Das Verbrechen
Das Verbrechen (Eine absichtlich utopische Geschichte)
von Frank Sohler
An einem stürmisch-verregneten Julitag fuhr er zu seinen vielleicht zukünftigen Schwiegereltern Herbert und Herty Dexter, die in einem verwahrlosten Bergnest namens Cherivito, unterhalb der Rocky Mountains, wohnten. Der Wasserniederschlag nahm mit stetiger Tendenz zu und ging allmählich ins Extreme über. Der Wettervorhersage nach konnte man zwar schon besseres erwarten, aber der Scheibenwischer musste noch immer volle Arbeit leisten. Er brauste mit knapp 70 Meilen pro Stunde die ansteigende Landstraße hinauf Richtung Mountains: Joebert, von allen schlicht und einfach Joe genannt, wie könnte es auch anders sein. Er war ein großer, breit und kräftig gebauter und trotzdem zugleich schlaksig-schlanker blutjunger Mann, um genau zu sein 21. Ihm persönlich war diese Zahl zu groß, er fühlte sich noch wie 16. Doch genau diese Art von Gefühl hatte ihm schon viel Gutes eingebracht, insbesondere in Sachen Liebe: Die Mädchen, seit längerem auch Frauen, mochten seine Art, die jugendlich frisch, locker, unkompliziert und gleichsam verständnisvoll wirkte. Daher hatte er auch mit elf bereits seine erste Freundin (es folgten natürlich einige weitere), und mit dreizehn folgte dann das erste Mal (um sachlich zu bleiben, will ich hier nicht ins Detail gehen, denn der Teufel liegt ja bekanntlich darin). Das Alles hatte er nebenbei auch seinem makellosen Äußeren zu verdanken: blonder, glänzender und glatter Haarschopf, den er zur Zeit zum Zopf nach hinten gebunden hatte, ein wohlgeformtes, gut durchstrukturiertes Gesicht, strahlend blaue Augen, die das Weibliche Geschlecht schon beim ersten Blick um den (manchmal kleinen) Verstand brachten, usw., um nur einiges zu nennen. Mit siebzehn lernte er schließlich seine bislang größte Liebe in Person kennen, die schon neunzehnjährige Anita, mit der alles auf Anhieb funktionierte. Sie wurde alsbald seine Geliebte, und kurz darauf wollte sie seine Gelobte sein und machte ihm den vorentscheidenden Heiratsantrag. Diese damit verbundene vermeintlich lebenslängliche Form von sozialer Beziehung hielt Joe bis vor seinem erstmaligen Treffen mit Anita zwar für recht sinnlos, doch ihr gelang es, seine Einstellung und somit den Stand der Dinge radiakl zu verändern. Er sah sich schon im Sinne, ihr Angebot anzunehmen und somit wäre bei den beiden eigentlich alles geregelt gewesen, hätte Anita nicht diese derart rüpelhaften Eltern gehabt, die ihr schon in frühen Jahren das Leben auf Erden zur Hölle und nun Joe Dasseine schwermachten, indem sie sich mit ihm als zukünftigen Mann ihrer Tochter und ihren Schwiegersohn schlichtweg nicht einverstanden erklärten. Vielmehr noch, sie nahmen sich sogar das Recht, Anita den Umgang mit Joe zu verbieten und nicht einmal daran zu denken, diesen ins elterliche Haus (soweit man hierbei von Haus sprechen konnte) zu verschleppen.
Die Dexters waren zwar stinkarme, aber trotzdem sehr eingebildete Leute, die sich, obwohl ohne Schulbildung, als besonders intellektuell betrachteten, und Joe mit seinem Job als Fahrradkurier war in ihren Augen nichts weiter als ein kleiner ärmlicher Dümmling. Aus diesem Grunde machten sie sich Sorgen um ihre Tochter, die ihrer Ansicht nach jemand Besseren verdient hätte, der Anita und ihnen zum Beispiel auch mal gelegentlich finanziell unter die Achseln greifen und sie aus der beinahen Armut retten konnte, der sie schon vor langem verfallen waren. Aus diesem Standpunkt heraus rieten sie Joe, sich von ihrer Tochter fernzuhalten. Es versteht sich von selbst, dass sich das junge Paar, das inzwischen 20 und 22 war, einen Dreck darum scherte, was die Dexters von ihrer Partnerschaft hielten.
Das interessante an der ganzen Sache war, dass sie bis auf seinen Job ganz und gar nichts von Joe wussten; sie hatten ihn auch erst ein einziges Mal gesehen dabei auch nur sehr flüchtig kennengelernt. Genau darin sah Joe den springenden Punkt und zog es deshalb vor, nicht gleich aufzugeben und statt dessen den Vorurteilen ein Ende zu machen. Er beschloss kurzerhand, Ma und Pa Dexter durch Erstattung eines Besuches entgegenzukommen, sie erst mal freundlich kennen zu lernen und sie nach und nach davon zu überzeugen, dass er nicht gerade so der falsche für ihre heißgeliebte einzige Tochter war.
Wie dem auch sei, Joebert befand sich nun jedenfalls in seinem alten Renault (der zwar nichts mehr wert war und zudem halb auseinander fiel, jedoch Joes Ein und Alles war) auf dem Weg nach Cherivito, dem Zielort seiner Mission. Er war sich bis zu diesem Zeitpunkt nicht im Geringsten im Klaren darüber, ob er bei den alten Leuten überhaupt irgendwas erreichen konnte, zumal er für sie so was wie ein Nichtsnutz war, was die Chancen enorm dämpften. Doch Joe war die Art von Typ, der niemals aufgibt, bevor er sein Ziel nicht erreicht hat, und daher wollte er das Handtuch locker über der Schulter behalten, anstatt es gleich zu werfen.
Wie bereits schon angemerkt: Unser Held fuhr also in Richtung Cherivito den highwayartigen Bergpass die Mountains hinauf; er war guter Dinge und voll großer Erwartungen. Es goss nach wie vor in starken Strömen. Nur noch wenige Meilen trennten ihn vom Bestimmungsort, der Moment der Entscheidung kam näher, und er musste sich allmählich Gedanken über sein nun anstehendes Gespräch mit den beiden zu überzeugenden Personen machen. Er ließ sich also sämtliche mögliche Argumentationsaspekte durch den Kopf gehen, von denen ihm anfangs kein einziger plausibel genug erschien. Erst wenige Meilen vor dem Ziel kam ihm die passende Lösung, die ich allerdings nicht näher erläutern möchte, denn es sollte sich baldigst herausstellen, dass das alles plötzlich vollkommen an Bedeutung verlieren sollte. Es bahnten sich nämlich Geschehnisse von weitaus höher liegender Priorität an, die alles aus den gewünschten Schienen werfen sollten und diese recht harmlose Geschichte zu einem fast reißerischen Abenteuer, eher noch zu einem regelrechten Drama und Spektakel zugleich mutieren lassen würden. Das Ganze hatte gerade erst angefangen.
Noch fuhr Joe nichtsahnend und geistesabwesend mit seinem privaten Transportmittel, oft auch Automobil oder kürzer ausgedrückt Auto tituliert...
Doch lassen wir diese Gedankensausschweife und kommen zum wesentlichen Thema zurück, wo die Musik spielt:
Joe legte nun die letzten paar hundert Meter zurück, kam in den wohlsituierten Bonzenbereich, wo sich komischerweise ganz am Ende der endlos lang erscheinenden Straße die kleine Blockhütte der Dexters befand, die eher an ein zu groß geratenes Gartenhaus, als an ein Einfamilien-Wohnhaus erinnerte. Schließlich fuhr Joe die breite und mäßig abfallende Einfahrt der beiden hinunter. Er war sich zum Glück (oder auch nicht) im Klaren darüber, was er ihnen zu übermitteln vorhatte, der Himmel war immer noch genau das Gegenteil von klar, als er sah und spürte, dass hier etwas nicht stimmte, sprichwörtlich ausgedrückt, die Kacke kräftig am Dampfen war, er wusste nur noch nicht so recht, in welcher konkreten Hinsicht. Zuerst wollte Joe mal seinen Wagen abstellen und ihn parkfertig machen, dann stieg er höchstvorsichtig aus, ganz ohne Regenschirm; die Nässe störte ihn nicht im Geringsten, er war ohnehin schon von Natur aus mit allen Wassern gewaschen. Als nächstes schaute er sich neubegierig um, um kurz die Lage zu peilen. Joe war erst ein einziges Mal hier gewesen und selbst das wäre nicht nötig gewesen, um zu erkennen, dass etwas höchst merkwürdiges vor sich ging: Alle Fensterläden waren verschlossen, die Gartenstühle und -tische lagen auf dem gesamten Rasen umgestossen verstreut (was darauf hinweisen konnte, dass hier zuvor ein ziemlich heftiges Handgemenge oder ähnliches stattgefunden hatte) und vor allem stand ein großer Lieferwagen, genauer gesagt ein Van, inmitten der Wiese geparkt, der mit hundertprozentiger Sicherheit keinem Angehörigen, Verwandten oder Bekannten der Dexters gehörte und wohl kaum ohne vorherige Erlaubnis dort plaziert wurde. Eindeutig war hier etwas faul, das spürte sogar ein taubstummer und Blinder zugleich, auch wenn er keinen Blindenstock oder einen Blindenhund besaß. Joe musste der Sache unbedingt auf den Grund gehen und, und es die Lage erforderte, etwas unternehmen. Wenn er jetzt einen Rückzieher machte, hatte er bei den Dexters alle Chancen vertan, außerdem wäre er dann den ganzen weiten Weg hierher umsonst gefahren.
Die Fahrerkabine war leer. Joe bewegte sich stumm zur hinteren Einstieg des Gefährts und zog an dessen Griff. Er ließ sich bewegen. Joe klappte die Tür hoch. Auch der Innenraum war unbesetzt. Er tapste geräuschlos wie auf Samtpfoten auf die Treppe vor der Haustüre zu, schlich leise die Steinstufen hinauf und drehte vorsichtig den Türknauf eine halbe Umdrehung nach rechts. Die Tür war nicht einmal abgeschlossen und ging mit einem leisen Knarren auf. Joe pirschte sich ein paar Meter an der Hausgangwand entlang, blieb mit dem Rücken zu dieser starr stehen und spitzte seine Lauschorgane. Er konnte schlurfende und klopfende Geräusche wahrnehmen: Jemand lief umher. Er vermutete intuitiv vier Menschen, (es konnten allerdings auch mehr oder weniger sein) gleich um die Ecke, im Wohnzimmer, ca. 4 Meter entfernt, wo die Geräusche herkamen: Herbert und Herty und wahrscheinlich zwei unerwartete und unangenehme Besucher. Eine bedrohend knurrende Stimme, die sich ganz nach einem Gauner anhörte, setzte an zu sprechen:
„Keine Bewegung ihr alten Schnepfen und haltet die Klappe!“
„Was zum Teufel wollen sie denn eigentlich von uns?“ Das hörte sich ganz nach Herbert an.
„Na was wohl. Euer scheißverdammtes Geld natürlich!“
(Ich weiß, dass es absolut absurd ist, dass ein Gauner in einer Hunderte von Meter langen Anreihung von noblen Reihenhäusern ausgerechnet das letzte und dazu noch das am ärmsten aussehende Haus wählt; aber wie schon in der Überschrift gesagt, soll diese Geschichte nicht glaubhaft wirken.)
„Aber wir haben doch so gut wie gar nix!“, erwiderte Herbert dann. (Wo er recht hatte.)
Es war ein leises Klicken zu vernehmen.
„Na gut, Sie kriegen alles, was Sie haben wollen, aber bitte schießen sie nicht!“
„Na dann mal her mit euren ganzen Vorräten! Aber flott, oder ich muss es mir anders überlegen!“
„Herbert, tu das bloß nicht!“, jammerte Herty.
„Ich muss es tun, Schatz, oder willst du, dass die uns durchlöchern?“
Jetzt sagte Herty nichts mehr. Darauf rannte Herbert, so schnell es in seinem Alter noch möglich war, in Windeseile die Treppe im Gang hinauf, wo Joe sich momentan aufhielt und sich glücklicherweise feldmäuschenstill verhielt, denn ansonsten hätte Herbert vielleicht einen riesigen Trubel gemacht und alles wäre ins Wanken geraten. Nach keiner Minute kam Herbert mit einem prallgefüllten Geldkniestrumpf und zwei Sparbüchern der National Bank zurück und begab sich wieder zum Ort des Verbrechens.
„Das sind unsere gesamten Ersparnisse, glauben Sie mir, mehr kann ich Euch beiden wirklich nicht geben.“
Nachdem er das gesagt hatte war ein kritisches Rascheln von Scheinen, Klirren von Münzen und eiliges Durchblättern von Seiten zu hören. Der Ganove fühlte sich offenbar vor den Kopf gestoßen.
„Soll das ein Witz sein? Ihr habt ja noch nicht mal ‘nen Riesen (hier: 1000 $). Das lohnt sich für uns von hinten bis vorne nicht.“
Herbert rechtfertigte sich entschuldigend.
„Aber was sollen wir denn sonst machen? Wir haben uns ja gerade mal diese Hütte leisten. Wir sind zugegeben zwei arme Schlucker.“
„Das ist mir so scheißegal. Wir brauchen Kohle. Egal wie.“
„Komm Dick, lass uns verduften, die Knete reicht ja wohl für den Anfang vollkommen aus.“ Das war scheinbar der Komplize vom sogenannten Dick.
„Dir vielleicht, Max. Mir überhaupt nicht. Ich will auch übermorgen noch über die Runden kommen. Wir müssen die zwei alten Schachteln entführen und irgend jemand erpressen, sonst kommen wir nie an die große Kohle, du Dummkopf!“
„Mann, das wird doch niemals hinhauen, wie stellst du dir das denn vor?“
„Das lass mal meine Sache sein, und jetzt fessel die beiden, los!“
„Wenn du meinst.“, gab Max widerwillig nach.
Allmählich wurde es Joe zu viel. Er hatte lange genug zugehört und musste endlich eingreifen bevor sie irgendwohin verschleppt wurden.
Gemächlich , Schritt für Schritt, pirschte er sich an den Tatort heran, zuerst völlig geräuschlos, doch bevor er sich um die Ecke in den Türrahmen schwingen konnte, übersah er ein ziellos auf dem Boden umherliegendes Stück Blech und trat tollpatschig darauf. Das dadurch verursachte Scheppern schallte durch den ganzen Gang. Dick war der Erste, der es gehört hatte und fluchte:
„Verdammt, wer oder was war das? Scheiße, da muss noch jemand anderer im Haus sein. Max, kümmere du dich darum, ich fessel die Alten!“
„OK.“
Max kam hastig auf die Tür zu, neben der Joe zusammengeschreckt stand und inzwischen genau wusste, was er jetzt tun musste. Er verharrte so wie er stand, brachte seine rechte Faust in Angriffsposition neben seine rechte Schulter, und in dem Moment, als Max aus dem Rahmen trat, Joe überrascht entdeckte und sich zu ihm umdrehte, zog Joe ihm mit voller Wucht mit der blanken geballten Faust mitten ins Gesicht. Der Schlag traf genau auf die Nase. Blut rann sofort in breiten Strömen heraus. Max sank halb zusammen bevor er erst recht begriff, woher diese Faust überhaupt gekommen war. Das war Joe allerdings schnuppe. Er hob zuerst mit der einen Hand das Metallteil auf, über das er gestolpert war. Es wies sich als massive Eisenstange heraus, was praktisch für einen potentiellen Kampf war. Mit der anderen Hand packte er den nun kläglich winselnden Kleingangster brutal am Kragen und zog ihn mit sich ins Wohnzimmer, ohne Rücksicht auf Verluste. Joe hielt die Stange drohend über Max’ Kopf.
„Lass sie frei, oder ich geb deinem Kollegen hier den Rest. Es fehlt nur noch ein einziger gezielter Schlag mit dieser Eisenstange!“, brüllte er den völlig verdutzt und verdattert aus der Wäsche dreinschauenden Dick an, der gerade erst mit dem Fesseln von Herbert fertiggeworden war.
„Jobert!“, wieherte Herty.
„Jobert! Du, hier? Was treibt dich denn her?“, rief Herbert erstaunt.
Joe warf ihnen lediglich einen flüchtigen Blick zu der sagen sollte:
‘Ja, ich bin’s. Aber wir haben jetzt wirklich keine Zeit für große Erklärungen.’, und wendete sich wieder Dick zu, immer noch den benommen an ihm baumelnden Max im Schwitzkasten haltend. Dick fing an, nervös zu stammeln und zu stottern:
„Da-Das wü-würdest d-du d-doch ni-nie fe-fertig-bri-bringen, o-oder?“
„Da wäre ich mir nicht so sicher. Lass sie endlich frei!“, erwiderte Joe selbstsicher.
„Nein, niemals.“
Joe machte ernst. Der Kerl hatte seine Gelegenheit gehabt, aber die hatte er nun verspielt. Mit derselben Wucht wie vorher verpasste er Max einen entscheidenden K.O.-Schlag mit der Eisenstange auf den Hinterkopf. Es schoss in einer weiten Fontäne heraus und Max brach nun endgültig zusammen. Er kippte wie ein Dominostein bei einem Windzug vornüber auf den rissigen Parkettboden. Die Pranke würde ausreichen, um ihn auch eine ganze Weile außer Gefecht zu halten. Nun schien Dick durchzudrehen. Er griff brüllend in sein zerfranstes Jackett und brachte eine glänzende 7,62 mm-M16-Automatik zum Vorschein, die zweifelsohne imstande war, aus einer Entfernung von 300 Metern einer Mücke eine Augenbraue am linken Auge anzusengen, visierte Joe kurz an und drückte ab. Eine Hundertstel-Sekunde zuvor warf sich Joe mit einer gekonnten Seitwärtsrolle zu Boden und konnte um einen Haarspalt ausweichen. Eine Salve von Geschossen flitzte mit Schallgeschwindigkeit quer durch den Raum und brachte gegenüber die massiv wirkende Fensterscheibe zum Zersplittern. Der Luftzug, der dadurch verursacht wurde, schmorte Joe einen ganzen Wisch Haare an. Mit dem nächsten Sprung und nur sehr geringfügig zeitversetzt mit dem nächsten Schuss hechtete Jo neben den von ihm zweieinhalb Meter entfernten Kamin. Diesmal traf die Kugel auf den Putz knapp über Joe’s Kopf und er durfte eine Dusche aus wegspickenden Putzfetzen genießen. Im selben Moment drückte Dick ein drittes Mal ab, doch Streuselkuchen, es kam nichts. Dick verfluchte den guten Gott in die Hölle und war so in seine Wut vertieft, dass er nicht registrierte, wie sich Joe innerhalb dieser Zeitspanne aus dem Staub machte. Joe war sein Leben in diesem Moment wichtiger als seine Zwangsverwandten. Er wollte es nicht für sie riskieren, sondern nur noch weg von hier. Schnell eilte er zur Tür und warf, dort angekommen, nochmals einen Blick zu Dick zurück. Doch der Idiot war inzwischen mit dem Nachladen beschäftigt und halb verzweifelt, da das neue Magazin nicht in den Mordapparat wollte. Die Dexters hatten sich, noch weit verzweifelter, total verängstigt von der Schießerei, in eine Ecke gerollt, ohne die kleinste Bewegung auszuführen. Joe wog sich bereits in Sicherheit, wollte gerade die Baracke verlassen und sich vorerst mal auf und davon machen, als urplötzlich, wie aus dem Nichts, hinter ihm ein dritter Ganove auftauchte. Dieser sah noch viel bösartiger und kräftiger als Max und Dick zusammen aus. Er war ein stämmiger, 2.20 Meter großer Türsteher, der eine gewaltig unfreundliche Miene zeigte. Joe hatte kein Interesse mehr an einer weiteren Konfrontation, erst recht nicht mit diesem Mann. Er wollte nur noch fliehen, wandte gerade sein Gesicht von dem Gangster-Boss ab, als dieser ihm einen derart kräftigen Hieb auf den Hinterkopf schleuderte, dass Joe auf der Stelle zusammensackte und sofort ins Land der bewusstlosen Träume und der vorübergehenden Jagdgründe entschweifte. Von dem Augenblick an wusste er überhaupt nichts mehr und hatte einen absoluten Filmriss. Der Urheber des Schlags hieß übrigens Mac, war einer von Max’s und Dick’s Gefährten und er hatte die gesamte lange Zeit des Geschehens über an der Hintertür des hausähnlichen Gebäudes gelauert und nichts anderes getan, als darauf zu warten, dass seine Kampanions mit der erwarteten Beute zurückkamen. Als es ihm dann irgend zu lange dauerte und zu doof wurde, beschloss er kurzerhand, nachzuschauen, was da drin denn so auffällig viel Zeit in Anspruch nahm. Vielleicht hätte er diese Wind- und Wetteraktion besser unterbinden sollen, denn sie kam für unseren Hauptdarsteller im Endeffekt nicht sehr positiv rüber. Er lag nämlich nun bewegungslos da, während Mac und Max nacheinander zuerst Herbert, dann Herty, knebelten, in den Lieferwagen verfrachteten und anschließend ihren schwer lädierten Kumpanen dorthin mit sich zogen, der genauso wenig vom Allgemeinen Vorgang mitbekam wie ihrer aller gemeinsamer Wahl-Feind Joe. Schließlich brausten sie alle miteinander im Van über alle Berge (Rocky Mountains) auf und davon. Sie waren doch glatt so bescheuert und ließen Joe einfach liegen. Nun hatten sie erstens einen tatkräftigen Zeugen, der vor der Polizei mit genügend Beweisen (zerbrochene Scheibe, angeschossene Kaminwand und seine Riesenbeule am Hinterkopf) aussagen konnte, und zweitens mussten sie mit Joe auf einen gehörigen Batzen zusätzliches Lösegeld verzichten, denn für drei Leute kann man ja bekanntlich mehr verlangen wie für zwei. Doch das alles interessierte Joe im Augenblick sehr wenig, denn leider hatten sie ihn nicht irgendwo liegen gelassen, sondern vor ihrer überstürzten Abfahrt irgendwohin verschleppt. Wohin, das musste er zuerst mal herausfinden. Er kam mitten in der Nacht endlich wieder zu sich, ihm brummte der Kopf wie nach einer durchzechten Nacht mit 4 Promille Blutalkohol und er sah außer ein paar restlichen Sternchen vor seinem geistigen Auge nicht das Geringste von seine Umgebung. Er war anfänglich lediglich von nahezu undurchdringlich erscheinender Dunkelheit umgeben. Er rappelte sich mit maximaler Anstrengung auf und suchte nach einem Lichtschalter, aber da war nichts derartiges zu finden. Allmählich gewöhnten sich seine Augen an die Finsternis und nahmen zumindest die Umrisse des Raumes wahr. Es handelte sich dabei wohl um einen komplett überfüllten Abstellraum. Joe tastete weiter und entdeckte mit den Händen einen Türgriff. Die dazugehörige Tür war zum Glück nicht verschlossen. Joe drehte den Knauf, riss die Tür auf und schaute sich wieder um. Jetzt realisierte er, wo er war: Im Keller der Dexters, den er gleich wiedererkannte, obwohl er erst einmal hier gewesen war. Er war halbwegs froh, denn die Fieslinge hätten ihn auch genauso in der entlegendsten Pampa irgendwo auf dem höchsten Berg der Rockys absetzen können. Schnell tapste er die lange und steile Kellertreppe aufwärts und wollte auch die letzte Tür öffnen, die ihn vom Gang, wo er am Anfang stand, trennte. Sie war leider abgesperrt.
