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Das verflixte erste Jahr - 1. Die Sache mit dem Abschied
Der Wecker klingelte am Freitag Morgen Punkt 7:00 Uhr - dann um 7:05 - dann um 7:10 Uhr - dann um 7:15 Uhr. Ein penetrantes Klingeln, das Eva Marja an eine Zeit voll gestresster Abiturprüfungen und Klausurtage erinnerte. Unwirsch hieb sie mit der Hand in die ungefähre Richtung aus der das leidige Geräusch kam und traf den Bilderrahmen mit den Katzenphotos. Mit einem leisen Fluchen sah sie aus verquollenen Augen zu, wie der Metallrahmen einen Hüpfer machte und hinter dem Nachttisch in der Ritze zwischen Wand und Schränkchen verschwand. Sie schlug die Decke beiseite, krabbelte auf die Knie und versuchte mit einer Hand in die schmale Spalte zu greifen, um das Bild hervorzuholen.
"Bitte lass es keine Scherben geben. Nicht heute!", grummelte sie und ertastete, den Kopf unnatürlich verrenkt um den Arm noch weiterstrecken zu können, das metallene Gehäuse.
"Ja!", juchzte sie leise als sich ihre Finger um das Objekt schlossen, zog den Arm hastig wieder hervor - und stieß laut krachend mit ihrer Schläfe gegen das Bettgestell. Diesmal war das Fluchen etwas ausgedehnter.
Ihr Vater war entsetzt.
Eva Marja war begeistert.
"Es wird schon gut gehen!", beruhigte sie ihren Vater. Der saß grimmig neben ihr und fuhr sie mit dem alten Ford die halbe Stunde von ihrem Heimatdorf Kleineiche bis zum Grüberwerder Bahnhof, wo der Zug in 45 Minuten starten würde.
"Vergiß nicht dein Handy aufzuladen, sobald du da bist. Und ruf uns an, verstanden? Hast du die Stullen eingepackt? Du kennst doch deine Mutter. Sie schickt sie dir sonst per Paket hinterher."
"Ja Papa!"
Er hörte nicht auf zu reden und erinnerte sie an alles, woran sie seit Tagen nur noch dachte. Sie schloss die Augen und versuchte das seltsame Gefühl in ihrer Magengegend zu ignorieren. Heute verließ sie das Elternhaus. Sie zog nach Berlin um dort zu leben - alleine. Obwohl die Stadt einige Million Einwohner hatte, würde sie tatsächlich ganz alleine sein. Alleine einkaufen, alleine studieren, alleine ihre Wäsche waschen.
Oh Gott, ihr fiel ein, dass sie noch nie eine Waschmaschine bedient hatte. Aber das würde sie ihrem Vater jetzt wohl kaum unter die Nase reiben.
"Ja Papa.", antwortet sie ihrem Vater, der zum x-ten Mal nachfragte, ob sie den Wohnungsschlüssel, das Ticket und die Notrufnummern der Polizei, Ambulanz und des Verteidigungsministeriums bei sich trug.
Von ihrer Mutter hatte sie sich bereits gestern Abend verabschiedet, da diese in der örtlichen Bäckerei tätig und bereits seit 4 Stunden aus dem Haus war. Es war ein sehr tränenreicher Abschied gewesen. Mutters einziges Kind zog in die große weite Welt und würde, wenn es nach der Einbildungskraft ihrer Mutter ging, in drei Wochen hochschwanger, drogenabhängig und vollkommen mittellos sein.
"Was ist mit dem Geld? Hast du das Geld dabei? Hast du es verteilt? Ich will nicht, dass man dir gleich am Anfang alles klaut. Du solltest es an verschieden Stellen in deinem Gepäck verteilen, weißt du!"
Das klang so, als würde Berlin nur aus Kleinkriminellen und Betrügern bestehen, dachte sich Eva und rollte mit den Augen, ohne dass ihr Vater es bemerkte. Er zählte gerade die empfindlichsten Stellen im Körperbau eines Mannes auf – ‚nur für alle Fälle’ wie er es immer betonte.
