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Das verflixte erste Jahr - 2. Die Sache mit dem Alleinsein
Ihr neues zu Hause war von außen eine ziemliche Bruchbude, aber einzige bezahlbare Immobilie in dieser Gegend. Das große Schild an der Hauseinfahrt "Einfahrt freihalten" war mit Graffiti überzogen und kaum zu lesen. Das erklärte vermutlich auch den weißen VW Bus, der konsequent in der Einfahrt parkte.
Die unteren Etagen hatten Rollos an den Fenstern die im Moment heruntergezogen waren. Vereinzelte Balkone zur Straßenseite waren voll gestellt mit alten Möbeln, ein paar traurigen Pflanzen, Blecheimern, Besenstielen und anderem Gerümpel. Sie kramte in ihrem Rucksack nach einem Schlüssel und bekam panische Angst, als die ersten Versuche des Öffnens missglückten.
"Du musst schon ordentlich dagegen treten."
Schon wieder eine Stimme hinter ihr und erschrocken wirbelte sie herum.
"Hi, ich bin Pepe. Du bist bestimmt Eva."
Der Junge hatte schwarze Haare die ihm bis über die Schulter fielen, markante Gesichtszüge betont von seinem Dreitagebart und fast rabenschwarzen Augen, die ihm ein ziemlich unheimliches Aussehen verliehen. Gerade stemmte er mit der Schulter gegen die Tür und quietschend öffnete sich der Flügel.
"Äh, ja. Hi." Pepe schnappte sich eine Tasche und trottete los. "Kommst du?"
Er stieg in die zweite Etage und als Eva oben angekommen war stand die Tür zur Wohnung schon offen.
"Du wohnst hier, du kannst also auch rein kommen.", kam Pepes Stimme aus einem der Räume.
Die Tür hinter sich schließend trat Eva ein und sah sich um. Die Besichtigung der Wohnung vor drei Wochen hatte sie nur zu gut in Erinnerung. Vor zwei Monaten war einer der WG Bewohner ausgezogen und die beiden anderen Bewohner, Pepe und Vicky, hatten allein in der großen Viereinhalbraumwohnung gelebt. Der Flur, in dem Eva stand war lang und ging einmal um die Ecke. Gleich neben dem Eingang ging es ins Bad. Dahinter war ein kleines Zimmer, in dem zwei Computer und ein Mischpult standen.
Geradezu führte ein Türbogen in die Küche, die gleichzeitig Wohnzimmer, Esszimmer und Abstellkammer schien. Große Plüschkissen ersetzten die Couch und ein kleiner Tisch mit Campingstühlen war die Essecke. Die Wände waren voll gestellt mit Bücherschränken, einigen Postern und auf den Regalen mit einer bunten Mischung exotischer Masken und Pfeifen. Im Großen und Ganzen schien die Ausstattung aus allen möglichen Farben, Formen und Stilen zusammengewürfelt worden zu sein.
Drei weitere Zimmer gingen vom Flur aus ab und Pepe kam gerade aus dem Zimmer direkt rechts neben dem Eingang.
"Was ist? Hast du es dir wieder anders überlegt? Also Miete musst du für diesen Monat aber mindestens zahlen.", sagte er und grinste beruhigend als er Evas entsetzten Gesichtsausdruck sah.
"Schon gut, schon gut." Er schnappte sich Evas andere Tasche und stellte sie ebenfalls ins Zimmer.
"Du warst ja schon mal hier, kennst also wo alles ist."
Ein Einzelbett, ein Kleiderschrank und ein kleiner Tisch mit Stuhl waren das einzige Mobiliar im Zimmer, aber es sah zumindest sauber aus. Mit ein paar Bildern, Pflanzen und ihren Kuscheltieren würde sie schon ein wohnliches Feeling hier reinbekommen.
Pepe war wieder raus gegangen und brüllte ihr aus einem der anderen Zimmer zu: "Hier gilt anklopfen, klar? Wenn die Tür zu deinem Zimmer zu ist, dann wird auch keiner reinkommen. Ist sie auf, wirst du dich wahrscheinlich wie im Hauptbahnhof fühlen. Lass sie also einfach zu. Das gilt natürlich auch für mein und Vickys Zimmer."
"Wo ist Vicky?", fragte Eva zurück, mehr aus Unsicherheit als Interesse.
"Keine Ahnung. Sie kommt und geht wann es ihr passt. Meistens geht sie. Das ist allerdings bei mir nicht anders. Ich muss übrigens gleich wieder los. Wollt nur schauen ob du da bist." Er stand wieder in der Tür und hatte nun einen Rucksack auf den Schultern. "Machs dir bequem, tob dich aus, meditier oder tu auch immer was du nicht lassen kannst. Gegen fünfe bin ich wahrscheinlich wieder da, dann können wir ja weiter quatschen. Du solltest übrigens Eis drauf tun." Er zeigte vage in Richtung ihres Auges. "Bis dann."
Und weg war er.
Allein.
Allein in der neuen, großen, unbekannten Wohnung. Eva ließ den Rucksack auf die Matratze gleiten und blieb einen Moment lang einfach inmitten des Zimmers stehen. Es gab so viel zu tun, aber sie konnte beim besten Willen nicht die Motivation aufbringen auch nur einen Handschlag zu machen. In einiger Entfernung konnte sie den Verkehrslärm auf der Franfurter hören und die schwachen Oktobersonnenstrahlen schienen durch das schmierige Fenster.