‘Scheiße’, dachte er und dies zu recht. Diese Tür war aus massivem Eisen und deshalb brauchte er gar nicht erst anzufangen, sie aufbrechen zu wollen. Er war eingeschlossen. Joe war aber kein Aufgeber-Typ, deshalb griff er fix in seine Hosentasche. Bingo, sein brandneues Wap-Handy von Nokia hatten sie ihm gelassen. Sie waren eben nicht so modern gerichtet wie er. Auch Joe hatte zwar lange gebraucht, um sich dem neuen Kult anzuschließen, doch letzten Endes hatte auch er sich bekehren lassen. Nun zog er es heraus und wählte flink die Nummer seines besten Kumpels und Arbeitskollegen Emilio, ein italienischer Einwanderer, auf den man echt bauen konnte. Nach nur einem Freizeichen meldete sich Emilio auf die typisch italienische Art: „Ciao Bello oder Bella, Emilio an der Strippe.“
„Ich bin’s, Joe.“
„Joeberto, alter Junge, was gibt’s?“
„Mili (wie Joe seinen Kumpel immer zu nennen pflegte, die Dexters, du weißt ja, Anitas Eltern, sind entführt worden und ich steck hier im Keller von ihnen ganz tief in der Scheiße!“
„In was für ‘ner Scheiße?“
„Sie Entführer haben mich eingesperrt.“
„Ja, und was hab ich damit zu tun, hä?“
„Kannst du mich vielleicht hier rausholen?“
„Vielleicht. Muss ich mir noch gut überlegen. Nee, nee, kleiner Scherz. Na klar doch, Mann! Wo wohnen die Leute?“
„In Cherivito, Rocky Street, letztes Haus, du erkennst es an der brüchigen Fassade.“
„So weit weg? Okay, weil du’s bist, Kumpel!“
„Danke, Mili, ich werd’s dir nie vergessen. Also, die Haustüre müsste offen stehen, ansonsten schau unter dem Fußabtreter nach einem Schlüssel, der muss auf jeden Fall dort sein, alles andere können wir nachher klären.“
„In Ordnung, bis dann, Ciao Bello.“
„Ciao.“
Joe drückte den Auflegknopf und steckte das Gerät wieder ein. Jetzt konnte er nur noch warten. Die Zeit, bis Emilio ankam, kam Joe wie eine halbe Ewigkeit vor. Er vertrieb sie sich, indem er Schafe, Ziegen, Moorhühner, Sumpfhühner und sonstiges Vieh zählte, auch wenn keines da war. Joe hatte eine sehr gut ausgeprägte Fantasie.
Nach erst circa einer Stunde fuhr Emilio die Strasse entlang. Man konnte seinen recht neuen Fiat Uno schon von Meilen gegen den Wind hören. Er hatte ihn getuned bis zum geht nicht mehr.
Schließlich fuhr Emilio in den Hof, parkte und schritt auf das Haus zu. Diese war eigenartigerweise offen. Das zeugte wieder einmal für die Dummheit der Möchtegern-Gangster. Zielsicher stolzierte Emilio den Hausgang entlang, an dessen Ende er die Kellertür rein intuitiv vermutete. Er lag richtig in dieser Vermutung.
„Joe! Bist du da unten?“, rief er.
„Klar Emilio, wer sonst, gleich hinter der Tür. Hast du ‘ne Idee, wie wir sie aufkriegen sollen?“, entgegnete Joebert.
„Na klar, Mann. Ich bin nicht umsonst Experte im Schlösserknacken. Ich hab’ zwar keinen Dietrich am Schlüsselbund, dafür aber ‘ne Sicherheitsnadel in der Hosentasche und ne Menge Fingerspitzengefühl obendrauf. Damit konnte bislang jede noch so hartnäckige Nuss geknackt werden.“
„Gute Idee. Wenn ich dich nicht hätte!“
„Jetzt wart’ erst mal ab. Ich kann für nichts garantieren.“
„Okay, ich hab’ Zeit und ich bau auf dich.“
Emilio legte los. Er packte seine Nadel aus, fummelte kurz am Schloss herum, es klickte und schon sprang das Schloss auf.
„Mili, du bist mein Held. So schnell hätte es auch nicht gehen müssen“, triumphierte Joe, öffnete die Tür und fiel seinem Freund um den Hals.
„Danke, Mili.“
„Keine Ursache, Alter. Jetzt werd’ bloß nicht sentimental.“
„Ach was, ich doch nicht!“
„Und wie soll’s jetzt weitergehen, ich meine, mit Anitas Eltern. Willst du sie einfach im Stich lassen?“
„Natürlich nicht. Wir müssen zumindest die Polizei verständigen.“
„Das kannst du eher vergessen. Oder hast du dir das Nummernschild von dem Entführungswagen eingeprägt?
„Nö, leider nicht. Ich weiß nur, dass es ein blauer Van war.“
„Dann kannst du’s fast vergessen. Weißt du, wie viele blaue Vans es in der USA gibt? Bis die da eine Rasterfahndung durchgeführt haben, sind die Entführer doch schon längst mit nem anderen Schlitten unterwegs. Wir sollten eher ne private Rettungsaktion starten, da kommen wir schneller voran, denke ich.“
„Gut, wenn du dabei bist. Aber zuerst muss ich unbedingt Anita benachrichtigen, auch wenn sie nicht gerade begeistert sein wird.“
„Aber sie sollte besser nichts von der Rettungsaktion mitbekommen. So was ist nichts für Frauen; es könnte gefährlich werden. Sag ihr einfach nur, ihre Eltern seien entführt worden und du hättest bereits die Polizei verständigt.“
„Da hast du vielleicht recht.“
„Dann gehst du also zuerst zu Anita, kommst dann zu mir und wir hecken gemeinsam einen Plan aus.“
„Ok, einverstanden.“
Sie bewegten sich zum Ausgang, jeder auf sein Auto zu. Emilio blieb noch mal stehen.
„Dann sehen wir uns morgen Abend bei mir, ok?“
„In Ordnung. Auf dann, dann.“
„Ciao.“
Sie stiegen in ihre Wägen und fuhren los, Joe zuerst. Die Hälfte der Strecke fuhren sie so voreinander her. Dann trennten sich ihre Wege, denn Joe wohnte in Azimuth und Emilio in Sanston, beides nahe New Mexiko. Das lag ungefähr 10 Meilen auseinander. Trotzdem funktionierte ihre Freundschaft formidabel, denn wahre Freundschaft kann selbst die größte Distanz überwinden.
Als Joe daheim ankam, war es schon stockdunkel. Anita würde höchstwahrscheinlich bereits schlafen. Sie und Joe wohnten zusammen in einem renovierten Hochhaus im zehnten Stock, inmitten des eher als unbekannte Kleinstadt zu bezeichnenden Azimuth. Ihre Wohnung bestand zwar aus nur fünf Zimmern, war aber dennoch relativ komfortabel. Sie hatten sie im modernsten Stil eingerichtet, mit Plasma-Flachbild-Fernseher, Lavalampen, Waschmaschine mit integriertem Internetanschluss, Induktionsherd und all dem Schnickschnack, den Leute von heute so brauchen. Joe hatte sein eigenes Computerzimmer für das er sich bald den hochtechnisiertesten PC kaufen wollte, wenn er genug zusammengespart hatte und diese schreckliche Geschichte überstanden war. Anita wiederum durfte sich ihr eigenes Bügel- und Partyzimmer einrichten, mit einem Laserbetriebenen Bügeleisen, das sich von selbst abschaltete, wenn man es vergaß und mit einer festinstallierten Mini-Blitzlichtanlage und so weiter. Nun könnte man ja fast denken, die beiden hätten doch genug in der Haushaltskasse, doch dem war nicht so. Sie waren nicht einmal durchschnittlich verdienende Staatsbürger. Er war, um nochmals an den Anfang unserer Erzählung zu erinnern, Fahrradkurier, was man gehaltsmäßig mit der in Deutschland bekannten 630-DM-Basis vergleichen könnte, und sie war gelernte Steuerberaterin. Zugegeben war ihr Einkommen dadurch ein wenig in der höheren Lage, was ihr ermöglichte, ihm auch mal etwas zuzustecken. Allerdings befähigte das die beiden bei weitem nicht, sich Luxuseinrichtung leisten zu können. Das Paar lebte größtenteils von Krediten, die sie auf mehrere Banken verteilten.
Nun stieg Joe in den Aufzug (er war ein fauler Mensch), betrat den Wohnstock bis zur Wohnungstür, schloss auf und trat ein. Anitas war noch wach und saß offenbar vor der Flimmerkiste. Sobald Joe den Flur betrat, hatte sie ihn schon gehört und posaunte lauthals:
„Schatz, mit dir hätt’ ich heut aber gar nicht mehr gerechnet. Haben meine Alten irgendwie Schwierigkeiten gemacht, oder waren sie nicht Zuhause ?“
„Weder, noch.“, sprach Joe ruhig und kam auf Anita zu. Nun sah er, dass sie splitternackt auf dem Sofa ausgestreckt lag. Er musste sich eingestehen, dass ihn das durchaus erregte. Doch jetzt war nicht die richtige Zeit, auf weibliche Reize zu reagieren. Er musste sofort mit den Fakten rausrücken.
„Ähm, ums kurzzumachen: Tut mir wirklich schrecklich leid, aber deine Eltern sind entführt worden.“
Anita schwieg und starrte Joe an, als wäre soeben ein UFO auf seinem Kopf gelandet.
„Wie bitte, ich hab’ mich wohl verhört!“
„Nein, du hörst ganz richtig. Ich war eben live dabei und kann wahrscheinlich von Glück reden, dass ich nicht auch entführt oder gar umgebracht worden bin.“
„Wie bitte? Das soll wohl ein schlechter Witz sein! Ich versteh’ gar nichts mehr. Kannst du mir die Geschichte mal von Anfang an erzählen?“
„Also gut:...“
Joebert erzählte alles, von seiner Ankunft bei den Dexters über die Schießerei, bis hin zum Eintreffen Emilios. Als er fertig war, schaute Anita völlig verdutzt drein. Sie hatte die ganze Zeit über den Atem angehalten. Jetzt sie die ganze Luft wieder heraus.
„Nicht zu fassen. Aber wer kommt denn auf die Idee, ausgerechnet meine armen, fast bankrott lebenden Eltern zu entführen?“
„Ich weiß echt nicht, wer die Typen waren. Auf jeden Fall waren sie ziemlich geisteskrank. Sie wollen sogar Lösegeld für deine Alten.“
„Ist nicht wahr. Und was sollen wir jetzt tun?“
„Ich habe bereits die Bullen angerufen. Sie werden den Van verfolgen, das Kennzeichen hab ich auch angegeben (er log natürlich). Mach dir keine Sorgen, sie werden die Schweine schon finden.“
„Na, das hoffe ich auch, und mehr als hoffen können wir jetzt dann auch nicht mehr.“
„Ja, wir können nur noch abwarten.“
Noch in derselben Nacht, noch bevor Joe zu Emilio fuhr, als sie nach diesem harten Tag endlich zu Bett gehen wollten, klingelte plötzlich ganz und gar unerwartet das Telefon. Anita wollte schon rangehen, als Joe sie beschwichtigte:
„Komm’, lass es doch klingeln. Wer so spät anruft, ist selber schuld.“
„Aber das kann verdammt wichtig sein, ein Notruf vielleicht.“
„Okay, du könntest recht haben. Nimm ab.“
Das tat Anita. Sie meldete sich mit einem griesgrämigen „Hallo“. Darauf kam ihr eine dumpfe, verzerrte, roboterartige Stimme entgegen, die bösartig fragte:
„Mit wem bin ich verbunden?“
„Wer will das wissen, wenn ich fragen darf? Und warum verstellen Sie ihre Stimme?“, antwortete sie.
„Wer ich bin, spielt jetzt keine Rolle. Und meine Stimme geht dich auch nichts an. Das einzige was hier zählt, ist, dass du Anita Dexter bist, dann bin ich hier richtig.“
„Ja, die bin ich. Gut, dann duzen wir uns eben. Also, was willst du?“
„Ich will nur Geld. Eine Million Mäuse, ums’ genau zu sagen.“
„Und warum denkst du, dass ich Dir soviel Geld geben würde?“
„Ganz einfach. Wenn ich die Kohle nicht krieg’, dann wirst du deine Eltern nie wieder zu Gesicht bekommen. Dann verrecken sie nämlich.“
„Du verdammtes Dreckschwein. Wenn du meinen Eltern auch nur ein Haar krümmst, dann wirst Du Probleme kriegen!
„Wie denn? Wenn ich deinen Eltern was antue, wie willst du’s erfahren? Und wenn du’s erfährst, musst du immer noch rausfinden, wo ich mich befinde! Und wenn du mich gefunden, was willst du mir dann antun, kleines Mädchen?“
„Das wirst du schon noch sehen, kleiner Junge, da mach Dir mal keine Gedanken. Aber du kriegst kein Geld von mir!“
Joe warf ihr einen eindeutigen verwerflichen Blick zu, an dem sie gleich sehen konnte, das er damit nicht einverstanden war. Darum änderte sie ihre Meinung.
„Na gut, wo und wann ist der Treffpunkt?“
„Übermorgen 20 Uhr. In Portymont, auf dem alten Fabrikgelände von Networx Corporation, Halle 12. Ich warte vorm’ Eingang, sagte er und legte auf.“
„Scheiße“, fluchte Anita. „Wo sollen wir denn jetzt so schnell eine Million Dollar herkriegen? Und wenn wir es haben, meinst du, wir können dann sicher gehen, dass diese Arschlöcher meine Eltern auch wirklich freilassen ?“
„Das überlass mal alles den Leuten von der Polizei. Die sind in solchen Entführungsgeschichten schon routiniert. Zumindest wissen wir jetzt, wo sie gefangengehalten werden.“
„Deswegen bin ich jetzt auch nicht beruhigter. Ich mach mir einfach solche Sorgen um die beiden.“
„Entspann doch einfach. Ich garantiere Dir, wir werden das zusammen durchstehen. Lass uns das Ganze doch erst mal überschlafen. Vielleicht hat sich morgen schon was ergeben.“
Das machten sie dann auch. Sie hatten beide eine sex- und traumlose Nacht.
Am nächsten Morgen, beim Frühstück redeten Joe und Anita nicht viel. Joe verzichteten auch auf ein anschließendes Mittagessen, da er nur so schnell wie möglich zu Emilio wollte. Er befand sich schon kurz nach dem Frühstück auf der Fahrt zu ihm. Es war nicht mehr weit nach Sanston. Joe steuerte in die kleine Seitengasse ein, die zu Emilios Apartment führte. Er wohnte dort zusammen mit zwei ebenfalls italienischen Kumpels. Joe fuhr auf den Gemeinschaftsparkplatz zu, wo er wieder einmal seinen Wagen abstellte. Er stieg aus, bewegte sich zur Tür und klingelte. Es meldete sich Rodriguez, kurz genannt Rod, einer der beiden Kumpels.
„Ja?“
„Hier ist Joe. Ist Emilio da?“
„Ah, Ciao. Si, er ist da.“
Es surrte aus der Außensprechanlage. Joe drückte die Tür auf und sie stiege die Treppen hinauf in den zweiten Stock, wo Emilio schon an der Wohnungstür wartete.
„Ciao Joe. Kommt rein und setz dich. Wir haben einiges zu besprechen.“
Sie begaben sich zum gemeinsamen Esstisch, wo Rodriguez und Mario, der andere Kumpel, gerade saßen und ein Schwätzchen hielten. Als sie den Besucher sahen, begrüßten sie ihn nur beiläufig. Joe und Emilio gesellten sich dazu.
„Also,“ kam Emilio gleich zur Sache, „hast du Dir schon ‘nen schlauen Plan überlegt?“
„Nee,“ sagte Joe, „mir wollte bisher nichts sinnvolles einfallen. Du, ich muss dir unbedingt von ‘nem wichtigen Zwischenfall erzählen.“
Er teilte ihm die Sache mit dem mitternächtlichen Anruf mit. Emilio nickte nur stumm. Dann sagte er seine Meinung dazu:
„Das kommt jetzt aber wirklich ziemlich unerwartet. Damit hätt’ ich so schnell nicht gerechnet. Der Anruf erleichtert die Sache allerdings ungemein. Sonst hätten wir die Spur der Verbrecher erst finden und verfolgen müssen, hätten uns Zeugen suchen müssen und so weiter. Was mich aber noch brennend interessieren würde, Joe, ist, wie der Typ überhaupt zu eurer Telefonnummer kam. Er wusste doch nicht mal deinen Nachnamen, oder?“
Man konnte Joe’s Augen eine deutliche Verwunderung ansehen.
„Stimmt“, äußerte er sich verblüfft, „an diese Frage habe ich bisher noch gar nicht gedacht, geschweige denn, an die dazu passende Antwort. Jetzt wo du’s sagst...“
Er dachte einen intensiven Augenblick lang nach und dann kam ihm die Lösung:
„Jetzt hab’ ich’s. Die Scheißkerle müssen mir, wie ich im Haus der Dexters k.o. war, die Geldbörse aus der hinteren Hosentasche gezogen, mir eine der über 10 Visitenkarten daraus genommen und die Geldbörse dann wieder zurückgesteckt haben. Anders kann ich mir das nicht vorstellen.“
„Logisch eigentlich.“, erwiderte Emilio, „Wie denn auch sonst. Ganz verblödet sind die Kerle wohl doch nicht. Allerdings müssen wir uns jetzt mal allmählich Gedanken darüber machen, wie wir die Geiseln nun befreien sollen. Hat jemand irgendwelche Vorschläge?“
Mario meldete sich spontan zu Wort.
„Ähm, Emilio, wie sollen wir denn Vorschläge abgeben, wenn wir noch nicht einmal wissen worums hier geht.
Emilio bleute es:
„Ach ja, stimmt. Das hatte ich ganz vergessen. Also, dann werd ich Euch schnell aufklären...“
Er erzählte Mario und Rod die ganze Geschichte von Anfang an.
„Also, Ich weiß nicht,“ sagte Mario zuerst zurückhaltend „es könnte vielleicht um Leben und Tod gehen. Aber für einen guten Freund tu’ ich doch alles.“
Rodriguez zögerte ebenfalls für einen Bruchteil, dann klärte sich sein Gesicht:
„Na gut, dann bleibt mir ja fast nichts anderes übrig. Ich kann meine Freunde wohl kaum im Stich lassen.“
„Gute Entscheidung, Leute. Ich werds Euch ewig verdanken. Jetzt habt ihr echt was bei mir gut. Wenn das hier alles überstanden ist, dann werd’ ich zuerst ein fettes Sechs-Gänge-Menü und danach einige Runden Bier ausgeben, so viel ihr wollt.“, freute sich Emilio.
„Da lohnt es sich ja richtig, mitzumachen.“, bemerkte Rodriguez, doch Emilio ging nicht mehr darauf ein. Er wollte endlich zur Sache kommen. In selben Moment, als er gerade zum Reden ansetzen wollte, klingelte es. Emilio stöhnte.
„Muss das gerade jetzt sein! Rod, gehst du kurz runter und machst der unerwarteten Person auf?“
„Wieso denn immer ich?“, entgegnete Rod faul.
„Mach einfach!“, hetzte Emilio ihn.
Rodriguez setzte sich in Bewegung.
„Wer ist da.“, fragte er argwöhnisch.
Eine hohe Stimme tönte aus der Ohrmuschel. Rod fragte in die Runde:
„Leute, es ist Anita. Darf sie was von der Sache erfahren?“
„Eigentlich nicht.“, sagte Joe. „Aber wir können sie jetzt auch nicht mehr wegschicken. Wir müssen sie wohl oder übel einweihen. Mach ihr auf.“
Sekunden später tänzelte Anita leicht bedrückt in den Raum. Sie begrüßten sich.
„Was treibt Dich denn jetzt plötzlich her?“, wunderte sich Joebert.
„Ich hielt es daheim vor lauter Sorgen nicht mehr aus. Habt ihr zumindest einen netten Männernachmittag?“
Alle schwiegen, unsicher was auf diese Frage sagen sollten.
„Ja, ja, wir haben es schon ganz lustig hier,“ gab Joe halbstark von sich. Mili, Rod und Mario warfen ihm auffordernde Blicke zu. Joe verharrte und überlegte kurz. Schließlich sprach er:
„Anita, ich muss Dir was gestehen.“
„Was?“
„Ich hab Dich vorher angelogen. Ich hab die Polizei gar nicht verständigt.“
Anita war ganz baff.
„Wie bitte, das soll jetzt wohl nicht dein Ernst sein. Aber wieso denn?“
„Wir wollen die Sache auf eigene Faust durchziehen.“
„Wer ihr?“
„Ich und sie.“ Er beschrieb mit dem Kopf einen Halbkreis vorbei an Emilio und Co.