Der Bahnhof war nun in Sicht und Evas Magen schien gerade Polkastunden zu nehmen.
"Papa?", unterbrach sie den Wortschwall ihres Vaters. "Es wird schon alles gut gehen. Mit ein wenig Glück kann ich euch in ein paar Wochen besuchen kommen. Macht euch bitte nicht zu viele Sorgen, okay?" Sie verschwieg die Tatsache, dass sie sich alleine schon Sorgen für drei macht.
Ihr Vater parkte ein und drehte sich zu seiner Tochter um.
"Ich weiß ja, dass du es schaffen wirst, aber ich wäre gerne dabei um zuzusehen, verstehst du?"
Ihr Vater war ein sehr ernster Mann. Sehr streng und wenig emotional. Er war aber derjenige gewesen, der sie in ihrem Vorhaben unterstützt, ihr finanzielle Hilfe zugesichert und mit ihr die Wohnungs- und Zimmerangebote durchforstet hatte.
Und nun saß er mit glänzenden Augen vor ihr und versuchte sie in ein eigenes, neues Leben zu entlassen.
"Wir sind sehr stolz auf dich, Eva Marja." Sie hasste es, wenn Ihr Vater sie mit vollem Namen ansprach.
"Ich weiß, Paps." Sie schluckte.
"Wir wollen nicht dass du dich alleine gelassen fühlst wenn du Probleme haben solltest. Wir sind immer für dich da. Was auch immer passiert."
"Ich weiß." Sie schluckte erneut.
"Und ich will dass du dich ganz in dein Studium reinhängst, Eva Marja Schimmer. Es geht hier um deine Zukunft. Und auch wenn du noch sehr jung bist, ist eine Ausbildung heutzutage das Wichtigste."
Eva schluckte den aufkeimenden Ärger hinunter und nickte brav. Als ob sie das nicht selber wüsste, schimpfte sie. Warum konnte ihr Vater ihr nicht einfach sagen, sie solle die ganze Sache nicht zu ernst sehen und locker bleiben. Damit wäre ihr vermutlich am ehesten geholfen, dachte sie frustriert und der Druck in ihrer Magengegend nahm Überhand. Sie brauchte jetzt ganz dringend eine Toilette.
"Jaaa, Papa!", seufzte sie zum letzten Mal und sah theatralisch auf ihre Armbanduhr.
"Ich muss jetzt los, Paps, sonst verpass ich noch den Zug."
Der nickte, stieg aus und holte die zwei Reisetaschen aus dem Kofferraum. Auf dem Weg zum Gleis blieb er ganz still und bevor Eva in ihren Waggon stieg drückte er sie noch mal ganz fest. Dann, als hätte er etwas Peinliches getan, macht er einen Schritt nach hinten, zog sich das Hemd glatt und zeigte auf den Zug.
"Steig ein, er fährt gleich los."
"Ja Papa."
"Ach und tu etwas Eis auf dein Auge falls du welches besorgen kannst.", sagte er und grinste dabei schief. Sie nahm die zentnerschweren Taschen, zwängte sich durch die viel zu schmalen Türen und suchte sich einen Sitzplatz am Fenster. Ihr Vater stand noch immer etwas verloren auf dem leeren Bahnsteig, die Hände in den Hosentaschen vergraben. Mit einem Ruck setzte sich der Zug in Bewegung und Eva winkte ihrem Vater ein letztes Mal zu. Jetzt gab es wohl kein Zurück mehr.