Anrufen, sie sollte ihre Eltern anrufen. Und was hatte ihr Vater gesagt? Ach ja, das Handy gleich aufladen. Und außerdem Eis auf das Auge tun.
Seit dem Morgen pochte ein dumpfer Schmerz in ihrer rechten Schläfe und nun wagte sie es, einen Blick in den Spiegel zu riskieren. Sie überquerte den Flur und trat in das erstaunlich geräumige Badezimmer.
Eine Badewanne mit einem undurchsichtigen Vorhang war gleich links neben der Tür. Das Waschbecken mit einer ungehörigen Anzahl von Zahnbürsten und leeren Seifendosen war gleich dahinter. Ein hohes Regal zu ihrer Rechten war voll bepackt mit unterschiedlichen Handtüchern (die Farbauswahl äußerst futuristisch), Shampoos, Duschgel, kleinen Windlichtern die teilweise schon längst abgebrannt waren, Bürsten, Haarspangen, Haarklammern, Rasierern und Cremes und Tuben jeglicher Altersklasse. Über dem Waschbecken hing ein großer Spiegel.
Eva begutachtete ihr leicht angeschwollenes Auge und den dazugehörigen blauen Fleck, der, wie sie fand, Ähnlichkeit mit der Gesichtsbemalung ihrer Beagle Hündin Mira hatte. Sie dachte daran, als erstes die auserwählten Fotos aus ihrer Tasche zu kramen und an die kahlen Wände ihres neuen Zimmers zu kleben. Doch zuerst musste definitiv das Eis her. Also inspizierte sie die Küche.
Der Kühlschrank schien ein äußerst einseitig genutzter Haushaltsgegenstand in der Küche zu sein. Eva zählte drei verschieden Biersorten in 7 Flaschen, mehrere Joghurtsorten deren Haltbarkeitsdatum schon im letzten Jahrhundert ausgelaufen war, einige Tüten mit undefinierbarem Inhalt und drei Becher Hüttenkäse. Das Tiefkühlfach bestand zu zwei Dritteln aus angefrorenem Eis und jemand hatte, um überhaupt etwas in das Fach zu bekommen, die Nahrungsmittel auf abenteuerliche Weise verbogen und gefaltet. Davon zwei Pizza Margerita die unfreiwillig zu zwei Pizza Calzone degradiert wurden. Zwei abgepackte Eis am Stiel waren in die restlichen Lücken gequetscht.
Aber keine Eiswürfel.
Vorsichtig versuchte Eva etwas von dem angefrorenen Eis abzukratzen, schaffte es aber nur ein paar Eiskrümel auf dem Parkett vor dem Kühlschrank zu verteilen. Ihr Blick fiel auf die Besteckkiste die unsortiert neben der Spüle lag. Sie schnappte sich ein Messer und begann mit Gewalt das Eis abzuschlagen, wickelte es in ein Handtuch aus dem Bad und legte das verbogene Messer mit schlechtem Gewissen in die Spüle, um es später kurz abzuspülen.
Sie war kein halbe Stunde hier und begann schon den Haushalt zu demolieren.
Nachdem sie das Bett bezogen hatte, kramte sie das Handy aus der Tasche. Nach dem dritten Klingeln meldete sich ihre aufgeregte Mutter.
"Eva? Bist du das?"
"Ja Mama. Was hättest du denn gemacht wenn ich es nicht gewesen wäre?"
Doch ihre Mutter ignorierte ihre Frage und plapperte hastig weiter.
"Wie geht es dir? Bist du angekommen? Ich habe mir solche Sorgen gemacht. Geht es dir auch wirklich gut?"
Eva verkniff sich eine sarkastische Antwort ("Mama ich bin im Obdachlosenheim, spritze mir gerade Drogen in die Armbeuge und warte auf die nächste Wehe.") und begann beruhigend auf ihre Mutter einzureden.
"Es geht mir gut Mama. Bin schon angekommen und habe auch meinen neuen Mitbewohner, Pepe, kennen gelernt."
"Pepe? Das klingt nach einem italienischen Zeitungsjungen. Ich hoffe er ist kein Drogenhändler. Oder Zuhälter."
"Mama! Sei doch nicht so pessimistisch. Er war sehr nett und ist auch schon wieder weg. Ich glaube er musste wieder zur Uni, oder so."
"Er studiert?"
"Ja, das machen viele junge Menschen hier in Berlin.", bemerkte Eva leicht schnippisch und rollte mit den Augen.
"Eva Marja, red nicht so mit mir, ich mache mir doch nur Sorgen."
"Ich weiß, tut mir leid. Aber es geht mir wirklich gut, versprochen. Vielleicht ruf ich heute Abend noch mal, mein Akku ist gleich alle. Machs gut."
"Aber dein Vater hat gesagt du das Akku gleich aufladen wenn du ..."
Eva legte auf.
Na das war doch schon mal ein guter Start in das neue Leben.
Sie ging zum Fenster und starrte ein paar Minuten auf die belebte Straße einige Meter unter ihr. Sie versuchte einen Blick auf den leicht bewölkten Himmel zu werfen, doch das Haus gegenüber nahm ihr die Sicht.
Sie legte sich auf das frisch gemachte Bett und schloss die Augen. Sie packte sich das Handtuch mit den Eiskrümeln auf das rechte Auge. Nur ein paar Minuten ausruhen ...