„Ihr vier? Seid ihr denn von allen guten Geistern verlassen? Das könnt ihr doch niemals allein schaffen!“
„Doch. Wir haben gute Karten. Wir alle haben eine Kampfsportart gelernt und wir sind zu viert. Die Kleingangster waren zu dritt, hatten keine Kampftechnik drauf und waren noch dazu dumm wie Brot. Ich hab einen von ihnen lahmgelegt und ich glaube kaum, dass sie noch irgendwie Komplizen haben oder auf die Schnelle irgendwo welche herkriegen.“
Und wieso hast du mir gestern verdammt noch mal nichts davon erzählt?“
„Ich wollte es Dir schon noch mitteilen. Aber gestern hast du so schockiert gewirkt, dass ich Dich fürs Erste verschonen wollte.“
„Na gut, aber wieso wollt ihr nicht zusätzlich die Bullen einschalten? Die könnten doch vielleicht noch ganz hilfreich sein.“
„Ganz einfach, weil es viel zu lange dauern würde, bis die was ausrichten könnten. Wir haben noch nicht mal das Kennzeichen des Vans.“
„Aha, und gestern hast du mir versichert, du hättest das Kennzeichen angegeben.“
„Tut mir echt schrecklich leid. Bitte vergib mir.“
„Das muss ich mir noch gut überlegen.“, antwortete sie beleidigt und fügte dann hinzu:
„Aber wenn ihr das Ding schon alleine dreht, dann zumindest nicht ohne mich; das ist meine Bedingung.“
Joe wehrte sich.
„Anita, das geht nicht.“
„Aber wieso? Es geht hier um meine Eltern. Da hab’ ich wohl noch was mitzubestimmen!“
„Anita, wir wollen eine Befreiungsaktion starten. Das ist nichts für zarte Frauen wie dich.“
„Jetzt hör’ mal zu. Ich glaube, du unterschätzt mich gewaltig. Ich bin keine Zimperlise wie du denkst. Ich hab auch Judo gelernt, und zwar bis zum schwarzen Gürtel. Und ausserdem will ich nicht tatenlos mit ansehen, wie meinen Eltern etwas angetan wird.“
„Aber es könnte trotzdem einfach zu hart für dich werden. Die Ganoven haben immerhin schwere Schusswaffen bei sich.“
Das reichte Anita nicht aus.
„Ach ja, und meinst du, ausgerechnet ihr werdet mit diesen Kerlen fertig, nur weil ihr Männer seid?“
Joe fiel kein sinnvolles Argument mehr ein.
„Anita, ich will einfach nicht, dass Dir was passiert und ich dann für dich verantwortlich gemacht werde.“
„Das ist mir doch egal. Ich will meinen Eltern helfen, jetzt wo sie in Not sind. Sag was du willst: Ich komme mit, klar!?“
Die anderen Männer schauten Joe mit überredenden Blicken an, bis Joebert letzten Endes nicht mehr anders konnte.
„Also gut, du lässt ja eh’ nicht locker.“
„Na also, geht doch.“
Emilio lenkte die Aufmerksamkeit der beiden wieder auf das Wesentliche.
„Also, Leute, da sich das turtelnde Paar nun einig ist, würde ich sagen, lasst uns mal ans Eingemachte gehen. Also, wir haben den Treffpunkt des Deals und wir sind zu viert. Die Ganoven sind voraussichtlich nur zu zweit, was ein Bonus für uns wäre, aber wir können zumindest nicht darauf zählen, dass es auch so bleibt. Fest steht wohl, dass wir am Treffpunkt sein müssen, bevor die Gauner uns erwarten und ohne, dass sie darauf gefasst sind, sich zur Wehr zu setzen. Joe, wo, hat der Typ am Telefon noch mal genau gesagt, wird der Treffpunkt sein?“
„In Portymont, auf dem alten Fabrikgelände von Networx.“
„Netzworx Corporation?“, fragte Mario posaunend?“
„Ja, genau das meinte er.“, bestätigte Joe, „Sagt dir der Name was?“
„Ja klar doch. In der Firma hab ich früher mal gearbeitet, als sie noch in Betrieb war!“
„Wirklich?“
„Ja. Ganze fünf Jahre lang. War ‘ne recht lässige Arbeit. Ich war als Netzwerk-Administrator angestellt. Mal saß ich vorm’ Computer, dann verkabelte ich die Rechner vom Firmennetz miteinander. Ich hätte den Job eigentlich heute noch gemacht, wenn die Firma nicht in die Pleite geraten wäre. Sie mussten komplett dichtmachen und alle Arbeiter, eingeschlossen mir, kündigen. Da musste ich mir natürlich was anderes suchen. Wisst ihr was? Ich hab’ sogar noch alte Pläne vom Firmengelände.“
„Aber hallo,“ staunte Joe verblüfft, „das kommt doch wie gerufen. Anhand davon können wir gleich die Lage peilen. Die musst du sofort herbringen!“
„Das heißt, wenn ich sie noch finde. Ich hab’ sie seit der unfreiwilligen Kündigung nicht mehr gebraucht. Wartet mal.“
Mario stand auf und ging in sein Zimmer, das gleichzeitig auch sein kleines privates Büro war, welches er in seinem Job als Vertreter von Schweizer Taschenmessern öfters benutzte. Man hörte ihn im Gestöber wühlen und alle zwei Minuten wieder ‘Ich hab’s gleich!’ rufen hören. Nach über zehn Minuten und fünf ‘Ich hab’s gleich’-Rufen kam er wieder mit einem Wisch von der Sonne leicht verblichener Blätter in der Hand und Schweiß auf der Stirn zurück zu seinen Freunden und stöhnte:
„Puuh! Ich dachte fast, ich würde das Zeug nicht wieder finden. Also, jetzt schaut’ euch den Plan mal an. Der ist ziemlich aufschlussreich. Das hier ist nun die besagte Halle 12, unser Treffpunkt, wo höchstwahrscheinlich auch Anitas Eltern gefangengehalten werden. Wie ihr seht, ist diese Halle gerade ungefähr im Zentrum der Anlage, was wahrscheinlich beabsichtigt ist. Es wird daher nicht leicht sein, dort ranzukommen, weil eventuell außerhalb des Komplexes schon Wachen postiert sein könnten. Die müssten wir dann entweder überwältigen, ausschalten oder besser, umgehen. Was die Aktion zusätzlich erschwert, ist die Tatsache, dass sich um das ganze Gelände herum ein hoher und extrem spitziger Maschendrahtzaun zieht, den zu überwinden es schier unmöglich ist. Es gibt nur ein einziges Tor, das früher mal die Einfahrt darstellte. Wenn sie dass nicht schon aufgebrochen haben, sollten wir das jedoch ebenso mit Leichtigkeit schaffen. Wenn wir Glück haben, dann sind inzwischen schon ein paar Einrisslöcher entstanden, die man nur noch ein bisschen aufreißen müsste. Zur Sicherheit sollten wir vielleicht ‘nen Bolzenscheider mitnehmen.“
-„Wie groß ist das Gelände denn überhaupt?“, wollte Joe wissen.
„Nicht gerade so klein.“, gab Mario zur Antwort, „Ich schätze mal, dass es eine Fläche von ungefähr zwei Quadratkilometer umfasst. Das könnte also ein langer Marsch werden. Ich würde sagen, wir sollten uns aufteilen, so dass jeder von einer anderen Seite kommt, was haltet ihr davon?“
Alle waren einverstanden, nur Joe legte Veto ein:
„Ich halte das für keine so gute Idee. Für uns Männer mag das ja in Ordnung sein, allein zu gehen, da wir alle groß, kräftig und stark sind, aber eine so kleine und zierliche Frau wie Anita, könnte mit den Fieslingen allein leicht Probleme bekommen.“
„Joe hat Recht.“, stimmte ihm Rod zu, „Es könnte für sie schon gefährlich werden, wenn sie auf sich allein gestellt ist.“
Anita wurde sauer.
„Sagt mal, was habt ihr denn alle, ich hab doch schon mal erklärt, dass ich mich selber wehren kann, dank Judo. Ich brauch Euch da nicht.“
„Na gut,“ sagte Joe, „aber auf Deine Verantwortung.“
„O.k.“, meinte Rod, „Dann müssen wir ihr eben zur Hilfe eilen, falls mal was passieren sollte.“
Die Anderen waren einverstanden.
„Also,“ ,fuhr Mario fort, „wir gehen folgendermaßen vor: Wir dringen zuerst einmal alle zusammen über das große Tor in das Gelände ein, oder, wenn möglich, über ein Loch im Zaun. Wenn wir dann drin sind, teilen wir uns auf, das heißt jeder für sich von einer anderen Seite. Nun schaut euch nochmal den Plan an. Der Vorteil am dem Gebiet ist, dass es gerade zufällig ein Fünfeck ist, und dass man sich daher schlecht verirren kann und nicht in Versuchung gerät, im Kreis zu laufen, weil es ja keiner ist. Am besten machen wir es so, dass jeder von euch aus einer anderen Ecke kommt. Wer genau aus welcher, spielt keine allzu große Rolle, weil sowieso auf jeder Seite alles symmetrisch aufgebaut ist...“
„Das können wir dann ja unter uns ausmachen, wenn es jemandem lieber ist, aus einer bestimmten Ecke zu kommen.“, unterbrach Rodriguez.
„Ja, einverstanden.“, gab Mario recht. „Ihr kommt also jeder aus seiner Ecke, schleicht euch zum Zentrum, also einfach schräg den Weg entlang, dann kommt ihr automatisch zur Halle 12, außerdem sind die Hallen aufsteigend der Reihe nach durchnumeriert. So schließen wir unsere Feinde systematisch ein, vorausgesetzt sie halten sich alle in Halle 12 auf. Sobald einer der Geiselnehmer auftaucht, schreit der- oder diejenige einfach so laut wie möglich und wir stürzen uns alle synchron auf ihn. Darauf schleichen wir uns der Reihe nach in Halle 12 und schauen, dass wir die Geiseln irgendwie da raus kriegen. Das wars eigentlich dann eigentlich soweit mit meinem Plan.“
Emilio, der öffentliche Reden von seinem Beruf als Wochend-Seminarleiter her gewohnt war, übernahm wieder das Wort.
„Danke Mario, für diesen Lageplan. Habt ihr dem noch was hinzuzufügen?
Niemandem schien mehr etwas einzufallen.
„Gut, in dem Fall verbleiben wir so. Alles andere können wir dann später klären. Hat noch jemand irgendwelche Fragen?“
Keiner hatte etwas auszusetzen, und Joebert bemerkte lachend:
„Ein schlichtweg simpler, aber genialer Plan. Hätte gerade von mir sein können.“
„Also wie soll’s jetzt weitergehen?“, fragte Mario, „Ich persönlich würde mal sagen, dass wir uns morgen früh gleich um fünf Uhr genau in der Mitte zwischen Sanston und Azimuth treffen, also an der Kreuzung Lain- und Opple-Road. Joe und Anita, ihr stellt dann am besten euren Wagen dort ab und fahrt in unserem Jeep mit, denn mit einem Auto können wir notfalls schneller fliehen als mit zweien.“
„Das ist ja alles in Ordnung, aber ist fünf nicht ein bisschen früh? Wir müssen uns schließlich noch von dem ganzen Stress des vergangenen Tages erholen!“, beschwerte sich Rod, der wie immer die faule Rolle einnahm.
„Von welchem Stress willst du Dich denn erholen?“ bemerkte Emilio stichelnd, „Vor allem musst du musst bedenken, dass wir nicht wissen können, wann die Ganoven schon da sind, oder wann sie aufstehen, falls sie in der Halle schlafen. Zudem brauchen wir mindestens eine ganze Stunde bis Portymont und wenn dir diese Aktion wichtig ist, dann gib Dir bitte ein einziges Mal in deinem lahmen Leben als Langschläfer und Arbeitsloser einen Ruck und steh um fünf Uhr auf. Ansonsten kannst du gleich daheim bleiben.“
„Na gut, wenns denn sein muss.“, murrte Rod träge wie immer. „Dann lassen wir es bei der Zeit.“
„Gut,“, schloss Emilio, „wenn alle einverstanden sind, und keiner etwas gegen dieses Vorhaben einzuwenden hat, dann beenden wir mit diesen Worten unsere Sitzung. Es wird hoffentlich bei der Einen bleiben.“
„Sonst müsstest du dich ja ein zweites Mal so geschwollen ausdrücken.“, spöttelte Rodriguez.
„Sowas gehört einfach zu einer fachlichen Lagebesprechung dazu, du Arsch!“, konterte Emilio und lenkte gleich ab:
„Wollt ihr noch auf ein Bier zum Mut antrinken bleiben, Anita und Joe?“
„Nee du, danke,“, widerstrebte sich Joe, „Wir sind lange genug hier herumgehockt und es wird schon spät. Außerdem müssen wir uns für morgen sammeln, oder, Anita?“
Anita nickte einverständlich.
„Tja, dann müssen wir drei eben einen ohne euch heben. Dann macht’s mal gut bis morgen früh. Und seid bloß pünktlich.“, äußerte Emilio streng.
„Klar doch, machen wir.“, entgegnete Joe und verabschiedete sich mit einem Handzeichen. Anita tat ihm nach und sie traten beschwungen nach draußen, fest in der Hoffnung, dass sich am nächsten Tag alles ändern würde.
In der darauf folgenden kurzen Nacht konnten Anita und Joe beim besten Willen nicht einschlafen. Sie hatten zwar davor noch ausgiebig zu Abend gegessen (nichts, was in der Nacht auf den Magen schlägt), jedoch hatten sie viel zu große Erwartung von und Angst vor dem kommenden Tag. Die ganze Nacht über, bis in die frühen Morgenstunden hinein redeten sie größtenteils nur über ihr Vorhaben am folgenden Tag, was sich dann so anhörte:
„Was meinst du,“ fragte Anita, „haben wir überhaupt eine Chance gegen die Fieslinge?“
„Ich weiß auch nicht so recht. Ich denke, auf Emilio und seine Kumpels kann man schon bauen.“, erwiderte Joe.
„Ich hoffe es. Lassen wir uns einfach überraschen.“
Erst als die ersten Sonnenstrahlen den Horizont küssten, brachten sie zumindest ein Auge zu.
Am nächsten Morgen dann spekulierten sie noch ein allerletztes Mal über die Lage:
„Denkst du immer noch, wir können es schaffen?“, fragte Anita mit zweifelhaftem Unterton.
„Ich weiß echt nicht, kann sein, kann aber auch nicht sein. Auf jeden Fall muten wir uns hier einiges zu.“
„Da hast du Recht. Ich hab’ echt solche Angst um meine Eltern. Vielleicht überleben sie diese Sache nicht einmal.“
„Komm’, mach’ dir da mal keine Sorgen. Überleben werden sie’s auf jeden Fall. So hart sind die Erpresser nicht.“
„Und wenn doch?“
„Dann gnade uns Gott.“
Mit diesen Worten ließen Joe und Anita vorerst die Ungewissheit hinter sich und brachen auf, um endlich Klarheit zu schaffen und die Lage zu ändern.
Als die beiden circa eine halbe Stunde später die Kreuzung Lain- und Opple Road, dem gemeinsamen Treffpunkt, erreichten, warteten ihre drei Freunde bereits auf sie.
„Morgen, allerseits!“, grüßte Emilio freudig. Er war absolut kein Morgenmuffel, Joe und Anita allerdings schon, darum hoben sie nur beiläufig die Hand zum Gruße. Emilio nahm es ihnen nicht übel.
„Los, steigt ein!“, rief er ihnen zu.
Joe und Anita stellten eilig ihren Wagen ab und taten das. Als sie das Wageninnere betraten, merkten sie erst, dass Mario und Rodriguez schon wieder pennten. Sie mussten eine harte Nacht hinter sich gehabt haben. So fuhren sie dann los, auf den Tatort zu, mucksmäuschenstill, um die beiden Schlaftabletten nicht zu wecken. Nach circa einer Stunde einschläfernder Fahrt kamen sie in Portymont an. Keine Menschenseele befand sich auf der Strasse. Die Ortschaft war wie ausgestorben. Nun steuerte Emilio zielgerichtet auf das alte Fabrikgelände zu und parkte zur Sicherheit hinter einer hohen und breiten Böschung, um nicht von möglichen wartenden Halunken entdeckt zu werden. Mario und Rodriguez wurden schon vor der Ankunft einheitlich geweckt, da alle einstimmig der Meinung waren, dass das besser wäre, damit sie wieder rechtzeitig bei klarem Verstand sein würden, um in den Kampf zu ziehen. Sie waren inzwischen wieder recht fit, abgesehen von ihren geschwollenen Augen. Nun stiegen sie einer nach dem anderen auf das verlassene Territorium aus. Es war ihnen allen noch völlig unklar, wie dieses Szenario enden würde.
Vorsichtig schauten sie sich um und peilten erst mal die Lage: Es war noch so gut wie stockdunkel. Weit und breit regte sich nichts, außer ein paar zu früh zirpenden Grillen, die vielleicht von ihnen erweckt wurden.
Sie hätten es eigentlich nicht mehr nötig gehabt, eine Einsatzbesprechung abzuhalten, denn schließlich hatten sie alles am Tag zuvor besprochen. Allerdings hatte Emilio noch etwas Wichtiges zu verkündigen.
„Leute, passt mal für einen Augenblick auf. Ich hab Euch noch was wichtiges zu übergeben, für den Fall, dass wir uns völlig verlieren; und zwar hab ich für jeden von Euch hier ein kleines Walkie-Talkie, klein aber oho. Die Dinger sind so konstruiert, dass wir auf einer Frequenz funken können, die Anderen unzugänglich ist. Sie sind absolut abhörsicher dank der besten Abschirmung. Die Frequenz ist schon fest eingestellt, ihr müsst das Teil also nur noch hier einschalten,“ (er zeigte auf einen kleine Schalter) und es dann wie jedes andere Funkgerät mit diesem Sendeknopf hier benutzen. Wenn es möglich ist, dann flüstert, wenn ihr in Not seid, nur kurz ‘Hilfe’ und dazu noch, wo ihr euch befindet. Wenns Schlag auf Schlag geht, dann haben die Geräte noch zusätzlich einen Morseknopf. Drückt einfach nur zweimal kurz. Dann weiß jeder gleich bescheid, und wir müssen denjenigen nur noch finden. Alles klar?“
Alles nickte zustimmend. Emilio teilte die Walkie-Talkies aus. Sie zogen los. Zu allererst suchten sie den Zaun nach potentiellen Schlupflöchern ab. Das dauerte eine ganze Weile, der Größe des Gebietes wegen. Wie der Zufall es wollte, ließ sich auf der anderen Seite, vom Startpunkt aus gesehen, ein zwar schmaler, sichelförmiger, aber mindestens ein Meter langer Spalt auffinden.
„Toll, und wie sollen wir da jetzt durchkommen?“, bemerkte Anita argwöhnisch. „Sollen wir uns vierteilen?“ -„Nee, nee. Nicht nötig. Für den Fall solcher Fälle hab’ ich natürlich ein universelle Lösung dabei: meinen ausklappbaren Bolzenschneider.“, verdeutlichte Emilio und packte sein Wunderwerkzeug aus. Er betätigte einen runden roten Knopf und ein massive Zwinge fuhr aus dem Halter aus. Unmittelbar darauf setze er mit dieser direkt am Loch im Maschendrahtzaun an und zwickte eine Masche nach der anderen durch. Das wiederholte er so oft, bis das Loch weit und hoch genug war, um den fettesten Sumo-Ringer gemütlich durchspazieren zu lassen; aus Sicherheitsgründen natürlich. Die Anderen standen nur gelangweilt daneben und fragten sich, wie lang er dafür noch brauchen würde. Schließlich stiegen sie alle hintereinander durch, Anita besonders zaghaft. Darauf gingen sie vor wie geplant: Jeder nahm seine Ecke ein und so schlichen sie Stück für Stück auf das Zentrum zu. Jeder hatte Angst um den Anderen, da sie sich gegenseitig nicht sahen. Nach einer Weile des schweigenden Dahinpirschens trafen sich Anita, Joe und Emilio.
„Wo sind Rod und Mario?“, flüsterte Emilio.
„Keine Ahnung, Mann“, flüsterte Joebert zurück.
Erst eine Minute später trafen auch die Beiden miteinander ein.
„Das war ja einfach!“, stolzierte Mario.
„Das sagst ausgerechnet du!“, entgegnete Emilio spitz. „Ihr habt ja am Längsten gebraucht.“
„Leute, ist doch jetzt egal. Wir müssen uns beeilen.“, brachte Anita sie zur Vernunft. Alle stimmten ihr zu. So widmeten sie sich dem zweiten Teil der Mission. Vor Halle zwölf standen sie schon mal. Nun drückte Joe vorsichtig den Griff der Hallen-Eingangstür hinunter. Komischerweise war sie nicht verschlossen. Noch vorsichtiger spähte Joe in die Halle hinein. Er bat die Anderen, fürs Erste draußen zu warten, bis er sich Klarheit verschafft hatte, ob die Luft rein war. Er betrat zaghaft das Innere und schaute sich um: Er konnte in der leeren Halle sofort einen am Boden schlafenden Mann erkennen, war sich aber nicht sicher, ob es sich dabei um Herbert handelte. Er kam ein paar Schritte näher und Joe begriff: Das war ein Wächter. Da dieser aussah, als könnte ihn nichts aus der Ruhe bringen, entschloss sich Joe, weiterzuschreiten. Ganz hinten befand sich ein kleiner Nebenraum. Dort vermutete er Anitas Eltern. Er schlich sich am Wächter vorbei, um dort hineinzuspähen, wollte die Tür öffnen, Fehlanzeige. Der Schlüssel konnte nur im Besitz des Wächters sein, soviel stand fest. Joe betrachtete den Schurken näher. Aus seiner Hand schaute tatsächlich ein kleiner, matter Schlüssel. Joe überlegte. Er konnte nicht sicher wissen, wie tief der Schlaf des Wächters war. Da half nur Ausprobieren. Ohne einen Vor-Testlauf streckte Joe seine Hand nach dem Schlüssel aus und zog sachte daran. Keine Reaktion. Er zog stärker. Wieder nichts. Ein kräftiger Ruck, um den Schlüssel des Fingergriffes des Mannes zu entziehen. Der Schlüssel klirrte bestialisch. Joe hatte ihn fest im Griff. Doch der Wächter war in seiner Nachtruhe gestört. Er drehte sich auf die andere Seite und murmelte apathisch „Mein Schlüssel, wo is mein Schlüssel.“ Joe wartete Weiteres ab. Nichts kam mehr. Der Aufpasser war wieder in murmeltierartigen Schlummer versunken, was seinem rostigen Schnarchen zu entnehmen war. Joe fackelte keinen weiteren Augenblick; er begab sich postwendend in Richtung Nebenraum. Um sicherzugehen, riskierte er ein halblautes, fragendes „Wer ist da drin?“
Als Antwort kam etwas, dass sich anhörte wie „Hmm, hmm, mm!“ Den Inhalt außer Acht gelassen konnte Joe eindeutig die geknebelte Stimme Herberts aus diesen Urlauten herausfiltern.