Sie hatte sich ein Buch zum Lesen mitgenommen und hielt es während der ersten halbe Stunde zwischen den klammen Fingern ohne auch nur einen Blick auf das Einband zu werfen. Die Landschaft rauschte an ihr vorbei, der alte Bahnhof aus dem Nachbarort, der Reiterhof von der netten alten Frau Milberg. Eva hatte das ungute Gefühl, das alles nie wieder zusehen und im Sumpf der Großstadt total unterzugehen. 19 Jahre lang hatte sie ihre Heimat nie verlassen außer wenn sie mit ihren Eltern in den Urlaub verreiste oder ihre Verwandten in Frankfurt besuchte. Ganz plötzlich, so als wäre etwas ganz Schreckliches passiert hatte Eva das Gefühl weinen zu müssen. Wütend rieb sie sich die Augen und überlegte ob sie ihre Freundin Claudia anrufen sollte um sich etwas trösten zu lassen. Aber sie ließ das Handy in ihrem Rucksack und schlug stattdessen das Buch auf.
"Ist hier noch frei?", fragte eine laute Stimme.
Eva blickte auf. "Häh?"
"Gut."
Der Mann hievte einen dreckigen Seesack über den Kopf in die plötzlich sehr unstabil aussehende Kofferablage und ließ sich mit einem Keuchen neben Eva nieder.
"Hallo!", grinste er blöde und setzte seine Kopfhörer auf. Die waren viel zu laut eingestellt und Eva konnte jedes Wort von dem furchtbaren Rocksong mithören.
Sie versuchte sich auf die Worte in ihrem Buch zu konzentrieren, gab aber nach ein paar Minuten auf. Den Mann darauf hinzuweisen, dass die laute Musik sie störte, traute sie sich nicht. Doch als er anfing mit schiefer Stimme mitzusingen, tippte sie ihn vorsichtig an. Nach dem dritten Versuch nahm der Typ die Kopfhörer.
"Was is?", fragte er mit einem verärgerten Unterton.
'Mach gefälligst die Musik ein bisschen leiser, ja?', wollte Eva sagen. Doch sie stockte und presste ein viel zu hohes "Ich ... muss mal hier durch." heraus.
Der Typ drückte sich in den Sitz und ließ Eva in den Gang.
Na das war ja super gelaufen.
Sie stolperte zur nächsten Toilette und schloss sich ein paar Minuten darin ein bevor sie wieder zu ihrem Platz ging. Der Mann war inzwischen eingenickt und mit Erleichterung hörte Eva, dass die Musik offensichtlich aus war. Sie krabbelte umständlich zurück in den Sitz und zerdrückte dabei eine Packung Kekse, die sie auf ihrer Lehne liegen gelassen hatte.
"Na toll!", murmelte sie. Und schon wieder war ihr zum Heulen zumute.
Die Fahrt ging weiter an endlosen Feldern vorbei, Wäldern und durch einige Städte. Der Zug fuhr zu schnell als dass man die Ortsschilder hätte erkennen können.
Gegen ein Uhr Mittag tönte die gelangweilte Stimme aus der Durchsage. "Meine Damen und Herren. In wenigen Minuten erreichen wir den Bahnhof Berlin-Ostbahnhof. Planmäßige Abfahrtszeit 13:15 Uhr."
Hastig sammelte Eva ihre Keksschachtel, das Buch und ihre dünne Strickjacke ein. Nachdem ihr beide Taschen mit einem schmerzhaften Uff zuerst auf den Kopf und dann auf den Fuß gefallen waren, humpelte sie keuchend durch den viel zu engen Gang und anschließend auf das Gleis. Kaum auf dem Bahnsteig angekommen, drängelten Leute vor, hinter und neben ihr. Sie strömten in Massen zu den Ausgängen oder in den Zug. Da ihr ohnehin nicht viel anderes übrig blieb als mit der Masse mit zu schwimmen, lief sie in Richtung Ausgang. Ein großes Schild mit einem grünen "S" darauf wies den Weg zu den S-Bahn Gleisen. Eva holte aus ihrer Hosentasche den zerknitterten Zettel, auf dem sie aufgeschrieben hatte, welche Linie sie nehmen müsste.
S 75 Richtung Spandau - eine Station bis Warschauer Straße
Soviel zur Theorie.
Total verwirrt blieb sie vor den kunterbunten S-Bahn Plänen stehen, die im Tunnel an der Wand hingen.
