierpfleger bei den Robben gemacht und kannte daher ein paar Tricks. Und Eva lernte wie man geschickt Räuberleiter machte ohne den Dreck auf den Klamotten zu haben.
Die schwierigste Sache war Katze über die Mauer zu bekommen. Doch Eva wunderte gar nichts mehr nachdem Katze zuerst auf einen Baum kletterte und von einem dicken Ast aus auf die Mauer sprang. Zumindest konnte sie sich inzwischen denken woher der Name Katze stammte. Ob Katze wohl auch Mäuse fraß?
Also die Arroganz einer Katze hatte er schon mal. Das wurde Eva spätestens klar, als Katze sich vehement weigerte sie in das Katzenhaus zu begleiten. Er blieb stur auf seinen Hinterpfoten sitzen und als Sven dreimal mit Nachdruck „Komm her!“ gerufen hatte, legte er auch noch träge seinen Kopf auf die Vorderpfoten und blieb liegen. Letztendlich banden sie den Hund draußen an und gingen alleine.
Ein bestialischer Gestank von Kot und rohem Fleisch schlug ihnen entgegen.
„Boah!“, schimpfte Vicky mit nasalem Unterton, da sie sich angeekelt die Nase zuhielt.
„Den Gestank krieg ich doch nie wieder aus den Haaren!“ Und damit war sie so schnell draußen wie drinnen. Eva folgte Sven zum ersten Gehege und er begann die Namen der einzelnen Tiere aufzuzählen. Doch Eva war mehr damit beschäftigt, die Locke in Svens Stirn zu beobachten, wie sie im Einklang mit seinen unermüdlichen Erzählungen auf und ab wippte.
„ ...und das ist Lilo. Sie hätte es fast mal geschafft auszubüchsen als ein Kollege und ich ...“
Wow, hatte der weiße Zähne. Und seine Lippen kräuselten sich voll lustig wenn er redete.
„ ... falls du Interesse hast. Naja, ist wahrscheinlich auch besser so. Du hast bestimmt ne Menge zu tun mit dem Studienanfang und so. Da bleibt keine Zeit für so was.“
Warte! Zurückspulen! Da war doch eben bestimmt was Wichtiges dabei gewesen.
„Häh?“
„Is egal.“ Er grinste ihr verlegen entgegen. „Lass uns wieder rausgehen. Vicky wartet bestimmt schon. Wetten sie ist schon auf halber Strecke zu den Schlangen?“
Sie traten also wieder in die frische Luft. Vicky saß auf einer Bank vor dem Gebäude und sprühte sich ihre Haare gerade mit einem Parfum ein. „Lieber Gott, lang lebe der Erfinder von Chanel °5.“, seufzte sie.
„Was haltet ihr vom Reptilienhaus als Nächstes?“, fragte sie und Sven und Eva grinsten sich an.
Die Zeit verging so unheimlich schnell, das Eva gegen 6 erschrocken auf die Uhr sah. Ihr Magen knurrte und ihre Füße schienen um drei Schuhgrößen angeschwollen zu sein.
An einem Hotdogstand besorgte Sven ihnen drei Hotdogs für knapp 1,30€. Er verwirrte den Verkäufer, indem er das Geld erst in Kleingeld, dann mit einem 50€ Schein, dann mit einem englischen Pfund und schließlich wieder mit einer handvoll Kleingeld bezahlen wollte. Vicky kannte die Masche ganz offensichtlich und funkte eifrig mit ungewollt klugen Ratschlägen und falschen Zwischenrechnungen dazwischen. Letztendlich schnappte sich der Verkäufer das angebotene Geld und war plötzlich sehr schnell mit dem Verteilen der Würstchen. Prustend flitzten sie mit dem Essen in Richtung Ausgang.
Eva hatte ein furchtbar schlechtes Gewissen. Konnte sie wohl aus dem Gefängnis weiterstudieren? Und stand ihr orange?
Da jedoch der Hunger größer war als das nagende Gefühl des Betruges, mampfte sie zufrieden an dem Hotdog und folgte den Beiden aus dem Tierpark während ihr Katze auf den Fuß folgte und mit sabbertropfender Zunge den Rest des Hotdogs beäuge. Sie überließ ihm also großzügig den Rest, nachdem sie ihm zweimal auf die Pfoten getreten hatte und einmal fast eine Rolle über ihn machte weil er sich ihr mitten in den Weg gestellt hatte.
Zu Fuß waren es nur knapp 20 Minuten zurück in die Fenigstraße. Sven hatte Katze inzwischen an die Leine genommen und unterhielt sich angeregt mit Vicky über das Studium (Sie studierten beide BWL) und Worte wie Monopol, Kartellamt und Lagerwirtschaft schwirrten verwirrend durch die Gegend.
Eva hatte zwar keine Ahnung wovon die Beiden sprachen (ihrem Enthusiasmus zufolge lösten die zwei Studenten gerade das Problem des Welthungers), aber es klang unheimlich klug.
Konnte man Intelligenz eigentlich erlernen?
Vor der Wohnungstür verabschiedeten sie sich und Sven ging die Treppen weiter in die nächste Etage.
„Schatz, wir sind zu Hause!“, rief Vicky in die Wohnung. Gedämpfte musikalische Klänge strömten aus dem kleinen Zimmer neben dem Bad. Die Tür stand offen und Pepe stand an einem Keyboard, die Finger mit voller Wucht auf die Tastatur einschlagend. Die gedämpfte Musik stammte aus den tellergroßen Kopfhörern auf seinem Kopf. Eifrig hüpfte im Takt der Musik und sein Kopf wippte von einer Seite zur anderen. Vicky schüttelte nur genervt den Kopf und schloss mit einem lauten Rumps die Tür, sodass die gedämpfte Musik zu einem monotonen BummBumm verklang.
„Also wenn er sich unbedingt die letzten seiner einsamen Gehirnzellen wegpusten will ist mir das auch recht.“, schimpfte sie und verschwand in ihrem Zimmer.
Eva zog sich ebenfalls in ihr Zimmer zurück und erkannte erneut wie unbewohnt dieser Raum ihr erschien. Eigentlich war sie nie eine ordentliche Person gewesen. Ihr Zimmer im Haus der Eltern sah immer aus, als wäre der Staubsauger Amok gelaufen, hatte alles einmal angesaugt und dann wieder mit einer kraftvollen Explosion ausgespuckt. Und das obwohl sie den Staubsauger so gut wie nie benutzt hatte.
Und jetzt auf einmal vermisste sie das organisierte Chaos auf ihrem Schreibtisch. Sie vermisste die unnützen Porzellanfigürchen, die verblichenen Stofftiere aus ihrer Kinderzeit, die unzähligen Bücher die sie noch nie angesehen geschweige denn gelesen hatte.
Hastig verließ sie den öden Raum wieder und verbrachte den Rest des Tages in der Küche vor dem Fernseher.