„Warte Herbert, ich hol dich da raus!“, gab Joe bekannt.
Er brachte unverzüglich den eben ergatterten Schlüssel zum Einsatz. Er paßte tatsächlich, die Tür machte mit einem fast zu lauten Stöhnen bekannt, dass sie nun offen stand. Joe schaute sich um. Herbert lag an allen Gelenken gefesselt sowie geknebelt am Boden, er atmete laut. Joe bückte sich zu Herbert hinunter, zückte sein Original Schweizer Taschenmesser mit Flaschenöffner, Zahnstocher und Pinzette und machte sich an die Entfesselung. Herbert hielt die ganze Zeit über still, doch als Joe begann, das doppelseitige Klebeband abzuziehen, das sich an seinem Schnauzer verhangen hatte, schrie er lauthals auf.
„Bist du wahnsinnig;“ warnte ihn Joe, „oder willst du, dass sie uns schnappen?“
-„Natürlich nicht. Joe, bist du das?“, erwiderte Herbert ängstlich.
„Ja, ich bin’s.“
„Wie hast du mich gefunden?“
„Das ist eine zu lange Geschichte. Wo ist Herty?“, fragte Joe, immer noch gebückt neben Herbert, der vor schmerzenden Gelenken noch nicht aufzustehen vermochte.
„Ich weiß es nicht. Sie haben sie glaube ich in eine andere Halle verschleppt.“
„Wie viel von den Verbrechern sind noch auf dem Gelände?“, fragte Joe weiter.
„Ich glaube drei, so weit ich mich entsinnen kann.“
„Scheiße!“
„Übrigens: Danke fürs Entfesseln.“
„Keine Ursache, jetzt müssen wir aber Herty finden.“
„Ja, unbedingt.“
Sie huschten so leise wie irgend möglich am Wächter vorbei. Jetzt erkannte Joe, dass es Mac war. Als sie gerade an ihm vorbei kamen, wachte dieser urplötzlich auf. Kaum darauf war er wieder voll bei Bewusstsein und schrie:
„Du schon wieder! Ich hab dich Weichei doch erst vor kurzem zusammengeschlagen, und jetzt willst du dir auch schon wieder meine Geisel holen, und das ohne Lösegeld! Pass bloß auf, Bursche!“
Mit diesen Worten zog er ein Butterfly-Messer heraus und ließ die Klinge spicken. Das war Joe zu riskant. Er konnte da mit seinem Schweizer-Messer nicht mithalten. Sofort rief er seine Freunde per Morsezeichen, die immer noch abrufbereit am Eingang standen.
Blitzartig schnellte das Tor. Joes Kumpanen und Freundin sahen alle gleich was los war und stürmten herein, direkt auf Mac zu. Dessen Angriffslust war plötzlich verflogen. Er war völlig baff und fuchtelte ängstlich mit seinem Messer herum. Doch das brachte ihm in dieser Lage so wenig wie eine Dusche unter Wasser. Emilio schlug ihm mit einem ultimativen
Karate-Punch mit der geballten Faust das Messer aus der Hand, das flugs scheppernd zu Boden fiel. Mit dem nächsten Schlag direkt ins Gesicht brach Emilio Mac ein paar Zähne aus dem Kiefer. Er hielt sich den Mund, verzog vor Schmerz das Gesicht und geriet etwas ins Schwanken. Trotzdem, oder sogar angetrieben vom Schmerz setzte sich Mac, vollgepumpt mit Adrenalin, heftig zur Wehr und schlug unkontrolliert um sich, wobei ihm Speichel und Blut aus den Mundwinkeln troffen. Nun war Rodriguez mit seiner Kung-Fu-Akrobatik an der Reihe. Er nahm zehn Meter Anlauf, und kurz vor Mac angelangt setzte er über zum Sprung, aus dem heraus er einen zerstörerischen Halbkreis-Kick in der Luft ausführte. Dabei traf er Mac nacheinander erst in den Bauch, dann auf die Brust und letzten Endes aufs Kinn. Man hörte seinen Kiefer knacken und durch die Wucht des Schädelaufprall verlor er fürs Erste das Gleichgewicht und somit den Bodenkontakt. Mit einer Wucht von Einer Rohrbombe prallte der Riese (2.20) gen Boden. Als er dort angekommen war, wurde er sofort von Emilio in den Würgegriff genommen, so dass ein Wieder-Aufstehen unmöglich war. Rod wollte sich gleich Klarheit verschaffen. Er schrie Mac an:
„So, du Drecksack, und jetzt sag uns mal, wo die Frau untergebracht ist!“
„Vergiss es!“, stöhnte Mac unnachgiebig.
„Muss ich erst gewalttätig werden?“, brüllte Rod noch lauter, den Würgegriff enger schnallend.
Das Stöhnen verwandelte sich in ein ärmliches Krächzen:
„Mach ruhig, ich sag’s Dir trotzdem nicht! Und euch anderen genauso wenig!“,
„Los!“, schrie Rod. „Sag’s mir, oder ich zieh dir noch eine rein!“
„Niemals“, schnaufte Mac schwerfällig.
Emilio gab ihm noch einen Kinnhaken und donnerte:
„Ist es dir so lieber?“
Mac ächzte vor Qual.
„Lass diesen Scheiß!.“, würgte er jetzt, „Na gut, ich weiß es selber nicht.“
„Willst du mich verarschen?“
„Nein, wirklich! Meine Kollegen haben’s mir nicht gesagt!“
Rod wollte gerade zum zweiten Schlag ausholen, als Mario ihn zurückhielt:
„Rod, lass ihn in Ruhe. Wir werden die Frau auch so finden.“
„Na gut.“, gab Rod nach, „Dann lasst uns aber keine Zeit verlieren und sie augenblicklich suchen. Wir gehen wieder so vor, wir hier zu Halle 12 gekommen sind. Wenn ein weiterer der Lumpen kommt, gilt wieder das gleiche wie vorher. Herr Dexter, sie kommen mit mir mit!“
„Okay.“
So begaben sie sich wieder ins Gelände und klapperten jede einzelne Halle ab. Auch bei den restlichen Hallen war keine einzige abgeschlossen. Zuerst machte es den Eindruck, als ob sich die Gangster mit Herty aus dem Staub gemacht hatten. Über zwanzig Hallen waren bereits erfolglos durchsucht, als Mario plötzlich einen leisen Funkspruch an alle losließ:
„Helft mir!!! Halle 18!“
Unvermittelt scharten sich seine Freunde in Richtung Halle 18 zusammen. Anita war die erste, die ankam. Sie warf sich seitlich ans Tor und spähte um die Ecke. Sie sah Mario gleich, der von Dick, Macs Kumpanen festgehalten und mit einer MG bedroht wurde. Solange die Anderen noch nicht da waren, versuchte sie, die Aufmerksamkeit von Dick auf sich zu lenken. Mehr traute sie sich im Angesicht dieser Wumme im Augenblick wirklich nicht. Kess rannte sie einmal auffällig am Hallentor vorbei. Blitzartig ließ Dick, der dies aus den Augenwinkeln heraus beobachtet hatte, von Mario ab und begab sich in die Richtung, wo Anita hingerannt war. Nur fand er dort niemanden, denn sie hatte sich längst um die Ecke der nächsten Halle gehievt. Dummerweise spitzelte noch ein Bändel ihrer Jacke heraus, den Dick gleich entdeckte und in die diese Richtung rannte. Anita war noch nie dumm gewesen, realisierte diese Bewegung umgehend und rannte schräg eine Halle weiter. Dick im Gegensatz dazu war vom vielen Genuss alkoholischer Getränke unlängst verblödet und checkte die Veränderung nicht gleich, sputete zunächst zur falschen Halle, bis er mitkriegte, wo Anita war, die sich nun schon wieder hinter der nächsten befand. So ging dieses Spiel noch eine ganze Weile weiter, ich habe keinen blassen Schimmer wie lang; ich weiß nur, dass die Spielzeit ausreichte, dass Anita irgendwann in einer Halle verschwinden konnte und dass Joe, Emilio und Rodriguez alle zusammenfanden, zufällig das offene Tor der Halle sahen, in der Mario bedroht wurde und gleich einstürmten.
Mario, der, während Anita verfolgt wurde, aus Angst nur noch tatenlos in der Halle stand, empfing die drei gleich stürmisch.
„Ihr müsst unbedingt mitkommen, Anita wird gerade von Dick verfolgt, sie wollte ihn von mir ablenken.“
„Wo ist sie jetzt?“, fragte Joe bestürzt.
„Ich weiß nicht genau, ich hab nur noch mitbekommen, dass sie in diese Richtung abgehaut sind und ich hatte plötzlich solche Angst davor, mit zu rennen, dass ich nur noch hier bleiben konnte, tut mir echt leid.“
„Ist ja gut, Mario.“, beruhigte ihn Joe, „So was kann jedem mal passieren. Wichtig ist jetzt nur, dass wir Anita gleich finden, bevor Dick ihr was zufügt.“
Joe wollte gerade wieder den Mund aufmachen, um etwas zu sagen, als ein leises, weibliches Wimmern aus einem offensichtlich zusammengepressten Mund ertönte.
Herbert, der das bisherige Treiben schweigend ertrug, erkannte die Stimme sofort.
„Herty!?“, stellte er fragend. Die Stimme ohne Mund formte etwas, dass sich ganz nach „Mm.“, also ja anhörte. Emilio hatte auch eine Taschenlampe dabei, schaltete das Gerät ein und leuchtete in die Richtung aus der die Stimme kam. Und da war Herty, ganz in der Ecke verstaut und zusammengekauert, ebenfalls an Händen und Füßen gefesselt, mit einem völlig angestrengten Ausdruck im Gesicht. Die Freunde zauderten nicht lange und machten sich daran, sie zu entfesseln. Anita hielt ihre Mutter fest, während Joe mit seinem Schweizer- und Emilio mit seinem türkischen Messer ihre Stricke durchtrennten und ihr schließlich die Binde vom Mund nahmen. Endlich konnte Herty wieder reden:
„Herbert, Joe, ein Glück, dass ihr da seid, ich hatte ja solche Angst.“
„Haben sie dich arg schlecht behandelt, Schatz?“, ängstelte Herbert.
„Ja, sie stießen, zerrten und quälten mich, es war soo schlimm!“, jammerte Herty.
„Du tust mir ja soo leid.“, beruhigte Herbert sie.
Die beiden kamen schnell aus ihrer glückseligen Stimmung heraus, als Herty auffiel, dass Anita fehlte.
„Herrgott, wo ist meine Tochter?“
Joe besänftige sie, etwas von der Realität abweichend.
„Mach Dir mal keine Sorgen, sie kommt gleich.“
Kaum hatte er das gesagt, hörte man schon von weitem eine weibliche Stimme rumoren:
„Wohin, verdammt noch mal, bringen sie mich und was haben sie dort mit mir vor?“ Diese erschreckte Stimme gehörte eindeutig Anita. Herbert und Herty waren wie vom Blitz getroffen und vor Schreck erstarrt.
„Ich bring dich zu ner anderen Geisel, und lass dich überraschen, was dort mir dir geschehen wird!“, zeterte Dick.
Was dort mit Anita geschehen wäre, muss ich ihnen als bisher treue Leser leider vorenthalten, denn dank unserer tapferen Helden kam es erst gar nicht so weit. Die Dinge liefen anders als von den Verbrechern geplant: Dick kam wie gesagt mit Anita um die Ecke der Gefangenenhalle herum. Er steuerte auf das Hallentor zu, hielt der armen und unschuldigen Anita eine Knarre direkt an die Schläfe, war gerade im Begriff, die Halle zu betreten, um genau das mit Anita zu machen, was er für sie vorgesehen hatte, und erstarrte unwiderruflich in seiner Bewegung. Dick wollte nicht wahrnehmen, was sein körpereigenes Sehzentrum ihm da ans Gehirn lieferte. Man muss das echt einmal aus seinen Augen betrachten. Er kommt also gutgelaunt mit seiner Beute am Beutedepot an, will nichts anderes, als gemütlich den frischen Fang, der ja wieder zusätzliches Lösegeld bedeutet, sicher beim bisherigen Fang mit unterbringen, und dann stehen da vier halbwüchsige, gerade mal erwachsene Hanswurste, die mit seinen restlichen Geiseln, welche so schön gefesselt waren, inzwischen aber befreit sind, dastehen. Da würde doch jedem anderen Verbrecher auch der Kragen platzen. Dick ließ sich diesen Anblick und diese bodenlosen Tatsachen nicht gefallen. Er kam den Helden auf die gute alte Geiselnehmer-Methode daher: Aggressiv und gewalttätig drückte er Anita, die inzwischen mächtig ins Schwitzen gekommen war, die Waffe (eine Walter PK47) an den Hals, drückte sie ihr fest ins Fleisch und schrie aus voller Kehle:
„Gebt mir die beiden Gefangenen zurück, oder ich schieße dieser Hure hier die Halsschlagader auf, dass es nur so spritzt!!“
Das Rettungsteam um Herbert und Herty war im ersten Moment schwer bestürzt, dann beherrschen sie sich und fingen an, angeregt zu flüstern. Schließlich lösten sich Herbert und Herty vom Team und gingen freiwillig auf Dick zu. Der freute sich selbstverständlich über diese schnelle Einsicht und gab Anita kund:
„Mädchen du kannst gehen. Ich brauch dich nicht mehr.“
Anita ging sofort zu den Anderen in Sicherheit zurück. Herbert und Herty blieben artig bei Mac stehen. „So, ihr alle, und jetzt verschwindet, oder ich knall euch alle ab!“, schnauzte Dick, „Und ihr zwei alten Leute kommt mit mir!“
Mit diesen Worten drehte er sich um und zerrte das Ehepaar siegessicher mit sich, an jeder Seite einen. Auf genau diesen Moment hatte Emilio gewartet. Wie zuvor beflüstert schlich er den Dreien hinterher, vergewisserte sich, dass Dick ihn nicht bemerkte, und schlug dann mit seiner rechten Faust mit voller Wucht dem ahnungslosen Dick hinterrücks auf den Hinterkopf. Der Schlag erzielte seine Wirkung. Dick ließ kraftlos seine Hände von Herbert und Herty und drehte sich mit dann mit letzter Kraft schwerfällig zu Emilio um, die PK47 auf ihn gerichtet. Diesen Moment des Umdrehens nutzte Emilio aus, um ihm die Waffe aus der Hand zu zerren. Dick wollte nochmals danach greifen, hatte jedoch keine Kraft mehr dazu, drehte sich um, sank nieder und blieb liegen. Alle hatten gerade gedacht, die Sache wäre überstanden, als wie aus dem nichts ein unbekannter Schurke am Hallentor auftauchte. Er hatte eine Uzi in der Hand und peilte gerade Emilio an. Er hätte Emilio locker töten können, doch auch dieser Schurke war nicht so reich mit grauen Zellen besetzt. Er drückte kurz ab, verriss die Waffe, und der Schussschwarm traf die einzig aus Scheiben bestehende Decke der Halle. Systematisch barsten die einzelnen Fensterquadrate und regneten hernieder, der größte Teil traf den Schützen selbst. Emilios Reaktion war zwar nicht die beste, aber im Gegensatz konnte er schießen. Er zielte kurz und mit einem einzigen genau bemessenen Schuss zwischen die Augen streckte er den Bösewicht nieder. Er sank wie ein Mehlsack in sich zusammen, ein Rinnsal verbleiten Blutes rann ihm die Nase hinunter.
Herbert und Herty waren die ganze Zeit über nur gebannt stehengeblieben. Nun fielen sie ihrem Retter Joe um den Hals und bedankten sich überschwenglich. Joe wehrte natürlich nur dankend ab. Er wollte eine bescheidene Figur abgeben. Dann schlossen sie ihre zurückerlangte Tochter in den Arm und begossen sie mit Freudentränen. Als sie damit fertig waren, sah man Herbert und Herty abseits zusammenstehen und tuscheln. Offenbar mussten sie etwas wichtiges ausdiskutieren. Schließlich hatte Herbert etwas wichtiges anzupreisen:
„Joebert, ich hoffe, du nimmst das an, was ich Dir nun zu sagen habe. Nachdem du mutig und selbstlos so viel für uns getan hast, möchte ich mich hiermit, auch im Interesse meiner Frau, für alles entschuldigen, was ich Dir in der vergangenen Zeit an Vorurteilen und Misstrauen entgegengebracht habe. Ich bin nun vollkommen von Dir überzeugt. In diesem Sinne möchten ich und Herty uns bereit erklären, es euch freizustellen, dass ihr heiratet; das heisst, sofern Ihr noch wollt.“
Joe und Anita schauten sich selbstverständlich an.
„Was ist denn das für eine Frage? Natürlich wollen wir noch!“, jauchzte Joe.
„Ist ja wohl klar!“, bekräftigte Anita.
„Wenn das so ist, dann erkläre ich Euch jetzt rein inoffiziell zu Mann und Frau. Und Joe, du bist jetzt unser lieber Schwiegersohn und darfst uns jetzt Schwiegermama und Schwiegerpapa nennen. Ihr dürft Euch jetzt knutschen!“
Joe und Anita fielen triumphal übereinander her und schienen sich gegenseitig nahezu auszusaugen. Ihre Freunde und Herbert jubelten und klatschten. Einzig Herty strahlte nur selig.
Joe hingegen wandte sich allmählich wieder seinen Freunden zu:
„Leute, haben die Idioten doch glatt überwältigt! Ich bin stolz auf uns!“
„Das war mir von Anfang an klar, dass wir die Aktion schaffen. Dank mir.“, beteuerte Emilio, hob den Kopf in die Höh und klopfte sich auf die Brust.
„Angeber!“, riefen alle im Chor.
„Ich weiss.“, gab Emilio zurück.
„Mili, auch wenn du ein Angeber bist, trotzdem danke für deine mutige Rettungsaktion.“, bedankte sich Anita, „Denn sonst hätte mich dieser Schwerverbrecher echt noch zerschossen.“
„Ist doch nichts zu danken. Für gute Freunde verhindert man doch mal ein Schüsschen. Oder auch zwei oder drei.“ (Anspielungen auf eine TV-Werbung sind hier rein zufällig.)
Mario erhob das Wort.
„Also, ich würde sagen, wir verschwinden jetzt besser von hier, bevor einer der Fieslinge auf die Idee kommt, wieder aufzustehen und um sich zu ballern.“
Alle waren prompt damit einverstanden. Und so machten sie sich alle miteinander vom Schlachtfeld bzw. vom Schauplatz der Liebe und waren glücklich, dass alles heil überstanden. Joe war froh, dass er durch diese Entführungsgeschichte doch noch erreicht hatte, was er sich immer schon gewünscht hatte.
Und so kam es, dass Joe und Anita letzten Endes doch noch in den heiligen Bund der drei Buchstaben eintraten. Sie vereidigten sich glamourös, festlich und mit viel hektischem Trubel, allen Leuten die sie kannten einschließlich Emilio und Co., vor dem Traualtar, auch wenn sie schon immer unchristliche Menschen waren. Aber wofür gibt es denn Ausnahmen?
Auf sein „Ja“ folgte jedenfalls, wie das Bitte auf das Danke, selbstverständlich Ihres, und so wurden sie dann zu Mann und Frau erklärt (was sie ja auch davor schon waren, nur mit dem Unterschied der Ehe zwischen ihnen). Die dabei überreichten Eheringe waren eher schäbig, da Joe sie in einem auf so etwas nicht gerade spezialisierten Brillengeschäft zu einem absoluten Schnäppchenpreis ersteigerte. Es musste eben schnell gehen, und da Joe, wie schon gesagt, als Fahrradkurier jobbte, war da vorerst nicht mehr drin (bei einem Nettoeinkommen von gerade mal 400 Dollar monatlich). Doch zum Glück war er schon dabei, sich etwas gehobeneres zu suchen; immerhin hatte er mit Anita noch mehr vor. Sie wollten sich möglichst bald einen sagenhaften Urlaub, vielleicht sogar eine halbe Weltreise als Flitterwochen gönnen, anschließend stand ein dickes Eigentumshaus auf dem Plan und irgendwann sollten noch Kinder mit ins Spiel kommen und ein echtes Spießerleben führen wie es sich in unserer Gesellschaft gehört. Eine lange Zeit noch wollten sie sich jedoch mit dem Akt begnügen, dessen Ausführung normalerweise zur Zeugung von Kindern dienen sollte.
Ein paar Jahre später ging’s für Joe dann beruflich wieder bergauf. Er war jetzt, nach einer langen und mühseligen Ausbildung staatlich anerkannter Webdesigner. Sein Einkommen sah deutlich gesünder aus als zuvor. Er konnte seine Frau locker verköstigen, die sich dadurch voll und ganz auf ihren neuen Beruf als emanzipierte Hausfrau konzentrieren konnte. Das eigene Haus stand schon in nächster Nähe. Von Kindern waren die Beiden immer noch ein ganzes Stück entfernt.
Emilio, Mario und Rodriguez wurden Joe’s und Anitas dicksten Freunde, der Kontakt hielt sehr lange Zeit; mit den Schwiegereltern funktionierte es ebenfalls prächtig. Joe hatte sich das immer viel schlimmer vorgestellt, doch die Dexters wurden so was wie seine zweiten Eltern. Er war auch so gütig und steckte ihnen etwas zu, damit sie endlich mal ihre alte Bruchbude renovieren und mit ordentlichem Mobiliar ausrüsten konnten, damit sie die längste Zeit zwei alte Penner in einer Baracke am Ende einer langen Strasse mit Bonzenvillen waren.
Und so lebten sie alle zusammen, wie sollte es anders sein, glücklich bis ans Ende ihrer Tage, Wochen, Monate und Jahre. Und wenn sie nicht schon alle gestorben sind, dann leben sie heute noch oder sind unsterblich.
Den Rest können sie sich ja denken.
