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Das verflixte erste Jahr - 4. Die Sache mit der Katze
Berlin war eine große Stadt. Eine wirklich große Stadt. Bevölkert von über 3 Millionen Menschen aus 43 Ländern, knapp 2 Millionen Autos, Imbissbuden an jeder Straßenecke und einer unzähligen Anzahl von verwahrlosten Hunden, Katzen und Studenten. Es war nie dunkel, nie still und auf jeden Fall nie langweilig.
Eva drehte sich genüsslich im Bett auf die andere Seite. Es war Samstag Morgen. Der verhasste Wecker mit dem Neonzifferblatt stand still und leise auf dem Fußboden neben dem Bett. Der kleine Zeiger stand auf der zehn und es gab keinen Grund aufzustehen. Zumindest dachte das Eva bis zu dem Moment als sie einen Blick auf das Chaos um sie herum warf.
Noch gestern Nacht hatte sie begonnen ihre Klamotten aus dem Koffer zu ziehen und in den IKEA Schrank zu stapeln als ihr die Böden entgegen gefallen kamen. Sie hatte laut aufgebrüllt als ihr die Gürtelschnalle auf das ohnehin blaue Auge klatschte. Und zu guter letzt kam auch noch Pepe aus der Küche in ihrer Zimmer geeilt und hatte ihr feixend dabei zugesehen wie sie den Rest der Kleidung mit einem wütenden Schnaufen auf dem Parkett verteilte.
Jetzt setzte sie sich in ihrem Bett auf und sah sich um. Ihr Blick fiel auf das Handy, welches sie über Nacht aufgeladen hatte.
Was ihre Eltern wohl gerade machten? Ihre Mutter würde vermutlich gerade die letzten Kunden mit frischen Brötchen versorgen, dann den Laden schließen und die Restbestände ihrem Vater für das Frühstück mitbringen.
'Mmmh, jetzt eine Apfeltasche wäre genau das Richtige.', dachte sich Eva und dachte mit einem Schaudern an die biologischen Experimente im Kühlschrank.
Urgh!
Es war still in der Wohnung als Eva ihr Zimmer verließ und sich etwas verloren zuerst in der fremden Küche und nach einer kurzen Bedenkzeit im Badezimmer wieder fand. Sie putzte ihre Zähne, stellte sich kurz unter die Dusche, verbrannte sich die Haut unter dem kochenden Wasser und stellte dann fest, dass die Mischbatterie vermutlich noch aus dem ersten Weltkrieg war.
Auf jeden Fall war sie danach munter. Es war halb elf. Und Eva hatte das Gefühl der einzige wache Mensch im Umkreis von einigen Kilometern zu sein.
Das plötzliche Handyklingeln war unglaublich laut und Eva fürchtete ihren gesamten Straßenblock damit zu wecken. Sie eilte zurück in ihr Zimmer und riss das Handy an ihr Ohr. Endlich Menschen mit denen sie reden konnte.
„Hallo?“
„Hallo, Süße! Was macht meine Großstadtfreundin denn so Spannendes?“
„Oh, hallo Claudia!“ Erleichtert über die bekannte Stimme ließ sich Eva auf das Bett fallen.
„Es ist super hier, wirklich!“ - wen versuchte sie eigentlich zu überzeugen?
„Ich weiß gar nicht wo ich anfangen soll!“ - vermutlich mit dem Einräumen ihrer Unterwäsche.
„Komm schon, sei ehrlich, Eva! Ich rieche deine ich-glaub-das-alles-nicht Einstellung bis hierher.“ - Die beiden kannten sich eindeutig schon viel zu lange.
„Ich kann dir noch nicht soviel berichten. Ich bin ganz froh, dass ich überhaupt hierher gefunden habe. Und meine Mitbewohner sind ganz okay, glaub ich. Ich kenne sie ja noch gar nicht.“
„Wann fängst du denn mit der Uni an?“, wollte Claudia wissen.
„Am Montag um zehn ist eine Informationsveranstaltung. Mal sehen was das so wird. Wahrscheinlich werde ich mich so hoffnungslos verfahren, dass ich ankomme wenn alles vorbei ist.“ Sie seufzte.
„Rufst du mich an, wenn das vorbei ist? Ich muss jetzt los, Stefan will mit mir zur Badewiese Enten füttern. “
Frustriert sah Eva aus dem Fenster und betrachtete die triste Betonhauswand auf der gegenüberliegenden Seite.
„Viel Spaß euch beiden!“, wünschte Eva mit mehr Enthusiasmus, als sie sich im Moment zugetraut hätte und lauschte kurz darauf auf den fiependen Freiton in der Leitung.
„Jap, viel Spass.“
Sie feuerte das Handy zurück auf den Boden und ließ sich kraftlos in die Kissen plumpsen.
„Was um Himmels Willen mach' ich hier eigentlich?“
Ein Knurren unterbrach ihre Gedanken. Wo sollte sie jetzt was zu essen herbekommen? Wenn doch wenigsten Vicky wach wäre. Die hätte sie fragen können. Aber nein, offensichtlich hatte sich die Welt gegen sie verschworen, um ihr den Einstig so schwer wie möglich zu gestalten.