"Hey du!", rief eine Stimme. Doch in diesem Gang hallten so viele Stimmen, dass sich Eva nicht angesprochen fühlte.
"Hey, du. Wo willste denn hin?", fragte die Stimme wieder und Eva sah sich um. Neben ihr auf dem Fußboden saßen zwei junge Männer. Eine alte Karodecke auf dem kalten Steinfußboden ausgebreitet hatten sie sich hingesetzt und eine alte Tupperschüssel (wie war das mit der 30 Jahre Garantie?) stand vor ihnen, vereinzelte 10 oder 20 Cent Stücke darin verstreut.
'Oh Gott!', erschrak sich Eva und sah sich hilfesuchend um in der Hoffnung, der heruntergekommen Junge redete gar nicht mit ihr.
"Wat denn? Ick tu schon nüscht. Ick wollt nur helfen.", quäkte der Fremde und kraulte dem schlafendem Hund neben ihm das verfilzte Fell.
"Ich will nach Warschauer Straße.", sagte Eva vorsichtig und lächelte beschwichtigend. "Ich bin aber, na ja, ich bin das erste Mal in Berlin."
"Ach! Wirklich?" Der Typ hob die Augenbrauen in die Höhe und schüttelte belustigt den Kopf.
"Da lang!" Mit schmutzigen Fingern zeigte er auf einen Treppenaufgang. "Is nur eene Station.", fügte er hinzu.
Sie lief los und ein gebrülltes "Hätts ja ruhisch mal n Euro jeben können!" ließ sie erröten. Nach dem sie schwer atmend die Treppen hochgestiegen war - und kurz darauf eine Rolltreppe auf der anderen Seite erkannte - sah sie sich um. Sie schätzte die Anzahl der Menschen grob auf die Einwohnerzahl ihres Heimatdorfes und studierte fasziniert den Fahrkartenautomaten, der erstaunlich leicht zu bedienen war.
'Naja, zumindest steht hier noch alles in deutsch', dachte sie und hätte dabei fast losgekichert.
Trotz allem verlief die Fahrt mit der S-Bahn erstaunlich ereignislos, obwohl sie glaubte den Mann gegenüber schon mal in einer Folge von Akte X gesehen zu haben - als dreiäugiges, kannibalisches Monster.
Und auch wenn es auf der S-Bahn Station Warschauer weitaus weniger hektisch zuging, lief Eva zuerst in die falsche Richtung und fand sich vor einem großen, anheimelnden Schild
Eltern haften für Ihre Kinder
wieder. Eine endlose Anzahl von Gleisen und rechts und links hohe, heruntergekommene Gebäude aus rotem Backstein ließen die Ecke ziemlich trostlos erscheinen. Also drehte sie um und lief in die andere Richtung.
Die Menschen hier schienen allesamt von einem anderen Stern zu sein, stellte Eva fest und erschrak vor einem jungen Mädchen, die sich eine dreistellige Anzahl von Piercings in Augenbrauen, Lippe, Nase und Ohrläppchen hatte stechen lassen.
Über die Brücke nach links - in die Straßenbahn 21 drei Stationen bis Bersarinplatz - aussteigen (puh das war eine vitale Information) - im Kreisverkehr in die Rigaer Straße - immer weiter bis Ecke Fennigstraße. Hausnummer 36
Das waren die Instruktionen, die sie von ihrer neuen Mitbewohnerin Vicky erhalten hatte. Doch im Moment schienen diese Informationen in Latein geschrieben und Eva hatte nicht die geringste Ahnung, ob sie sich überhaupt in der richtigen Stadt befand. Die Taschen wurden immer schwerer und der Weg immer weiter. Die Straßenbahn ruckelte gemütlich durch den vielbefahrenen Stadtteil und am Bersarinplatz stieg sie aus. Die Rigaerstraße entlang, drei mal in Hundemist getreten, vier mal ausgewichen und sieben mal fast von dreisten Fahrradfahrern umgefahren stand sie vor der Fennigstraße 36.