Das Verbrechen
von
Frank Sohler
(Eine absichtlich utopische Geschichte)
An einem stürmisch-verregneten Julitag fuhr er zu seinen vielleicht zukünftigen Schwiegereltern Herbert und Herty Dexter, die in einem verwahrlosten Bergnest namens Cherivito, unterhalb der Rocky Mountains, wohnten. Der Wasserniederschlag nahm mit stetiger Tendenz zu und ging allmählich ins Extreme über. Der Wettervorhersage nach konnte man zwar schon besseres erwarten, aber der Scheibenwischer musste noch immer volle Arbeit leisten. Er brauste mit knapp 70 Meilen pro Stunde die ansteigende Landstraße hinauf Richtung Mountains: Joebert, von allen schlicht und einfach Joe genannt, wie könnte es auch anders sein. Er war ein großer, breit und kräftig gebauter und trotzdem zugleich schlaksig-schlanker blutjunger Mann, um genau zu sein 21. Ihm persönlich war diese Zahl zu groß, er fühlte sich noch wie 16. Doch genau diese Art von Gefühl hatte ihm schon viel Gutes eingebracht, insbesondere in Sachen Liebe: Die Mädchen, seit längerem auch Frauen, mochten seine Art, die jugendlich frisch, locker, unkompliziert und gleichsam verständnisvoll wirkte. Daher hatte er auch mit elf bereits seine erste Freundin (es folgten natürlich einige weitere), und mit dreizehn folgte dann das erste Mal (um sachlich zu bleiben, will ich hier nicht ins Detail gehen, denn der Teufel liegt ja bekanntlich darin). Das Alles hatte er nebenbei auch seinem makellosen Äußeren zu verdanken: blonder, glänzender und glatter Haarschopf, den er zur Zeit zum Zopf nach hinten gebunden hatte, ein wohlgeformtes, gut durchstrukturiertes Gesicht, strahlend blaue Augen, die das Weibliche Geschlecht schon beim ersten Blick um den (manchmal kleinen) Verstand brachten, usw., um nur einiges zu nennen. Mit siebzehn lernte er schließlich seine bislang größte Liebe in Person kennen, die schon neunzehnjährige Anita, mit der alles auf Anhieb funktionierte. Sie wurde alsbald seine Geliebte, und kurz darauf wollte sie seine Gelobte sein und machte ihm den vorentscheidenden Heiratsantrag. Diese damit verbundene vermeintlich lebenslängliche Form von sozialer Beziehung hielt Joe bis vor seinem erstmaligen Treffen mit Anita zwar für recht sinnlos, doch ihr gelang es, seine Einstellung und somit den Stand der Dinge radiakl zu verändern. Er sah sich schon im Sinne, ihr Angebot anzunehmen und somit wäre bei den beiden eigentlich alles geregelt gewesen, hätte Anita nicht diese derart rüpelhaften Eltern gehabt, die ihr schon in frühen Jahren das Leben auf Erden zur Hölle und nun Joe Dasseine schwermachten, indem sie sich mit ihm als zukünftigen Mann ihrer Tochter und ihren Schwiegersohn schlichtweg nicht einverstanden erklärten. Vielmehr noch, sie nahmen sich sogar das Recht, Anita den Umgang mit Joe zu verbieten und nicht einmal daran zu denken, diesen ins elterliche Haus (soweit man hierbei von Haus sprechen konnte) zu verschleppen.
Die Dexters waren zwar stinkarme, aber trotzdem sehr eingebildete Leute, die sich, obwohl ohne Schulbildung, als besonders intellektuell betrachteten, und Joe mit seinem Job als Fahrradkurier war in ihren Augen nichts weiter als ein kleiner ärmlicher Dümmling. Aus diesem Grunde machten sie sich Sorgen um ihre Tochter, die ihrer Ansicht nach jemand Besseren verdient hätte, der Anita und ihnen zum Beispiel auch mal gelegentlich finanziell unter die Achseln greifen und sie aus der beinahen Armut retten konnte, der sie schon vor langem verfallen waren. Aus diesem Standpunkt heraus rieten sie Joe, sich von ihrer Tochter fernzuhalten. Es versteht sich von selbst, dass sich das junge Paar, das inzwischen 20 und 22 war, einen Dreck darum scherte, was die Dexters von ihrer Partnerschaft hielten.
Das interessante an der ganzen Sache war, dass sie bis auf seinen Job ganz und gar nichts von Joe wussten; sie hatten ihn auch erst ein einziges Mal gesehen dabei auch nur sehr flüchtig kennengelernt. Genau darin sah Joe den springenden Punkt und zog es deshalb vor, nicht gleich aufzugeben und statt dessen den Vorurteilen ein Ende zu machen. Er beschloss kurzerhand, Ma und Pa Dexter durch Erstattung eines Besuches entgegenzukommen, sie erst mal freundlich kennen zu lernen und sie nach und nach davon zu überzeugen, dass er nicht gerade so der falsche für ihre heißgeliebte einzige Tochter war.
Wie dem auch sei, Joebert befand sich nun jedenfalls in seinem alten Renault (der zwar nichts mehr wert war und zudem halb auseinander fiel, jedoch Joes Ein und Alles war) auf dem Weg nach Cherivito, dem Zielort seiner Mission. Er war sich bis zu diesem Zeitpunkt nicht im Geringsten im Klaren darüber, ob er bei den alten Leuten überhaupt irgendwas erreichen konnte, zumal er für sie so was wie ein Nichtsnutz war, was die Chancen enorm dämpften. Doch Joe war die Art von Typ, der niemals aufgibt, bevor er sein Ziel nicht erreicht hat, und daher wollte er das Handtuch locker über der Schulter behalten, anstatt es gleich zu werfen.
Wie bereits schon angemerkt: Unser Held fuhr also in Richtung Cherivito den highwayartigen Bergpass die Mountains hinauf; er war guter Dinge und voll großer Erwartungen. Es goss nach wie vor in starken Strömen. Nur noch wenige Meilen trennten ihn vom Bestimmungsort, der Moment der Entscheidung kam näher, und er musste sich allmählich Gedanken über sein nun anstehendes Gespräch mit den beiden zu überzeugenden Personen machen. Er ließ sich also sämtliche mögliche Argumentationsaspekte durch den Kopf gehen, von denen ihm anfangs kein einziger plausibel genug erschien. Erst wenige Meilen vor dem Ziel kam ihm die passende Lösung, die ich allerdings nicht näher erläutern möchte, denn es sollte sich baldigst herausstellen, dass das alles plötzlich vollkommen an Bedeutung verlieren sollte. Es bahnten sich nämlich Geschehnisse von weitaus höher liegender Priorität an, die alles aus den gewünschten Schienen werfen sollten und diese recht harmlose Geschichte zu einem fast reißerischen Abenteuer, eher noch zu einem regelrechten Drama und Spektakel zugleich mutieren lassen würden. Das Ganze hatte gerade erst angefangen.
Noch fuhr Joe nichtsahnend und geistesabwesend mit seinem privaten Transportmittel, oft auch Automobil oder kürzer ausgedrückt Auto tituliert...
Doch lassen wir diese Gedankensausschweife und kommen zum wesentlichen Thema zurück, wo die Musik spielt:
Joe legte nun die letzten paar hundert Meter zurück, kam in den wohlsituierten Bonzenbereich, wo sich komischerweise ganz am Ende der endlos lang erscheinenden Straße die kleine Blockhütte der Dexters befand, die eher an ein zu groß geratenes Gartenhaus, als an ein Einfamilien-Wohnhaus erinnerte. Schließlich fuhr Joe die breite und mäßig abfallende Einfahrt der beiden hinunter. Er war sich zum Glück (oder auch nicht) im Klaren darüber, was er ihnen zu übermitteln vorhatte, der Himmel war immer noch genau das Gegenteil von klar, als er sah und spürte, dass hier etwas nicht stimmte, sprichwörtlich ausgedrückt, die Kacke kräftig am Dampfen war, er wusste nur noch nicht so recht, in welcher konkreten Hinsicht. Zuerst wollte Joe mal seinen Wagen abstellen und ihn parkfertig machen, dann stieg er höchstvorsichtig aus, ganz ohne Regenschirm; die Nässe störte ihn nicht im Geringsten, er war ohnehin schon von Natur aus mit allen Wassern gewaschen. Als nächstes schaute er sich neubegierig um, um kurz die Lage zu peilen. Joe war erst ein einziges Mal hier gewesen und selbst das wäre nicht nötig gewesen, um zu erkennen, dass etwas höchst merkwürdiges vor sich ging: Alle Fensterläden waren verschlossen, die Gartenstühle und -tische lagen auf dem gesamten Rasen umgestossen verstreut (was darauf hinweisen konnte, dass hier zuvor ein ziemlich heftiges Handgemenge oder ähnliches stattgefunden hatte) und vor allem stand ein großer Lieferwagen, genauer gesagt ein Van, inmitten der Wiese geparkt, der mit hundertprozentiger Sicherheit keinem Angehörigen, Verwandten oder Bekannten der Dexters gehörte und wohl kaum ohne vorherige Erlaubnis dort plaziert wurde. Eindeutig war hier etwas faul, das spürte sogar ein taubstummer und Blinder zugleich, auch wenn er keinen Blindenstock oder einen Blindenhund besaß. Joe musste der Sache unbedingt auf den Grund gehen und, und es die Lage erforderte, etwas unternehmen. Wenn er jetzt einen Rückzieher machte, hatte er bei den Dexters alle Chancen vertan, außerdem wäre er dann den ganzen weiten Weg hierher umsonst gefahren.
Die Fahrerkabine war leer. Joe bewegte sich stumm zur hinteren Einstieg des Gefährts und zog an dessen Griff. Er ließ sich bewegen. Joe klappte die Tür hoch. Auch der Innenraum war unbesetzt. Er tapste geräuschlos wie auf Samtpfoten auf die Treppe vor der Haustüre zu, schlich leise die Steinstufen hinauf und drehte vorsichtig den Türknauf eine halbe Umdrehung nach rechts. Die Tür war nicht einmal abgeschlossen und ging mit einem leisen Knarren auf. Joe pirschte sich ein paar Meter an der Hausgangwand entlang, blieb mit dem Rücken zu dieser starr stehen und spitzte seine Lauschorgane. Er konnte schlurfende und klopfende Geräusche wahrnehmen: Jemand lief umher. Er vermutete intuitiv vier Menschen, (es konnten allerdings auch mehr oder weniger sein) gleich um die Ecke, im Wohnzimmer, ca. 4 Meter entfernt, wo die Geräusche herkamen: Herbert und Herty und wahrscheinlich zwei unerwartete und unangenehme Besucher. Eine bedrohend knurrende Stimme, die sich ganz nach einem Gauner anhörte, setzte an zu sprechen:
„Keine Bewegung ihr alten Schnepfen und haltet die Klappe!“
„Was zum Teufel wollen sie denn eigentlich von uns?“ Das hörte sich ganz nach Herbert an.
„Na was wohl. Euer scheißverdammtes Geld natürlich!“
(Ich weiß, dass es absolut absurd ist, dass ein Gauner in einer Hunderte von Meter langen Anreihung von noblen Reihenhäusern ausgerechnet das letzte und dazu noch das am ärmsten aussehende Haus wählt; aber wie schon in der Überschrift gesagt, soll diese Geschichte nicht glaubhaft wirken.)
„Aber wir haben doch so gut wie gar nix!“, erwiderte Herbert dann. (Wo er recht hatte.)
Es war ein leises Klicken zu vernehmen.
„Na gut, Sie kriegen alles, was Sie haben wollen, aber bitte schießen sie nicht!“
„Na dann mal her mit euren ganzen Vorräten! Aber flott, oder ich muss es mir anders überlegen!“
„Herbert, tu das bloß nicht!“, jammerte Herty.
„Ich muss es tun, Schatz, oder willst du, dass die uns durchlöchern?“
Jetzt sagte Herty nichts mehr. Darauf rannte Herbert, so schnell es in seinem Alter noch möglich war, in Windeseile die Treppe im Gang hinauf, wo Joe sich momentan aufhielt und sich glücklicherweise feldmäuschenstill verhielt, denn ansonsten hätte Herbert vielleicht einen riesigen Trubel gemacht und alles wäre ins Wanken geraten. Nach keiner Minute kam Herbert mit einem prallgefüllten Geldkniestrumpf und zwei Sparbüchern der National Bank zurück und begab sich wieder zum Ort des Verbrechens.
„Das sind unsere gesamten Ersparnisse, glauben Sie mir, mehr kann ich Euch beiden wirklich nicht geben.“
Nachdem er das gesagt hatte war ein kritisches Rascheln von Scheinen, Klirren von Münzen und eiliges Durchblättern von Seiten zu hören. Der Ganove fühlte sich offenbar vor den Kopf gestoßen.
„Soll das ein Witz sein? Ihr habt ja noch nicht mal ‘nen Riesen (hier: 1000 $). Das lohnt sich für uns von hinten bis vorne nicht.“
Herbert rechtfertigte sich entschuldigend.
„Aber was sollen wir denn sonst machen? Wir haben uns ja gerade mal diese Hütte leisten. Wir sind zugegeben zwei arme Schlucker.“
„Das ist mir so scheißegal. Wir brauchen Kohle. Egal wie.“
„Komm Dick, lass uns verduften, die Knete reicht ja wohl für den Anfang vollkommen aus.“ Das war scheinbar der Komplize vom sogenannten Dick.
„Dir vielleicht, Max. Mir überhaupt nicht. Ich will auch übermorgen noch über die Runden kommen. Wir müssen die zwei alten Schachteln entführen und irgend jemand erpressen, sonst kommen wir nie an die große Kohle, du Dummkopf!“
„Mann, das wird doch niemals hinhauen, wie stellst du dir das denn vor?“
„Das lass mal meine Sache sein, und jetzt fessel die beiden, los!“
„Wenn du meinst.“, gab Max widerwillig nach.
Allmählich wurde es Joe zu viel. Er hatte lange genug zugehört und musste endlich eingreifen bevor sie irgendwohin verschleppt wurden.
Gemächlich , Schritt für Schritt, pirschte er sich an den Tatort heran, zuerst völlig geräuschlos, doch bevor er sich um die Ecke in den Türrahmen schwingen konnte, übersah er ein ziellos auf dem Boden umherliegendes Stück Blech und trat tollpatschig darauf. Das dadurch verursachte Scheppern schallte durch den ganzen Gang. Dick war der Erste, der es gehört hatte und fluchte:
„Verdammt, wer oder was war das? Scheiße, da muss noch jemand anderer im Haus sein. Max, kümmere du dich darum, ich fessel die Alten!“
„OK.“
Max kam hastig auf die Tür zu, neben der Joe zusammengeschreckt stand und inzwischen genau wusste, was er jetzt tun musste. Er verharrte so wie er stand, brachte seine rechte Faust in Angriffsposition neben seine rechte Schulter, und in dem Moment, als Max aus dem Rahmen trat, Joe überrascht entdeckte und sich zu ihm umdrehte, zog Joe ihm mit voller Wucht mit der blanken geballten Faust mitten ins Gesicht. Der Schlag traf genau auf die Nase. Blut rann sofort in breiten Strömen heraus. Max sank halb zusammen bevor er erst recht begriff, woher diese Faust überhaupt gekommen war. Das war Joe allerdings schnuppe. Er hob zuerst mit der einen Hand das Metallteil auf, über das er gestolpert war. Es wies sich als massive Eisenstange heraus, was praktisch für einen potentiellen Kampf war. Mit der anderen Hand packte er den nun kläglich winselnden Kleingangster brutal am Kragen und zog ihn mit sich ins Wohnzimmer, ohne Rücksicht auf Verluste. Joe hielt die Stange drohend über Max’ Kopf.
„Lass sie frei, oder ich geb deinem Kollegen hier den Rest. Es fehlt nur noch ein einziger gezielter Schlag mit dieser Eisenstange!“, brüllte er den völlig verdutzt und verdattert aus der Wäsche dreinschauenden Dick an, der gerade erst mit dem Fesseln von Herbert fertiggeworden war.
„Jobert!“, wieherte Herty.
„Jobert! Du, hier? Was treibt dich denn her?“, rief Herbert erstaunt.
Joe warf ihnen lediglich einen flüchtigen Blick zu der sagen sollte:
‘Ja, ich bin’s. Aber wir haben jetzt wirklich keine Zeit für große Erklärungen.’, und wendete sich wieder Dick zu, immer noch den benommen an ihm baumelnden Max im Schwitzkasten haltend. Dick fing an, nervös zu stammeln und zu stottern:
„Da-Das wü-würdest d-du d-doch ni-nie fe-fertig-bri-bringen, o-oder?“
„Da wäre ich mir nicht so sicher. Lass sie endlich frei!“, erwiderte Joe selbstsicher.
„Nein, niemals.“
Joe machte ernst. Der Kerl hatte seine Gelegenheit gehabt, aber die hatte er nun verspielt. Mit derselben Wucht wie vorher verpasste er Max einen entscheidenden K.O.-Schlag mit der Eisenstange auf den Hinterkopf. Es schoss in einer weiten Fontäne heraus und Max brach nun endgültig zusammen. Er kippte wie ein Dominostein bei einem Windzug vornüber auf den rissigen Parkettboden. Die Pranke würde ausreichen, um ihn auch eine ganze Weile außer Gefecht zu halten. Nun schien Dick durchzudrehen. Er griff brüllend in sein zerfranstes Jackett und brachte eine glänzende 7,62 mm-M16-Automatik zum Vorschein, die zweifelsohne imstande war, aus einer Entfernung von 300 Metern einer Mücke eine Augenbraue am linken Auge anzusengen, visierte Joe kurz an und drückte ab. Eine Hundertstel-Sekunde zuvor warf sich Joe mit einer gekonnten Seitwärtsrolle zu Boden und konnte um einen Haarspalt ausweichen. Eine Salve von Geschossen flitzte mit Schallgeschwindigkeit quer durch den Raum und brachte gegenüber die massiv wirkende Fensterscheibe zum Zersplittern. Der Luftzug, der dadurch verursacht wurde, schmorte Joe einen ganzen Wisch Haare an. Mit dem nächsten Sprung und nur sehr geringfügig zeitversetzt mit dem nächsten Schuss hechtete Jo neben den von ihm zweieinhalb Meter entfernten Kamin. Diesmal traf die Kugel auf den Putz knapp über Joe’s Kopf und er durfte eine Dusche aus wegspickenden Putzfetzen genießen. Im selben Moment drückte Dick ein drittes Mal ab, doch Streuselkuchen, es kam nichts. Dick verfluchte den guten Gott in die Hölle und war so in seine Wut vertieft, dass er nicht registrierte, wie sich Joe innerhalb dieser Zeitspanne aus dem Staub machte. Joe war sein Leben in diesem Moment wichtiger als seine Zwangsverwandten. Er wollte es nicht für sie riskieren, sondern nur noch weg von hier. Schnell eilte er zur Tür und warf, dort angekommen, nochmals einen Blick zu Dick zurück. Doch der Idiot war inzwischen mit dem Nachladen beschäftigt und halb verzweifelt, da das neue Magazin nicht in den Mordapparat wollte. Die Dexters hatten sich, noch weit verzweifelter, total verängstigt von der Schießerei, in eine Ecke gerollt, ohne die kleinste Bewegung auszuführen. Joe wog sich bereits in Sicherheit, wollte gerade die Baracke verlassen und sich vorerst mal auf und davon machen, als urplötzlich, wie aus dem Nichts, hinter ihm ein dritter Ganove auftauchte. Dieser sah noch viel bösartiger und kräftiger als Max und Dick zusammen aus. Er war ein stämmiger, 2.20 Meter großer Türsteher, der eine gewaltig unfreundliche Miene zeigte. Joe hatte kein Interesse mehr an einer weiteren Konfrontation, erst recht nicht mit diesem Mann. Er wollte nur noch fliehen, wandte gerade sein Gesicht von dem Gangster-Boss ab, als dieser ihm einen derart kräftigen Hieb auf den Hinterkopf schleuderte, dass Joe auf der Stelle zusammensackte und sofort ins Land der bewusstlosen Träume und der vorübergehenden Jagdgründe entschweifte. Von dem Augenblick an wusste er überhaupt nichts mehr und hatte einen absoluten Filmriss. Der Urheber des Schlags hieß übrigens Mac, war einer von Max’s und Dick’s Gefährten und er hatte die gesamte lange Zeit des Geschehens über an der Hintertür des hausähnlichen Gebäudes gelauert und nichts anderes getan, als darauf zu warten, dass seine Kampanions mit der erwarteten Beute zurückkamen. Als es ihm dann irgend zu lange dauerte und zu doof wurde, beschloss er kurzerhand, nachzuschauen, was da drin denn so auffällig viel Zeit in Anspruch nahm. Vielleicht hätte er diese Wind- und Wetteraktion besser unterbinden sollen, denn sie kam für unseren Hauptdarsteller im Endeffekt nicht sehr positiv rüber. Er lag nämlich nun bewegungslos da, während Mac und Max nacheinander zuerst Herbert, dann Herty, knebelten, in den Lieferwagen verfrachteten und anschließend ihren schwer lädierten Kumpanen dorthin mit sich zogen, der genauso wenig vom Allgemeinen Vorgang mitbekam wie ihrer aller gemeinsamer Wahl-Feind Joe. Schließlich brausten sie alle miteinander im Van über alle Berge (Rocky Mountains) auf und davon. Sie waren doch glatt so bescheuert und ließen Joe einfach liegen. Nun hatten sie erstens einen tatkräftigen Zeugen, der vor der Polizei mit genügend Beweisen (zerbrochene Scheibe, angeschossene Kaminwand und seine Riesenbeule am Hinterkopf) aussagen konnte, und zweitens mussten sie mit Joe auf einen gehörigen Batzen zusätzliches Lösegeld verzichten, denn für drei Leute kann man ja bekanntlich mehr verlangen wie für zwei. Doch das alles interessierte Joe im Augenblick sehr wenig, denn leider hatten sie ihn nicht irgendwo liegen gelassen, sondern vor ihrer überstürzten Abfahrt irgendwohin verschleppt. Wohin, das musste er zuerst mal herausfinden. Er kam mitten in der Nacht endlich wieder zu sich, ihm brummte der Kopf wie nach einer durchzechten Nacht mit 4 Promille Blutalkohol und er sah außer ein paar restlichen Sternchen vor seinem geistigen Auge nicht das Geringste von seine Umgebung. Er war anfänglich lediglich von nahezu undurchdringlich erscheinender Dunkelheit umgeben. Er rappelte sich mit maximaler Anstrengung auf und suchte nach einem Lichtschalter, aber da war nichts derartiges zu finden. Allmählich gewöhnten sich seine Augen an die Finsternis und nahmen zumindest die Umrisse des Raumes wahr. Es handelte sich dabei wohl um einen komplett überfüllten Abstellraum. Joe tastete weiter und entdeckte mit den Händen einen Türgriff. Die dazugehörige Tür war zum Glück nicht verschlossen. Joe drehte den Knauf, riss die Tür auf und schaute sich wieder um. Jetzt realisierte er, wo er war: Im Keller der Dexters, den er gleich wiedererkannte, obwohl er erst einmal hier gewesen war. Er war halbwegs froh, denn die Fieslinge hätten ihn auch genauso in der entlegendsten Pampa irgendwo auf dem höchsten Berg der Rockys absetzen können. Schnell tapste er die lange und steile Kellertreppe aufwärts und wollte auch die letzte Tür öffnen, die ihn vom Gang, wo er am Anfang stand, trennte. Sie war leider abgesperrt.