Zwei Minuten und drei Magenkrämpfe später hatte sie sich angezogen und war bereit für die erste Erkundungstour. Mit einem letzten Blick auf das Durcheinander in ihrem Zimmer öffnete sie die Wohnungstür ... und schrie laut auf als vor der Haustür ein sabbernder Dobermann auf den Hinterläufen saß und sie erwartungsvoll anstarrte.
„Katze!“, echote ein männliche Stimme durch das Treppenhaus.
„Katze! Komm her!“
Katze? Also wenn das eine Katze war, dann hatte Eva wohl tatsächlich den Planeten Erde verlassen.
„Blöde Töle!“
Der Hund saß noch immer auf seinen Hinterläufen und starrte Eva an, die sich kaum traute zu blinzeln. Die Stimme mitsamt der Schritte kamen näher und ein junger Mann erschien schließlich auf dem oberen Treppenabsatz, eine dicke Leine in der Hand. Die gehörte doch ganz sicher an den Hund. Dafür musste es doch Gesetze geben.
Mit einem hilflosen Blick sah sie dem Mann entgegen. Hellblaue Augen in einem markanten Gesicht blitzten ihr entgegen. Er trug eine Frisur die aussah wie frisch aus den Kissen, zerzauste hellblonde Spitzen rankten in jede Himmelsrichtung. Er strich sich eine wirre Strähne aus den Augen.
„Sorry, tut mir echt leid. Der tut keinem was, ehrlich.“, entschuldigte er sich mit einem schiefen Grinsen. Der Hund ließ sich widerstandslos an die Leine nehmen.
„Er scheint dich zu mögen.“, fügte er hinzu. Der Hund starrte Eva noch immer an, Sabber lief ihm durch die Zähne und tropfte auf das dreckige Grün des Linoleum.
Eva schluckte. Der Hund mochte sie also. „Frittiert oder Gekocht?“
Der Mann grinste.
„Bist gerade eingezogen, was?“ Er wies mit einem Kopfnicken auf die Tür hinter Eva.
„So offensichtlich?“
„Nee, Pepe hats mir erzählt.“ Der Mann zog den Hund hinter sich her und ging die Treppen hinab. Zuversichtlich dass sie nicht innerhalb weniger Sekunden von der Zähnen des Dobermann zerfetzt werden würde, folgte Eva stumm.
„Ich bin übrigens Sven.“, stellte sich der Mann vor.
„Eva.“, antwortete sie und folgte ihm durch die Haustür auf die Straße.
„Wo willst du denn hin?“
„Wenn ich das wüsste!“, murmelte Eva.
„Ich brauche was ausm Lidl, willst du mitkommen?“
Bingo! Das war natürlich sehr viel geschickter als „Hilfe, wo ist der nächste Supermarkt!“.
„Gerne, könnte auch was gebrauchen.“
‚Ne Straßenkarte und ein Handbuch „Berlin“ wären als Anfang nicht übel.’
Erleichtert atmete sie auf und sie gingen ein paar Meter bis zur nächsten Straßenecke, wo sie rechts abbogen. Von dort war die der Supermarkt schon zu sehen.
„Sag mal, wer ist denn auf die Idee mit der Katze gekommen?“
‚Das muss jetzt unbedingt noch geklärt werden.’, dachte Eva.
„Der Name meinst du?“, lachte Sven und blieb kurz stehen um den Hund hinter den Ohren zu kraulen.
„Das war die Idee meiner Ex! Sie wollte eigentlich eine Katze haben. Und die wollte sie Ratte nennen. Da führte das Eine zum Anderen. Ich bin schon ganz froh dass sie kein Pferd bekommen und es Tiger genannt hat.“
Wieso um Himmels Willen ließ das Wörtchen „Ex“ Eva so seltsam aufhorchen?
Katze blieb an einem mickrigen Halm stehen, den Eva bei genauerem Hinsehen zu einer Erle erklärte, hob den rechten Hinterlauf und pinkelte an dem Stamm vorbei auf das Vorderrad eines angelehnten Fahrrades, was Eva zu eine breiten Grinsen veranlasste.
Sie betraten den Supermarkt und Eva packte sich Milch, Müsli, eine Flasche Multivitaminsaft, ein paar Äpfel und eine Minutenterrine in den Einkaufswagen.
Gemeinsam verließen sie den Laden zehn Minuten später.
„Warst du schon mal in Berlin? Vorher mein ich.“, wollte Sven nach ein paar schweigenden Minuten wissen.
„Einmal um mir die Wohnung anzusehen. Aber eigentlich nicht wirklich.“, antwortete Eva.
„Kann ganz schön erschreckend sein, was?“ Er war stehen geblieben und kramte nach dem Hausschlüssel.
„Wem sagst du das?“
‚Das war doch wirklich die Untertreibung des Jahrhunderts.’
„Aber zumindest werde ich nicht verhungern.“
Sie hielt ihre Einkaufstüte hoch und lachte. Katze begann sich an ihr Bein zu schmiegen und hielt seine Schnauze unter Evas Hand, so als würde er sie zum streicheln auffordern. Was blieb Eva da auch anderes übrig.
Ihre Wege trennten sich an Eva Wohnungstür.
„Man sieht sich.“, verabschiedete sich Sven und stieg weiter die Treppen hinauf. Katze ließ sich unwillig hinterher ziehen, die kleinen runden Augen bis zuletzt auf Eva gerichtet.
„Komische Katze.“, murmelte Eva und verschwand in der Wohnungstür.