‘Scheiße’, dachte er und dies zu recht. Diese Tür war aus massivem Eisen und deshalb brauchte er gar nicht erst anzufangen, sie aufbrechen zu wollen. Er war eingeschlossen. Joe war aber kein Aufgeber-Typ, deshalb griff er fix in seine Hosentasche. Bingo, sein brandneues Wap-Handy von Nokia hatten sie ihm gelassen. Sie waren eben nicht so modern gerichtet wie er. Auch Joe hatte zwar lange gebraucht, um sich dem neuen Kult anzuschließen, doch letzten Endes hatte auch er sich bekehren lassen. Nun zog er es heraus und wählte flink die Nummer seines besten Kumpels und Arbeitskollegen Emilio, ein italienischer Einwanderer, auf den man echt bauen konnte. Nach nur einem Freizeichen meldete sich Emilio auf die typisch italienische Art: „Ciao Bello oder Bella, Emilio an der Strippe.“
„Ich bin’s, Joe.“
„Joeberto, alter Junge, was gibt’s?“
„Mili (wie Joe seinen Kumpel immer zu nennen pflegte, die Dexters, du weißt ja, Anitas Eltern, sind entführt worden und ich steck hier im Keller von ihnen ganz tief in der Scheiße!“
„In was für ‘ner Scheiße?“
„Sie Entführer haben mich eingesperrt.“
„Ja, und was hab ich damit zu tun, hä?“
„Kannst du mich vielleicht hier rausholen?“
„Vielleicht. Muss ich mir noch gut überlegen. Nee, nee, kleiner Scherz. Na klar doch, Mann! Wo wohnen die Leute?“
„In Cherivito, Rocky Street, letztes Haus, du erkennst es an der brüchigen Fassade.“
„So weit weg? Okay, weil du’s bist, Kumpel!“
„Danke, Mili, ich werd’s dir nie vergessen. Also, die Haustüre müsste offen stehen, ansonsten schau unter dem Fußabtreter nach einem Schlüssel, der muss auf jeden Fall dort sein, alles andere können wir nachher klären.“
„In Ordnung, bis dann, Ciao Bello.“
„Ciao.“
Joe drückte den Auflegknopf und steckte das Gerät wieder ein. Jetzt konnte er nur noch warten. Die Zeit, bis Emilio ankam, kam Joe wie eine halbe Ewigkeit vor. Er vertrieb sie sich, indem er Schafe, Ziegen, Moorhühner, Sumpfhühner und sonstiges Vieh zählte, auch wenn keines da war. Joe hatte eine sehr gut ausgeprägte Fantasie.
Nach erst circa einer Stunde fuhr Emilio die Strasse entlang. Man konnte seinen recht neuen Fiat Uno schon von Meilen gegen den Wind hören. Er hatte ihn getuned bis zum geht nicht mehr.
Schließlich fuhr Emilio in den Hof, parkte und schritt auf das Haus zu. Diese war eigenartigerweise offen. Das zeugte wieder einmal für die Dummheit der Möchtegern-Gangster. Zielsicher stolzierte Emilio den Hausgang entlang, an dessen Ende er die Kellertür rein intuitiv vermutete. Er lag richtig in dieser Vermutung.
„Joe! Bist du da unten?“, rief er.
„Klar Emilio, wer sonst, gleich hinter der Tür. Hast du ‘ne Idee, wie wir sie aufkriegen sollen?“, entgegnete Joebert.
„Na klar, Mann. Ich bin nicht umsonst Experte im Schlösserknacken. Ich hab’ zwar keinen Dietrich am Schlüsselbund, dafür aber ‘ne Sicherheitsnadel in der Hosentasche und ne Menge Fingerspitzengefühl obendrauf. Damit konnte bislang jede noch so hartnäckige Nuss geknackt werden.“
„Gute Idee. Wenn ich dich nicht hätte!“
„Jetzt wart’ erst mal ab. Ich kann für nichts garantieren.“
„Okay, ich hab’ Zeit und ich bau auf dich.“
Emilio legte los. Er packte seine Nadel aus, fummelte kurz am Schloss herum, es klickte und schon sprang das Schloss auf.
„Mili, du bist mein Held. So schnell hätte es auch nicht gehen müssen“, triumphierte Joe, öffnete die Tür und fiel seinem Freund um den Hals.
„Danke, Mili.“
„Keine Ursache, Alter. Jetzt werd’ bloß nicht sentimental.“
„Ach was, ich doch nicht!“
„Und wie soll’s jetzt weitergehen, ich meine, mit Anitas Eltern. Willst du sie einfach im Stich lassen?“
„Natürlich nicht. Wir müssen zumindest die Polizei verständigen.“
„Das kannst du eher vergessen. Oder hast du dir das Nummernschild von dem Entführungswagen eingeprägt?
„Nö, leider nicht. Ich weiß nur, dass es ein blauer Van war.“
„Dann kannst du’s fast vergessen. Weißt du, wie viele blaue Vans es in der USA gibt? Bis die da eine Rasterfahndung durchgeführt haben, sind die Entführer doch schon längst mit nem anderen Schlitten unterwegs. Wir sollten eher ne private Rettungsaktion starten, da kommen wir schneller voran, denke ich.“
„Gut, wenn du dabei bist. Aber zuerst muss ich unbedingt Anita benachrichtigen, auch wenn sie nicht gerade begeistert sein wird.“
„Aber sie sollte besser nichts von der Rettungsaktion mitbekommen. So was ist nichts für Frauen; es könnte gefährlich werden. Sag ihr einfach nur, ihre Eltern seien entführt worden und du hättest bereits die Polizei verständigt.“
„Da hast du vielleicht recht.“
„Dann gehst du also zuerst zu Anita, kommst dann zu mir und wir hecken gemeinsam einen Plan aus.“
„Ok, einverstanden.“
Sie bewegten sich zum Ausgang, jeder auf sein Auto zu. Emilio blieb noch mal stehen.
„Dann sehen wir uns morgen Abend bei mir, ok?“
„In Ordnung. Auf dann, dann.“
„Ciao.“
Sie stiegen in ihre Wägen und fuhren los, Joe zuerst. Die Hälfte der Strecke fuhren sie so voreinander her. Dann trennten sich ihre Wege, denn Joe wohnte in Azimuth und Emilio in Sanston, beides nahe New Mexiko. Das lag ungefähr 10 Meilen auseinander. Trotzdem funktionierte ihre Freundschaft formidabel, denn wahre Freundschaft kann selbst die größte Distanz überwinden.
Als Joe daheim ankam, war es schon stockdunkel. Anita würde höchstwahrscheinlich bereits schlafen. Sie und Joe wohnten zusammen in einem renovierten Hochhaus im zehnten Stock, inmitten des eher als unbekannte Kleinstadt zu bezeichnenden Azimuth. Ihre Wohnung bestand zwar aus nur fünf Zimmern, war aber dennoch relativ komfortabel. Sie hatten sie im modernsten Stil eingerichtet, mit Plasma-Flachbild-Fernseher, Lavalampen, Waschmaschine mit integriertem Internetanschluss, Induktionsherd und all dem Schnickschnack, den Leute von heute so brauchen. Joe hatte sein eigenes Computerzimmer für das er sich bald den hochtechnisiertesten PC kaufen wollte, wenn er genug zusammengespart hatte und diese schreckliche Geschichte überstanden war. Anita wiederum durfte sich ihr eigenes Bügel- und Partyzimmer einrichten, mit einem Laserbetriebenen Bügeleisen, das sich von selbst abschaltete, wenn man es vergaß und mit einer festinstallierten Mini-Blitzlichtanlage und so weiter. Nun könnte man ja fast denken, die beiden hätten doch genug in der Haushaltskasse, doch dem war nicht so. Sie waren nicht einmal durchschnittlich verdienende Staatsbürger. Er war, um nochmals an den Anfang unserer Erzählung zu erinnern, Fahrradkurier, was man gehaltsmäßig mit der in Deutschland bekannten 630-DM-Basis vergleichen könnte, und sie war gelernte Steuerberaterin. Zugegeben war ihr Einkommen dadurch ein wenig in der höheren Lage, was ihr ermöglichte, ihm auch mal etwas zuzustecken. Allerdings befähigte das die beiden bei weitem nicht, sich Luxuseinrichtung leisten zu können. Das Paar lebte größtenteils von Krediten, die sie auf mehrere Banken verteilten.
Nun stieg Joe in den Aufzug (er war ein fauler Mensch), betrat den Wohnstock bis zur Wohnungstür, schloss auf und trat ein. Anitas war noch wach und saß offenbar vor der Flimmerkiste. Sobald Joe den Flur betrat, hatte sie ihn schon gehört und posaunte lauthals:
„Schatz, mit dir hätt’ ich heut aber gar nicht mehr gerechnet. Haben meine Alten irgendwie Schwierigkeiten gemacht, oder waren sie nicht Zuhause ?“
„Weder, noch.“, sprach Joe ruhig und kam auf Anita zu. Nun sah er, dass sie splitternackt auf dem Sofa ausgestreckt lag. Er musste sich eingestehen, dass ihn das durchaus erregte. Doch jetzt war nicht die richtige Zeit, auf weibliche Reize zu reagieren. Er musste sofort mit den Fakten rausrücken.
„Ähm, ums kurzzumachen: Tut mir wirklich schrecklich leid, aber deine Eltern sind entführt worden.“
Anita schwieg und starrte Joe an, als wäre soeben ein UFO auf seinem Kopf gelandet.
„Wie bitte, ich hab’ mich wohl verhört!“
„Nein, du hörst ganz richtig. Ich war eben live dabei und kann wahrscheinlich von Glück reden, dass ich nicht auch entführt oder gar umgebracht worden bin.“
„Wie bitte? Das soll wohl ein schlechter Witz sein! Ich versteh’ gar nichts mehr. Kannst du mir die Geschichte mal von Anfang an erzählen?“
„Also gut:...“
Joebert erzählte alles, von seiner Ankunft bei den Dexters über die Schießerei, bis hin zum Eintreffen Emilios. Als er fertig war, schaute Anita völlig verdutzt drein. Sie hatte die ganze Zeit über den Atem angehalten. Jetzt sie die ganze Luft wieder heraus.
„Nicht zu fassen. Aber wer kommt denn auf die Idee, ausgerechnet meine armen, fast bankrott lebenden Eltern zu entführen?“
„Ich weiß echt nicht, wer die Typen waren. Auf jeden Fall waren sie ziemlich geisteskrank. Sie wollen sogar Lösegeld für deine Alten.“
„Ist nicht wahr. Und was sollen wir jetzt tun?“
„Ich habe bereits die Bullen angerufen. Sie werden den Van verfolgen, das Kennzeichen hab ich auch angegeben (er log natürlich). Mach dir keine Sorgen, sie werden die Schweine schon finden.“
„Na, das hoffe ich auch, und mehr als hoffen können wir jetzt dann auch nicht mehr.“
„Ja, wir können nur noch abwarten.“
Noch in derselben Nacht, noch bevor Joe zu Emilio fuhr, als sie nach diesem harten Tag endlich zu Bett gehen wollten, klingelte plötzlich ganz und gar unerwartet das Telefon. Anita wollte schon rangehen, als Joe sie beschwichtigte:
„Komm’, lass es doch klingeln. Wer so spät anruft, ist selber schuld.“
„Aber das kann verdammt wichtig sein, ein Notruf vielleicht.“
„Okay, du könntest recht haben. Nimm ab.“
Das tat Anita. Sie meldete sich mit einem griesgrämigen „Hallo“. Darauf kam ihr eine dumpfe, verzerrte, roboterartige Stimme entgegen, die bösartig fragte:
„Mit wem bin ich verbunden?“
„Wer will das wissen, wenn ich fragen darf? Und warum verstellen Sie ihre Stimme?“, antwortete sie.
„Wer ich bin, spielt jetzt keine Rolle. Und meine Stimme geht dich auch nichts an. Das einzige was hier zählt, ist, dass du Anita Dexter bist, dann bin ich hier richtig.“
„Ja, die bin ich. Gut, dann duzen wir uns eben. Also, was willst du?“
„Ich will nur Geld. Eine Million Mäuse, ums’ genau zu sagen.“
„Und warum denkst du, dass ich Dir soviel Geld geben würde?“
„Ganz einfach. Wenn ich die Kohle nicht krieg’, dann wirst du deine Eltern nie wieder zu Gesicht bekommen. Dann verrecken sie nämlich.“
„Du verdammtes Dreckschwein. Wenn du meinen Eltern auch nur ein Haar krümmst, dann wirst Du Probleme kriegen!
„Wie denn? Wenn ich deinen Eltern was antue, wie willst du’s erfahren? Und wenn du’s erfährst, musst du immer noch rausfinden, wo ich mich befinde! Und wenn du mich gefunden, was willst du mir dann antun, kleines Mädchen?“
„Das wirst du schon noch sehen, kleiner Junge, da mach Dir mal keine Gedanken. Aber du kriegst kein Geld von mir!“
Joe warf ihr einen eindeutigen verwerflichen Blick zu, an dem sie gleich sehen konnte, das er damit nicht einverstanden war. Darum änderte sie ihre Meinung.
„Na gut, wo und wann ist der Treffpunkt?“
„Übermorgen 20 Uhr. In Portymont, auf dem alten Fabrikgelände von Networx Corporation, Halle 12. Ich warte vorm’ Eingang, sagte er und legte auf.“
„Scheiße“, fluchte Anita. „Wo sollen wir denn jetzt so schnell eine Million Dollar herkriegen? Und wenn wir es haben, meinst du, wir können dann sicher gehen, dass diese Arschlöcher meine Eltern auch wirklich freilassen ?“
„Das überlass mal alles den Leuten von der Polizei. Die sind in solchen Entführungsgeschichten schon routiniert. Zumindest wissen wir jetzt, wo sie gefangengehalten werden.“
„Deswegen bin ich jetzt auch nicht beruhigter. Ich mach mir einfach solche Sorgen um die beiden.“
„Entspann doch einfach. Ich garantiere Dir, wir werden das zusammen durchstehen. Lass uns das Ganze doch erst mal überschlafen. Vielleicht hat sich morgen schon was ergeben.“
Das machten sie dann auch. Sie hatten beide eine sex- und traumlose Nacht.
Am nächsten Morgen, beim Frühstück redeten Joe und Anita nicht viel. Joe verzichteten auch auf ein anschließendes Mittagessen, da er nur so schnell wie möglich zu Emilio wollte. Er befand sich schon kurz nach dem Frühstück auf der Fahrt zu ihm. Es war nicht mehr weit nach Sanston. Joe steuerte in die kleine Seitengasse ein, die zu Emilios Apartment führte. Er wohnte dort zusammen mit zwei ebenfalls italienischen Kumpels. Joe fuhr auf den Gemeinschaftsparkplatz zu, wo er wieder einmal seinen Wagen abstellte. Er stieg aus, bewegte sich zur Tür und klingelte. Es meldete sich Rodriguez, kurz genannt Rod, einer der beiden Kumpels.
„Ja?“
„Hier ist Joe. Ist Emilio da?“
„Ah, Ciao. Si, er ist da.“
Es surrte aus der Außensprechanlage. Joe drückte die Tür auf und sie stiege die Treppen hinauf in den zweiten Stock, wo Emilio schon an der Wohnungstür wartete.
„Ciao Joe. Kommt rein und setz dich. Wir haben einiges zu besprechen.“
Sie begaben sich zum gemeinsamen Esstisch, wo Rodriguez und Mario, der andere Kumpel, gerade saßen und ein Schwätzchen hielten. Als sie den Besucher sahen, begrüßten sie ihn nur beiläufig. Joe und Emilio gesellten sich dazu.
„Also,“ kam Emilio gleich zur Sache, „hast du Dir schon ‘nen schlauen Plan überlegt?“
„Nee,“ sagte Joe, „mir wollte bisher nichts sinnvolles einfallen. Du, ich muss dir unbedingt von ‘nem wichtigen Zwischenfall erzählen.“
Er teilte ihm die Sache mit dem mitternächtlichen Anruf mit. Emilio nickte nur stumm. Dann sagte er seine Meinung dazu:
„Das kommt jetzt aber wirklich ziemlich unerwartet. Damit hätt’ ich so schnell nicht gerechnet. Der Anruf erleichtert die Sache allerdings ungemein. Sonst hätten wir die Spur der Verbrecher erst finden und verfolgen müssen, hätten uns Zeugen suchen müssen und so weiter. Was mich aber noch brennend interessieren würde, Joe, ist, wie der Typ überhaupt zu eurer Telefonnummer kam. Er wusste doch nicht mal deinen Nachnamen, oder?“
Man konnte Joe’s Augen eine deutliche Verwunderung ansehen.
„Stimmt“, äußerte er sich verblüfft, „an diese Frage habe ich bisher noch gar nicht gedacht, geschweige denn, an die dazu passende Antwort. Jetzt wo du’s sagst...“
Er dachte einen intensiven Augenblick lang nach und dann kam ihm die Lösung:
„Jetzt hab’ ich’s. Die Scheißkerle müssen mir, wie ich im Haus der Dexters k.o. war, die Geldbörse aus der hinteren Hosentasche gezogen, mir eine der über 10 Visitenkarten daraus genommen und die Geldbörse dann wieder zurückgesteckt haben. Anders kann ich mir das nicht vorstellen.“
„Logisch eigentlich.“, erwiderte Emilio, „Wie denn auch sonst. Ganz verblödet sind die Kerle wohl doch nicht. Allerdings müssen wir uns jetzt mal allmählich Gedanken darüber machen, wie wir die Geiseln nun befreien sollen. Hat jemand irgendwelche Vorschläge?“
Mario meldete sich spontan zu Wort.
„Ähm, Emilio, wie sollen wir denn Vorschläge abgeben, wenn wir noch nicht einmal wissen worums hier geht.
Emilio bleute es:
„Ach ja, stimmt. Das hatte ich ganz vergessen. Also, dann werd ich Euch schnell aufklären...“
Er erzählte Mario und Rod die ganze Geschichte von Anfang an.
„Also, Ich weiß nicht,“ sagte Mario zuerst zurückhaltend „es könnte vielleicht um Leben und Tod gehen. Aber für einen guten Freund tu’ ich doch alles.“
Rodriguez zögerte ebenfalls für einen Bruchteil, dann klärte sich sein Gesicht:
„Na gut, dann bleibt mir ja fast nichts anderes übrig. Ich kann meine Freunde wohl kaum im Stich lassen.“
„Gute Entscheidung, Leute. Ich werds Euch ewig verdanken. Jetzt habt ihr echt was bei mir gut. Wenn das hier alles überstanden ist, dann werd’ ich zuerst ein fettes Sechs-Gänge-Menü und danach einige Runden Bier ausgeben, so viel ihr wollt.“, freute sich Emilio.
„Da lohnt es sich ja richtig, mitzumachen.“, bemerkte Rodriguez, doch Emilio ging nicht mehr darauf ein. Er wollte endlich zur Sache kommen. In selben Moment, als er gerade zum Reden ansetzen wollte, klingelte es. Emilio stöhnte.
„Muss das gerade jetzt sein! Rod, gehst du kurz runter und machst der unerwarteten Person auf?“
„Wieso denn immer ich?“, entgegnete Rod faul.
„Mach einfach!“, hetzte Emilio ihn.
Rodriguez setzte sich in Bewegung.
„Wer ist da.“, fragte er argwöhnisch.
Eine hohe Stimme tönte aus der Ohrmuschel. Rod fragte in die Runde:
„Leute, es ist Anita. Darf sie was von der Sache erfahren?“
„Eigentlich nicht.“, sagte Joe. „Aber wir können sie jetzt auch nicht mehr wegschicken. Wir müssen sie wohl oder übel einweihen. Mach ihr auf.“
Sekunden später tänzelte Anita leicht bedrückt in den Raum. Sie begrüßten sich.
„Was treibt Dich denn jetzt plötzlich her?“, wunderte sich Joebert.
„Ich hielt es daheim vor lauter Sorgen nicht mehr aus. Habt ihr zumindest einen netten Männernachmittag?“
Alle schwiegen, unsicher was auf diese Frage sagen sollten.
„Ja, ja, wir haben es schon ganz lustig hier,“ gab Joe halbstark von sich. Mili, Rod und Mario warfen ihm auffordernde Blicke zu. Joe verharrte und überlegte kurz. Schließlich sprach er:
„Anita, ich muss Dir was gestehen.“
„Was?“
„Ich hab Dich vorher angelogen. Ich hab die Polizei gar nicht verständigt.“
Anita war ganz baff.
„Wie bitte, das soll jetzt wohl nicht dein Ernst sein. Aber wieso denn?“
„Wir wollen die Sache auf eigene Faust durchziehen.“
„Wer ihr?“
„Ich und sie.“ Er beschrieb mit dem Kopf einen Halbkreis vorbei an Emilio und Co.
„Ihr vier? Seid ihr denn von allen guten Geistern verlassen? Das könnt ihr doch niemals allein schaffen!“
„Doch. Wir haben gute Karten. Wir alle haben eine Kampfsportart gelernt und wir sind zu viert. Die Kleingangster waren zu dritt, hatten keine Kampftechnik drauf und waren noch dazu dumm wie Brot. Ich hab einen von ihnen lahmgelegt und ich glaube kaum, dass sie noch irgendwie Komplizen haben oder auf die Schnelle irgendwo welche herkriegen.“
Und wieso hast du mir gestern verdammt noch mal nichts davon erzählt?“
„Ich wollte es Dir schon noch mitteilen. Aber gestern hast du so schockiert gewirkt, dass ich Dich fürs Erste verschonen wollte.“
„Na gut, aber wieso wollt ihr nicht zusätzlich die Bullen einschalten? Die könnten doch vielleicht noch ganz hilfreich sein.“
„Ganz einfach, weil es viel zu lange dauern würde, bis die was ausrichten könnten. Wir haben noch nicht mal das Kennzeichen des Vans.“
„Aha, und gestern hast du mir versichert, du hättest das Kennzeichen angegeben.“
„Tut mir echt schrecklich leid. Bitte vergib mir.“
„Das muss ich mir noch gut überlegen.“, antwortete sie beleidigt und fügte dann hinzu:
„Aber wenn ihr das Ding schon alleine dreht, dann zumindest nicht ohne mich; das ist meine Bedingung.“
Joe wehrte sich.
„Anita, das geht nicht.“
„Aber wieso? Es geht hier um meine Eltern. Da hab’ ich wohl noch was mitzubestimmen!“
„Anita, wir wollen eine Befreiungsaktion starten. Das ist nichts für zarte Frauen wie dich.“
„Jetzt hör’ mal zu. Ich glaube, du unterschätzt mich gewaltig. Ich bin keine Zimperlise wie du denkst. Ich hab auch Judo gelernt, und zwar bis zum schwarzen Gürtel. Und ausserdem will ich nicht tatenlos mit ansehen, wie meinen Eltern etwas angetan wird.“
„Aber es könnte trotzdem einfach zu hart für dich werden. Die Ganoven haben immerhin schwere Schusswaffen bei sich.“
Das reichte Anita nicht aus.
„Ach ja, und meinst du, ausgerechnet ihr werdet mit diesen Kerlen fertig, nur weil ihr Männer seid?“
Joe fiel kein sinnvolles Argument mehr ein.
„Anita, ich will einfach nicht, dass Dir was passiert und ich dann für dich verantwortlich gemacht werde.“
„Das ist mir doch egal. Ich will meinen Eltern helfen, jetzt wo sie in Not sind. Sag was du willst: Ich komme mit, klar!?“
Die anderen Männer schauten Joe mit überredenden Blicken an, bis Joebert letzten Endes nicht mehr anders konnte.
„Also gut, du lässt ja eh’ nicht locker.“
„Na also, geht doch.“
Emilio lenkte die Aufmerksamkeit der beiden wieder auf das Wesentliche.
„Also, Leute, da sich das turtelnde Paar nun einig ist, würde ich sagen, lasst uns mal ans Eingemachte gehen. Also, wir haben den Treffpunkt des Deals und wir sind zu viert. Die Ganoven sind voraussichtlich nur zu zweit, was ein Bonus für uns wäre, aber wir können zumindest nicht darauf zählen, dass es auch so bleibt. Fest steht wohl, dass wir am Treffpunkt sein müssen, bevor die Gauner uns erwarten und ohne, dass sie darauf gefasst sind, sich zur Wehr zu setzen. Joe, wo, hat der Typ am Telefon noch mal genau gesagt, wird der Treffpunkt sein?“
„In Portymont, auf dem alten Fabrikgelände von Networx.“
„Netzworx Corporation?“, fragte Mario posaunend?“
„Ja, genau das meinte er.“, bestätigte Joe, „Sagt dir der Name was?“
„Ja klar doch. In der Firma hab ich früher mal gearbeitet, als sie noch in Betrieb war!“
„Wirklich?“
„Ja. Ganze fünf Jahre lang. War ‘ne recht lässige Arbeit. Ich war als Netzwerk-Administrator angestellt. Mal saß ich vorm’ Computer, dann verkabelte ich die Rechner vom Firmennetz miteinander. Ich hätte den Job eigentlich heute noch gemacht, wenn die Firma nicht in die Pleite geraten wäre. Sie mussten komplett dichtmachen und alle Arbeiter, eingeschlossen mir, kündigen. Da musste ich mir natürlich was anderes suchen. Wisst ihr was? Ich hab’ sogar noch alte Pläne vom Firmengelände.“
„Aber hallo,“ staunte Joe verblüfft, „das kommt doch wie gerufen. Anhand davon können wir gleich die Lage peilen. Die musst du sofort herbringen!“
„Das heißt, wenn ich sie noch finde. Ich hab’ sie seit der unfreiwilligen Kündigung nicht mehr gebraucht. Wartet mal.“
Mario stand auf und ging in sein Zimmer, das gleichzeitig auch sein kleines privates Büro war, welches er in seinem Job als Vertreter von Schweizer Taschenmessern öfters benutzte. Man hörte ihn im Gestöber wühlen und alle zwei Minuten wieder ‘Ich hab’s gleich!’ rufen hören. Nach über zehn Minuten und fünf ‘Ich hab’s gleich’-Rufen kam er wieder mit einem Wisch von der Sonne leicht verblichener Blätter in der Hand und Schweiß auf der Stirn zurück zu seinen Freunden und stöhnte:
„Puuh! Ich dachte fast, ich würde das Zeug nicht wieder finden. Also, jetzt schaut’ euch den Plan mal an. Der ist ziemlich aufschlussreich. Das hier ist nun die besagte Halle 12, unser Treffpunkt, wo höchstwahrscheinlich auch Anitas Eltern gefangengehalten werden. Wie ihr seht, ist diese Halle gerade ungefähr im Zentrum der Anlage, was wahrscheinlich beabsichtigt ist. Es wird daher nicht leicht sein, dort ranzukommen, weil eventuell außerhalb des Komplexes schon Wachen postiert sein könnten. Die müssten wir dann entweder überwältigen, ausschalten oder besser, umgehen. Was die Aktion zusätzlich erschwert, ist die Tatsache, dass sich um das ganze Gelände herum ein hoher und extrem spitziger Maschendrahtzaun zieht, den zu überwinden es schier unmöglich ist. Es gibt nur ein einziges Tor, das früher mal die Einfahrt darstellte. Wenn sie dass nicht schon aufgebrochen haben, sollten wir das jedoch ebenso mit Leichtigkeit schaffen. Wenn wir Glück haben, dann sind inzwischen schon ein paar Einrisslöcher entstanden, die man nur noch ein bisschen aufreißen müsste. Zur Sicherheit sollten wir vielleicht ‘nen Bolzenscheider mitnehmen.“
-„Wie groß ist das Gelände denn überhaupt?“, wollte Joe wissen.
„Nicht gerade so klein.“, gab Mario zur Antwort, „Ich schätze mal, dass es eine Fläche von ungefähr zwei Quadratkilometer umfasst. Das könnte also ein langer Marsch werden. Ich würde sagen, wir sollten uns aufteilen, so dass jeder von einer anderen Seite kommt, was haltet ihr davon?“
Alle waren einverstanden, nur Joe legte Veto ein:
„Ich halte das für keine so gute Idee. Für uns Männer mag das ja in Ordnung sein, allein zu gehen, da wir alle groß, kräftig und stark sind, aber eine so kleine und zierliche Frau wie Anita, könnte mit den Fieslingen allein leicht Probleme bekommen.“
„Joe hat Recht.“, stimmte ihm Rod zu, „Es könnte für sie schon gefährlich werden, wenn sie auf sich allein gestellt ist.“
Anita wurde sauer.
„Sagt mal, was habt ihr denn alle, ich hab doch schon mal erklärt, dass ich mich selber wehren kann, dank Judo. Ich brauch Euch da nicht.“
„Na gut,“ sagte Joe, „aber auf Deine Verantwortung.“
„O.k.“, meinte Rod, „Dann müssen wir ihr eben zur Hilfe eilen, falls mal was passieren sollte.“
Die Anderen waren einverstanden.
„Also,“ ,fuhr Mario fort, „wir gehen folgendermaßen vor: Wir dringen zuerst einmal alle zusammen über das große Tor in das Gelände ein, oder, wenn möglich, über ein Loch im Zaun. Wenn wir dann drin sind, teilen wir uns auf, das heißt jeder für sich von einer anderen Seite. Nun schaut euch nochmal den Plan an. Der Vorteil am dem Gebiet ist, dass es gerade zufällig ein Fünfeck ist, und dass man sich daher schlecht verirren kann und nicht in Versuchung gerät, im Kreis zu laufen, weil es ja keiner ist. Am besten machen wir es so, dass jeder von euch aus einer anderen Ecke kommt. Wer genau aus welcher, spielt keine allzu große Rolle, weil sowieso auf jeder Seite alles symmetrisch aufgebaut ist...“
„Das können wir dann ja unter uns ausmachen, wenn es jemandem lieber ist, aus einer bestimmten Ecke zu kommen.“, unterbrach Rodriguez.
„Ja, einverstanden.“, gab Mario recht. „Ihr kommt also jeder aus seiner Ecke, schleicht euch zum Zentrum, also einfach schräg den Weg entlang, dann kommt ihr automatisch zur Halle 12, außerdem sind die Hallen aufsteigend der Reihe nach durchnumeriert. So schließen wir unsere Feinde systematisch ein, vorausgesetzt sie halten sich alle in Halle 12 auf. Sobald einer der Geiselnehmer auftaucht, schreit der- oder diejenige einfach so laut wie möglich und wir stürzen uns alle synchron auf ihn. Darauf schleichen wir uns der Reihe nach in Halle 12 und schauen, dass wir die Geiseln irgendwie da raus kriegen. Das wars eigentlich dann eigentlich soweit mit meinem Plan.“
Emilio, der öffentliche Reden von seinem Beruf als Wochend-Seminarleiter her gewohnt war, übernahm wieder das Wort.
„Danke Mario, für diesen Lageplan. Habt ihr dem noch was hinzuzufügen?
Niemandem schien mehr etwas einzufallen.
„Gut, in dem Fall verbleiben wir so. Alles andere können wir dann später klären. Hat noch jemand irgendwelche Fragen?“
Keiner hatte etwas auszusetzen, und Joebert bemerkte lachend:
„Ein schlichtweg simpler, aber genialer Plan. Hätte gerade von mir sein können.“
„Also wie soll’s jetzt weitergehen?“, fragte Mario, „Ich persönlich würde mal sagen, dass wir uns morgen früh gleich um fünf Uhr genau in der Mitte zwischen Sanston und Azimuth treffen, also an der Kreuzung Lain- und Opple-Road. Joe und Anita, ihr stellt dann am besten euren Wagen dort ab und fahrt in unserem Jeep mit, denn mit einem Auto können wir notfalls schneller fliehen als mit zweien.“
„Das ist ja alles in Ordnung, aber ist fünf nicht ein bisschen früh? Wir müssen uns schließlich noch von dem ganzen Stress des vergangenen Tages erholen!“, beschwerte sich Rod, der wie immer die faule Rolle einnahm.
„Von welchem Stress willst du Dich denn erholen?“ bemerkte Emilio stichelnd, „Vor allem musst du musst bedenken, dass wir nicht wissen können, wann die Ganoven schon da sind, oder wann sie aufstehen, falls sie in der Halle schlafen. Zudem brauchen wir mindestens eine ganze Stunde bis Portymont und wenn dir diese Aktion wichtig ist, dann gib Dir bitte ein einziges Mal in deinem lahmen Leben als Langschläfer und Arbeitsloser einen Ruck und steh um fünf Uhr auf. Ansonsten kannst du gleich daheim bleiben.“
„Na gut, wenns denn sein muss.“, murrte Rod träge wie immer. „Dann lassen wir es bei der Zeit.“
„Gut,“, schloss Emilio, „wenn alle einverstanden sind, und keiner etwas gegen dieses Vorhaben einzuwenden hat, dann beenden wir mit diesen Worten unsere Sitzung. Es wird hoffentlich bei der Einen bleiben.“
„Sonst müsstest du dich ja ein zweites Mal so geschwollen ausdrücken.“, spöttelte Rodriguez.
„Sowas gehört einfach zu einer fachlichen Lagebesprechung dazu, du Arsch!“, konterte Emilio und lenkte gleich ab:
„Wollt ihr noch auf ein Bier zum Mut antrinken bleiben, Anita und Joe?“
„Nee du, danke,“, widerstrebte sich Joe, „Wir sind lange genug hier herumgehockt und es wird schon spät. Außerdem müssen wir uns für morgen sammeln, oder, Anita?“
Anita nickte einverständlich.
„Tja, dann müssen wir drei eben einen ohne euch heben. Dann macht’s mal gut bis morgen früh. Und seid bloß pünktlich.“, äußerte Emilio streng.
„Klar doch, machen wir.“, entgegnete Joe und verabschiedete sich mit einem Handzeichen. Anita tat ihm nach und sie traten beschwungen nach draußen, fest in der Hoffnung, dass sich am nächsten Tag alles ändern würde.
In der darauf folgenden kurzen Nacht konnten Anita und Joe beim besten Willen nicht einschlafen. Sie hatten zwar davor noch ausgiebig zu Abend gegessen (nichts, was in der Nacht auf den Magen schlägt), jedoch hatten sie viel zu große Erwartung von und Angst vor dem kommenden Tag. Die ganze Nacht über, bis in die frühen Morgenstunden hinein redeten sie größtenteils nur über ihr Vorhaben am folgenden Tag, was sich dann so anhörte:
„Was meinst du,“ fragte Anita, „haben wir überhaupt eine Chance gegen die Fieslinge?“
„Ich weiß auch nicht so recht. Ich denke, auf Emilio und seine Kumpels kann man schon bauen.“, erwiderte Joe.
„Ich hoffe es. Lassen wir uns einfach überraschen.“
Erst als die ersten Sonnenstrahlen den Horizont küssten, brachten sie zumindest ein Auge zu.
Am nächsten Morgen dann spekulierten sie noch ein allerletztes Mal über die Lage:
„Denkst du immer noch, wir können es schaffen?“, fragte Anita mit zweifelhaftem Unterton.
„Ich weiß echt nicht, kann sein, kann aber auch nicht sein. Auf jeden Fall muten wir uns hier einiges zu.“
„Da hast du Recht. Ich hab’ echt solche Angst um meine Eltern. Vielleicht überleben sie diese Sache nicht einmal.“
„Komm’, mach’ dir da mal keine Sorgen. Überleben werden sie’s auf jeden Fall. So hart sind die Erpresser nicht.“
„Und wenn doch?“
„Dann gnade uns Gott.“
Mit diesen Worten ließen Joe und Anita vorerst die Ungewissheit hinter sich und brachen auf, um endlich Klarheit zu schaffen und die Lage zu ändern.
Als die beiden circa eine halbe Stunde später die Kreuzung Lain- und Opple Road, dem gemeinsamen Treffpunkt, erreichten, warteten ihre drei Freunde bereits auf sie.
„Morgen, allerseits!“, grüßte Emilio freudig. Er war absolut kein Morgenmuffel, Joe und Anita allerdings schon, darum hoben sie nur beiläufig die Hand zum Gruße. Emilio nahm es ihnen nicht übel.
„Los, steigt ein!“, rief er ihnen zu.
Joe und Anita stellten eilig ihren Wagen ab und taten das. Als sie das Wageninnere betraten, merkten sie erst, dass Mario und Rodriguez schon wieder pennten. Sie mussten eine harte Nacht hinter sich gehabt haben. So fuhren sie dann los, auf den Tatort zu, mucksmäuschenstill, um die beiden Schlaftabletten nicht zu wecken. Nach circa einer Stunde einschläfernder Fahrt kamen sie in Portymont an. Keine Menschenseele befand sich auf der Strasse. Die Ortschaft war wie ausgestorben. Nun steuerte Emilio zielgerichtet auf das alte Fabrikgelände zu und parkte zur Sicherheit hinter einer hohen und breiten Böschung, um nicht von möglichen wartenden Halunken entdeckt zu werden. Mario und Rodriguez wurden schon vor der Ankunft einheitlich geweckt, da alle einstimmig der Meinung waren, dass das besser wäre, damit sie wieder rechtzeitig bei klarem Verstand sein würden, um in den Kampf zu ziehen. Sie waren inzwischen wieder recht fit, abgesehen von ihren geschwollenen Augen. Nun stiegen sie einer nach dem anderen auf das verlassene Territorium aus. Es war ihnen allen noch völlig unklar, wie dieses Szenario enden würde.
Vorsichtig schauten sie sich um und peilten erst mal die Lage: Es war noch so gut wie stockdunkel. Weit und breit regte sich nichts, außer ein paar zu früh zirpenden Grillen, die vielleicht von ihnen erweckt wurden.
Sie hätten es eigentlich nicht mehr nötig gehabt, eine Einsatzbesprechung abzuhalten, denn schließlich hatten sie alles am Tag zuvor besprochen. Allerdings hatte Emilio noch etwas Wichtiges zu verkündigen.
„Leute, passt mal für einen Augenblick auf. Ich hab Euch noch was wichtiges zu übergeben, für den Fall, dass wir uns völlig verlieren; und zwar hab ich für jeden von Euch hier ein kleines Walkie-Talkie, klein aber oho. Die Dinger sind so konstruiert, dass wir auf einer Frequenz funken können, die Anderen unzugänglich ist. Sie sind absolut abhörsicher dank der besten Abschirmung. Die Frequenz ist schon fest eingestellt, ihr müsst das Teil also nur noch hier einschalten,“ (er zeigte auf einen kleine Schalter) und es dann wie jedes andere Funkgerät mit diesem Sendeknopf hier benutzen. Wenn es möglich ist, dann flüstert, wenn ihr in Not seid, nur kurz ‘Hilfe’ und dazu noch, wo ihr euch befindet. Wenns Schlag auf Schlag geht, dann haben die Geräte noch zusätzlich einen Morseknopf. Drückt einfach nur zweimal kurz. Dann weiß jeder gleich bescheid, und wir müssen denjenigen nur noch finden. Alles klar?“
Alles nickte zustimmend. Emilio teilte die Walkie-Talkies aus. Sie zogen los. Zu allererst suchten sie den Zaun nach potentiellen Schlupflöchern ab. Das dauerte eine ganze Weile, der Größe des Gebietes wegen. Wie der Zufall es wollte, ließ sich auf der anderen Seite, vom Startpunkt aus gesehen, ein zwar schmaler, sichelförmiger, aber mindestens ein Meter langer Spalt auffinden.
„Toll, und wie sollen wir da jetzt durchkommen?“, bemerkte Anita argwöhnisch. „Sollen wir uns vierteilen?“ -„Nee, nee. Nicht nötig. Für den Fall solcher Fälle hab’ ich natürlich ein universelle Lösung dabei: meinen ausklappbaren Bolzenschneider.“, verdeutlichte Emilio und packte sein Wunderwerkzeug aus. Er betätigte einen runden roten Knopf und ein massive Zwinge fuhr aus dem Halter aus. Unmittelbar darauf setze er mit dieser direkt am Loch im Maschendrahtzaun an und zwickte eine Masche nach der anderen durch. Das wiederholte er so oft, bis das Loch weit und hoch genug war, um den fettesten Sumo-Ringer gemütlich durchspazieren zu lassen; aus Sicherheitsgründen natürlich. Die Anderen standen nur gelangweilt daneben und fragten sich, wie lang er dafür noch brauchen würde. Schließlich stiegen sie alle hintereinander durch, Anita besonders zaghaft. Darauf gingen sie vor wie geplant: Jeder nahm seine Ecke ein und so schlichen sie Stück für Stück auf das Zentrum zu. Jeder hatte Angst um den Anderen, da sie sich gegenseitig nicht sahen. Nach einer Weile des schweigenden Dahinpirschens trafen sich Anita, Joe und Emilio.
„Wo sind Rod und Mario?“, flüsterte Emilio.
„Keine Ahnung, Mann“, flüsterte Joebert zurück.
Erst eine Minute später trafen auch die Beiden miteinander ein.
„Das war ja einfach!“, stolzierte Mario.
„Das sagst ausgerechnet du!“, entgegnete Emilio spitz. „Ihr habt ja am Längsten gebraucht.“
„Leute, ist doch jetzt egal. Wir müssen uns beeilen.“, brachte Anita sie zur Vernunft. Alle stimmten ihr zu. So widmeten sie sich dem zweiten Teil der Mission. Vor Halle zwölf standen sie schon mal. Nun drückte Joe vorsichtig den Griff der Hallen-Eingangstür hinunter. Komischerweise war sie nicht verschlossen. Noch vorsichtiger spähte Joe in die Halle hinein. Er bat die Anderen, fürs Erste draußen zu warten, bis er sich Klarheit verschafft hatte, ob die Luft rein war. Er betrat zaghaft das Innere und schaute sich um: Er konnte in der leeren Halle sofort einen am Boden schlafenden Mann erkennen, war sich aber nicht sicher, ob es sich dabei um Herbert handelte. Er kam ein paar Schritte näher und Joe begriff: Das war ein Wächter. Da dieser aussah, als könnte ihn nichts aus der Ruhe bringen, entschloss sich Joe, weiterzuschreiten. Ganz hinten befand sich ein kleiner Nebenraum. Dort vermutete er Anitas Eltern. Er schlich sich am Wächter vorbei, um dort hineinzuspähen, wollte die Tür öffnen, Fehlanzeige. Der Schlüssel konnte nur im Besitz des Wächters sein, soviel stand fest. Joe betrachtete den Schurken näher. Aus seiner Hand schaute tatsächlich ein kleiner, matter Schlüssel. Joe überlegte. Er konnte nicht sicher wissen, wie tief der Schlaf des Wächters war. Da half nur Ausprobieren. Ohne einen Vor-Testlauf streckte Joe seine Hand nach dem Schlüssel aus und zog sachte daran. Keine Reaktion. Er zog stärker. Wieder nichts. Ein kräftiger Ruck, um den Schlüssel des Fingergriffes des Mannes zu entziehen. Der Schlüssel klirrte bestialisch. Joe hatte ihn fest im Griff. Doch der Wächter war in seiner Nachtruhe gestört. Er drehte sich auf die andere Seite und murmelte apathisch „Mein Schlüssel, wo is mein Schlüssel.“ Joe wartete Weiteres ab. Nichts kam mehr. Der Aufpasser war wieder in murmeltierartigen Schlummer versunken, was seinem rostigen Schnarchen zu entnehmen war. Joe fackelte keinen weiteren Augenblick; er begab sich postwendend in Richtung Nebenraum. Um sicherzugehen, riskierte er ein halblautes, fragendes „Wer ist da drin?“
Als Antwort kam etwas, dass sich anhörte wie „Hmm, hmm, mm!“ Den Inhalt außer Acht gelassen konnte Joe eindeutig die geknebelte Stimme Herberts aus diesen Urlauten herausfiltern.
„Warte Herbert, ich hol dich da raus!“, gab Joe bekannt.
Er brachte unverzüglich den eben ergatterten Schlüssel zum Einsatz. Er paßte tatsächlich, die Tür machte mit einem fast zu lauten Stöhnen bekannt, dass sie nun offen stand. Joe schaute sich um. Herbert lag an allen Gelenken gefesselt sowie geknebelt am Boden, er atmete laut. Joe bückte sich zu Herbert hinunter, zückte sein Original Schweizer Taschenmesser mit Flaschenöffner, Zahnstocher und Pinzette und machte sich an die Entfesselung. Herbert hielt die ganze Zeit über still, doch als Joe begann, das doppelseitige Klebeband abzuziehen, das sich an seinem Schnauzer verhangen hatte, schrie er lauthals auf.
„Bist du wahnsinnig;“ warnte ihn Joe, „oder willst du, dass sie uns schnappen?“
-„Natürlich nicht. Joe, bist du das?“, erwiderte Herbert ängstlich.
„Ja, ich bin’s.“
„Wie hast du mich gefunden?“
„Das ist eine zu lange Geschichte. Wo ist Herty?“, fragte Joe, immer noch gebückt neben Herbert, der vor schmerzenden Gelenken noch nicht aufzustehen vermochte.
„Ich weiß es nicht. Sie haben sie glaube ich in eine andere Halle verschleppt.“
„Wie viel von den Verbrechern sind noch auf dem Gelände?“, fragte Joe weiter.
„Ich glaube drei, so weit ich mich entsinnen kann.“
„Scheiße!“
„Übrigens: Danke fürs Entfesseln.“
„Keine Ursache, jetzt müssen wir aber Herty finden.“
„Ja, unbedingt.“
Sie huschten so leise wie irgend möglich am Wächter vorbei. Jetzt erkannte Joe, dass es Mac war. Als sie gerade an ihm vorbei kamen, wachte dieser urplötzlich auf. Kaum darauf war er wieder voll bei Bewusstsein und schrie:
„Du schon wieder! Ich hab dich Weichei doch erst vor kurzem zusammengeschlagen, und jetzt willst du dir auch schon wieder meine Geisel holen, und das ohne Lösegeld! Pass bloß auf, Bursche!“
Mit diesen Worten zog er ein Butterfly-Messer heraus und ließ die Klinge spicken. Das war Joe zu riskant. Er konnte da mit seinem Schweizer-Messer nicht mithalten. Sofort rief er seine Freunde per Morsezeichen, die immer noch abrufbereit am Eingang standen.
Blitzartig schnellte das Tor. Joes Kumpanen und Freundin sahen alle gleich was los war und stürmten herein, direkt auf Mac zu. Dessen Angriffslust war plötzlich verflogen. Er war völlig baff und fuchtelte ängstlich mit seinem Messer herum. Doch das brachte ihm in dieser Lage so wenig wie eine Dusche unter Wasser. Emilio schlug ihm mit einem ultimativen
Karate-Punch mit der geballten Faust das Messer aus der Hand, das flugs scheppernd zu Boden fiel. Mit dem nächsten Schlag direkt ins Gesicht brach Emilio Mac ein paar Zähne aus dem Kiefer. Er hielt sich den Mund, verzog vor Schmerz das Gesicht und geriet etwas ins Schwanken. Trotzdem, oder sogar angetrieben vom Schmerz setzte sich Mac, vollgepumpt mit Adrenalin, heftig zur Wehr und schlug unkontrolliert um sich, wobei ihm Speichel und Blut aus den Mundwinkeln troffen. Nun war Rodriguez mit seiner Kung-Fu-Akrobatik an der Reihe. Er nahm zehn Meter Anlauf, und kurz vor Mac angelangt setzte er über zum Sprung, aus dem heraus er einen zerstörerischen Halbkreis-Kick in der Luft ausführte. Dabei traf er Mac nacheinander erst in den Bauch, dann auf die Brust und letzten Endes aufs Kinn. Man hörte seinen Kiefer knacken und durch die Wucht des Schädelaufprall verlor er fürs Erste das Gleichgewicht und somit den Bodenkontakt. Mit einer Wucht von Einer Rohrbombe prallte der Riese (2.20) gen Boden. Als er dort angekommen war, wurde er sofort von Emilio in den Würgegriff genommen, so dass ein Wieder-Aufstehen unmöglich war. Rod wollte sich gleich Klarheit verschaffen. Er schrie Mac an:
„So, du Drecksack, und jetzt sag uns mal, wo die Frau untergebracht ist!“
„Vergiss es!“, stöhnte Mac unnachgiebig.
„Muss ich erst gewalttätig werden?“, brüllte Rod noch lauter, den Würgegriff enger schnallend.
Das Stöhnen verwandelte sich in ein ärmliches Krächzen:
„Mach ruhig, ich sag’s Dir trotzdem nicht! Und euch anderen genauso wenig!“,
„Los!“, schrie Rod. „Sag’s mir, oder ich zieh dir noch eine rein!“
„Niemals“, schnaufte Mac schwerfällig.
Emilio gab ihm noch einen Kinnhaken und donnerte:
„Ist es dir so lieber?“
Mac ächzte vor Qual.
„Lass diesen Scheiß!.“, würgte er jetzt, „Na gut, ich weiß es selber nicht.“
„Willst du mich verarschen?“
„Nein, wirklich! Meine Kollegen haben’s mir nicht gesagt!“
Rod wollte gerade zum zweiten Schlag ausholen, als Mario ihn zurückhielt:
„Rod, lass ihn in Ruhe. Wir werden die Frau auch so finden.“
„Na gut.“, gab Rod nach, „Dann lasst uns aber keine Zeit verlieren und sie augenblicklich suchen. Wir gehen wieder so vor, wir hier zu Halle 12 gekommen sind. Wenn ein weiterer der Lumpen kommt, gilt wieder das gleiche wie vorher. Herr Dexter, sie kommen mit mir mit!“
„Okay.“
So begaben sie sich wieder ins Gelände und klapperten jede einzelne Halle ab. Auch bei den restlichen Hallen war keine einzige abgeschlossen. Zuerst machte es den Eindruck, als ob sich die Gangster mit Herty aus dem Staub gemacht hatten. Über zwanzig Hallen waren bereits erfolglos durchsucht, als Mario plötzlich einen leisen Funkspruch an alle losließ:
„Helft mir!!! Halle 18!“
Unvermittelt scharten sich seine Freunde in Richtung Halle 18 zusammen. Anita war die erste, die ankam. Sie warf sich seitlich ans Tor und spähte um die Ecke. Sie sah Mario gleich, der von Dick, Macs Kumpanen festgehalten und mit einer MG bedroht wurde. Solange die Anderen noch nicht da waren, versuchte sie, die Aufmerksamkeit von Dick auf sich zu lenken. Mehr traute sie sich im Angesicht dieser Wumme im Augenblick wirklich nicht. Kess rannte sie einmal auffällig am Hallentor vorbei. Blitzartig ließ Dick, der dies aus den Augenwinkeln heraus beobachtet hatte, von Mario ab und begab sich in die Richtung, wo Anita hingerannt war. Nur fand er dort niemanden, denn sie hatte sich längst um die Ecke der nächsten Halle gehievt. Dummerweise spitzelte noch ein Bändel ihrer Jacke heraus, den Dick gleich entdeckte und in die diese Richtung rannte. Anita war noch nie dumm gewesen, realisierte diese Bewegung umgehend und rannte schräg eine Halle weiter. Dick im Gegensatz dazu war vom vielen Genuss alkoholischer Getränke unlängst verblödet und checkte die Veränderung nicht gleich, sputete zunächst zur falschen Halle, bis er mitkriegte, wo Anita war, die sich nun schon wieder hinter der nächsten befand. So ging dieses Spiel noch eine ganze Weile weiter, ich habe keinen blassen Schimmer wie lang; ich weiß nur, dass die Spielzeit ausreichte, dass Anita irgendwann in einer Halle verschwinden konnte und dass Joe, Emilio und Rodriguez alle zusammenfanden, zufällig das offene Tor der Halle sahen, in der Mario bedroht wurde und gleich einstürmten.
Mario, der, während Anita verfolgt wurde, aus Angst nur noch tatenlos in der Halle stand, empfing die drei gleich stürmisch.
„Ihr müsst unbedingt mitkommen, Anita wird gerade von Dick verfolgt, sie wollte ihn von mir ablenken.“
„Wo ist sie jetzt?“, fragte Joe bestürzt.
„Ich weiß nicht genau, ich hab nur noch mitbekommen, dass sie in diese Richtung abgehaut sind und ich hatte plötzlich solche Angst davor, mit zu rennen, dass ich nur noch hier bleiben konnte, tut mir echt leid.“
„Ist ja gut, Mario.“, beruhigte ihn Joe, „So was kann jedem mal passieren. Wichtig ist jetzt nur, dass wir Anita gleich finden, bevor Dick ihr was zufügt.“
Joe wollte gerade wieder den Mund aufmachen, um etwas zu sagen, als ein leises, weibliches Wimmern aus einem offensichtlich zusammengepressten Mund ertönte.
Herbert, der das bisherige Treiben schweigend ertrug, erkannte die Stimme sofort.
„Herty!?“, stellte er fragend. Die Stimme ohne Mund formte etwas, dass sich ganz nach „Mm.“, also ja anhörte. Emilio hatte auch eine Taschenlampe dabei, schaltete das Gerät ein und leuchtete in die Richtung aus der die Stimme kam. Und da war Herty, ganz in der Ecke verstaut und zusammengekauert, ebenfalls an Händen und Füßen gefesselt, mit einem völlig angestrengten Ausdruck im Gesicht. Die Freunde zauderten nicht lange und machten sich daran, sie zu entfesseln. Anita hielt ihre Mutter fest, während Joe mit seinem Schweizer- und Emilio mit seinem türkischen Messer ihre Stricke durchtrennten und ihr schließlich die Binde vom Mund nahmen. Endlich konnte Herty wieder reden:
„Herbert, Joe, ein Glück, dass ihr da seid, ich hatte ja solche Angst.“
„Haben sie dich arg schlecht behandelt, Schatz?“, ängstelte Herbert.
„Ja, sie stießen, zerrten und quälten mich, es war soo schlimm!“, jammerte Herty.
„Du tust mir ja soo leid.“, beruhigte Herbert sie.
Die beiden kamen schnell aus ihrer glückseligen Stimmung heraus, als Herty auffiel, dass Anita fehlte.
„Herrgott, wo ist meine Tochter?“
Joe besänftige sie, etwas von der Realität abweichend.
„Mach Dir mal keine Sorgen, sie kommt gleich.“
Kaum hatte er das gesagt, hörte man schon von weitem eine weibliche Stimme rumoren:
„Wohin, verdammt noch mal, bringen sie mich und was haben sie dort mit mir vor?“ Diese erschreckte Stimme gehörte eindeutig Anita. Herbert und Herty waren wie vom Blitz getroffen und vor Schreck erstarrt.
„Ich bring dich zu ner anderen Geisel, und lass dich überraschen, was dort mir dir geschehen wird!“, zeterte Dick.
Was dort mit Anita geschehen wäre, muss ich ihnen als bisher treue Leser leider vorenthalten, denn dank unserer tapferen Helden kam es erst gar nicht so weit. Die Dinge liefen anders als von den Verbrechern geplant: Dick kam wie gesagt mit Anita um die Ecke der Gefangenenhalle herum. Er steuerte auf das Hallentor zu, hielt der armen und unschuldigen Anita eine Knarre direkt an die Schläfe, war gerade im Begriff, die Halle zu betreten, um genau das mit Anita zu machen, was er für sie vorgesehen hatte, und erstarrte unwiderruflich in seiner Bewegung. Dick wollte nicht wahrnehmen, was sein körpereigenes Sehzentrum ihm da ans Gehirn lieferte. Man muss das echt einmal aus seinen Augen betrachten. Er kommt also gutgelaunt mit seiner Beute am Beutedepot an, will nichts anderes, als gemütlich den frischen Fang, der ja wieder zusätzliches Lösegeld bedeutet, sicher beim bisherigen Fang mit unterbringen, und dann stehen da vier halbwüchsige, gerade mal erwachsene Hanswurste, die mit seinen restlichen Geiseln, welche so schön gefesselt waren, inzwischen aber befreit sind, dastehen. Da würde doch jedem anderen Verbrecher auch der Kragen platzen. Dick ließ sich diesen Anblick und diese bodenlosen Tatsachen nicht gefallen. Er kam den Helden auf die gute alte Geiselnehmer-Methode daher: Aggressiv und gewalttätig drückte er Anita, die inzwischen mächtig ins Schwitzen gekommen war, die Waffe (eine Walter PK47) an den Hals, drückte sie ihr fest ins Fleisch und schrie aus voller Kehle:
„Gebt mir die beiden Gefangenen zurück, oder ich schieße dieser Hure hier die Halsschlagader auf, dass es nur so spritzt!!“
Das Rettungsteam um Herbert und Herty war im ersten Moment schwer bestürzt, dann beherrschen sie sich und fingen an, angeregt zu flüstern. Schließlich lösten sich Herbert und Herty vom Team und gingen freiwillig auf Dick zu. Der freute sich selbstverständlich über diese schnelle Einsicht und gab Anita kund:
„Mädchen du kannst gehen. Ich brauch dich nicht mehr.“
Anita ging sofort zu den Anderen in Sicherheit zurück. Herbert und Herty blieben artig bei Mac stehen. „So, ihr alle, und jetzt verschwindet, oder ich knall euch alle ab!“, schnauzte Dick, „Und ihr zwei alten Leute kommt mit mir!“
Mit diesen Worten drehte er sich um und zerrte das Ehepaar siegessicher mit sich, an jeder Seite einen. Auf genau diesen Moment hatte Emilio gewartet. Wie zuvor beflüstert schlich er den Dreien hinterher, vergewisserte sich, dass Dick ihn nicht bemerkte, und schlug dann mit seiner rechten Faust mit voller Wucht dem ahnungslosen Dick hinterrücks auf den Hinterkopf. Der Schlag erzielte seine Wirkung. Dick ließ kraftlos seine Hände von Herbert und Herty und drehte sich mit dann mit letzter Kraft schwerfällig zu Emilio um, die PK47 auf ihn gerichtet. Diesen Moment des Umdrehens nutzte Emilio aus, um ihm die Waffe aus der Hand zu zerren. Dick wollte nochmals danach greifen, hatte jedoch keine Kraft mehr dazu, drehte sich um, sank nieder und blieb liegen. Alle hatten gerade gedacht, die Sache wäre überstanden, als wie aus dem nichts ein unbekannter Schurke am Hallentor auftauchte. Er hatte eine Uzi in der Hand und peilte gerade Emilio an. Er hätte Emilio locker töten können, doch auch dieser Schurke war nicht so reich mit grauen Zellen besetzt. Er drückte kurz ab, verriss die Waffe, und der Schussschwarm traf die einzig aus Scheiben bestehende Decke der Halle. Systematisch barsten die einzelnen Fensterquadrate und regneten hernieder, der größte Teil traf den Schützen selbst. Emilios Reaktion war zwar nicht die beste, aber im Gegensatz konnte er schießen. Er zielte kurz und mit einem einzigen genau bemessenen Schuss zwischen die Augen streckte er den Bösewicht nieder. Er sank wie ein Mehlsack in sich zusammen, ein Rinnsal verbleiten Blutes rann ihm die Nase hinunter.
Herbert und Herty waren die ganze Zeit über nur gebannt stehengeblieben. Nun fielen sie ihrem Retter Joe um den Hals und bedankten sich überschwenglich. Joe wehrte natürlich nur dankend ab. Er wollte eine bescheidene Figur abgeben. Dann schlossen sie ihre zurückerlangte Tochter in den Arm und begossen sie mit Freudentränen. Als sie damit fertig waren, sah man Herbert und Herty abseits zusammenstehen und tuscheln. Offenbar mussten sie etwas wichtiges ausdiskutieren. Schließlich hatte Herbert etwas wichtiges anzupreisen:
„Joebert, ich hoffe, du nimmst das an, was ich Dir nun zu sagen habe. Nachdem du mutig und selbstlos so viel für uns getan hast, möchte ich mich hiermit, auch im Interesse meiner Frau, für alles entschuldigen, was ich Dir in der vergangenen Zeit an Vorurteilen und Misstrauen entgegengebracht habe. Ich bin nun vollkommen von Dir überzeugt. In diesem Sinne möchten ich und Herty uns bereit erklären, es euch freizustellen, dass ihr heiratet; das heisst, sofern Ihr noch wollt.“
Joe und Anita schauten sich selbstverständlich an.
„Was ist denn das für eine Frage? Natürlich wollen wir noch!“, jauchzte Joe.
„Ist ja wohl klar!“, bekräftigte Anita.
„Wenn das so ist, dann erkläre ich Euch jetzt rein inoffiziell zu Mann und Frau. Und Joe, du bist jetzt unser lieber Schwiegersohn und darfst uns jetzt Schwiegermama und Schwiegerpapa nennen. Ihr dürft Euch jetzt knutschen!“
Joe und Anita fielen triumphal übereinander her und schienen sich gegenseitig nahezu auszusaugen. Ihre Freunde und Herbert jubelten und klatschten. Einzig Herty strahlte nur selig.
Joe hingegen wandte sich allmählich wieder seinen Freunden zu:
„Leute, haben die Idioten doch glatt überwältigt! Ich bin stolz auf uns!“
„Das war mir von Anfang an klar, dass wir die Aktion schaffen. Dank mir.“, beteuerte Emilio, hob den Kopf in die Höh und klopfte sich auf die Brust.
„Angeber!“, riefen alle im Chor.
„Ich weiss.“, gab Emilio zurück.
„Mili, auch wenn du ein Angeber bist, trotzdem danke für deine mutige Rettungsaktion.“, bedankte sich Anita, „Denn sonst hätte mich dieser Schwerverbrecher echt noch zerschossen.“
„Ist doch nichts zu danken. Für gute Freunde verhindert man doch mal ein Schüsschen. Oder auch zwei oder drei.“ (Anspielungen auf eine TV-Werbung sind hier rein zufällig.)
Mario erhob das Wort.
„Also, ich würde sagen, wir verschwinden jetzt besser von hier, bevor einer der Fieslinge auf die Idee kommt, wieder aufzustehen und um sich zu ballern.“
Alle waren prompt damit einverstanden. Und so machten sie sich alle miteinander vom Schlachtfeld bzw. vom Schauplatz der Liebe und waren glücklich, dass alles heil überstanden. Joe war froh, dass er durch diese Entführungsgeschichte doch noch erreicht hatte, was er sich immer schon gewünscht hatte.
Und so kam es, dass Joe und Anita letzten Endes doch noch in den heiligen Bund der drei Buchstaben eintraten. Sie vereidigten sich glamourös, festlich und mit viel hektischem Trubel, allen Leuten die sie kannten einschließlich Emilio und Co., vor dem Traualtar, auch wenn sie schon immer unchristliche Menschen waren. Aber wofür gibt es denn Ausnahmen?
Auf sein „Ja“ folgte jedenfalls, wie das Bitte auf das Danke, selbstverständlich Ihres, und so wurden sie dann zu Mann und Frau erklärt (was sie ja auch davor schon waren, nur mit dem Unterschied der Ehe zwischen ihnen). Die dabei überreichten Eheringe waren eher schäbig, da Joe sie in einem auf so etwas nicht gerade spezialisierten Brillengeschäft zu einem absoluten Schnäppchenpreis ersteigerte. Es musste eben schnell gehen, und da Joe, wie schon gesagt, als Fahrradkurier jobbte, war da vorerst nicht mehr drin (bei einem Nettoeinkommen von gerade mal 400 Dollar monatlich). Doch zum Glück war er schon dabei, sich etwas gehobeneres zu suchen; immerhin hatte er mit Anita noch mehr vor. Sie wollten sich möglichst bald einen sagenhaften Urlaub, vielleicht sogar eine halbe Weltreise als Flitterwochen gönnen, anschließend stand ein dickes Eigentumshaus auf dem Plan und irgendwann sollten noch Kinder mit ins Spiel kommen und ein echtes Spießerleben führen wie es sich in unserer Gesellschaft gehört. Eine lange Zeit noch wollten sie sich jedoch mit dem Akt begnügen, dessen Ausführung normalerweise zur Zeugung von Kindern dienen sollte.
Ein paar Jahre später ging’s für Joe dann beruflich wieder bergauf. Er war jetzt, nach einer langen und mühseligen Ausbildung staatlich anerkannter Webdesigner. Sein Einkommen sah deutlich gesünder aus als zuvor. Er konnte seine Frau locker verköstigen, die sich dadurch voll und ganz auf ihren neuen Beruf als emanzipierte Hausfrau konzentrieren konnte. Das eigene Haus stand schon in nächster Nähe. Von Kindern waren die Beiden immer noch ein ganzes Stück entfernt.
Emilio, Mario und Rodriguez wurden Joe’s und Anitas dicksten Freunde, der Kontakt hielt sehr lange Zeit; mit den Schwiegereltern funktionierte es ebenfalls prächtig. Joe hatte sich das immer viel schlimmer vorgestellt, doch die Dexters wurden so was wie seine zweiten Eltern. Er war auch so gütig und steckte ihnen etwas zu, damit sie endlich mal ihre alte Bruchbude renovieren und mit ordentlichem Mobiliar ausrüsten konnten, damit sie die längste Zeit zwei alte Penner in einer Baracke am Ende einer langen Strasse mit Bonzenvillen waren.
Und so lebten sie alle zusammen, wie sollte es anders sein, glücklich bis ans Ende ihrer Tage, Wochen, Monate und Jahre. Und wenn sie nicht schon alle gestorben sind, dann leben sie heute noch oder sind unsterblich.
Den Rest können sie sich ja denken.