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Das unsagbar Böse
Kurze Begriffserklärung:
Agent = Fluglinienangestellte, der Passagiere abfertigt
Bagtag = Kofferanhänger mit Strichcode und Flugdestination
Curbsideschalter = Check-In Schalter draussen an der Strasse (für Vielflieger)
People part = persönliche Anrede und Verabschiedung des Passagiers
Information part = Flugrelevante Infos
Senator = Vielflieger mit goldener Karte
Papier, Coupon = Flugticket
Samsonite = bekannte Koffermarke
Das unsagbar Böse
Es kündigte sich schon an. Dieses niedrige, kaum vorhandene Sonnenlicht im Morgengrauen, welches fast waagrecht in die Check-In Halle flutete, war eindeutig zu unschuldig, um wahr zu sein. Die Agents wussten das, sie spürten die Bedrohung und den Schauder. Jeder einzelne von ihnen. Die zwei an den Senatorschaltern tippten nervös ihre Passwörter in die Tastatur, ein paar Meter weiter, umgeben von verlassenen Schaltern, schob der Agent hinter dem einzigen Businessclassschalter zitternd den Schlüssel in das Förderbandschloß. Eine Schweißperle rollte nervös seine Schläfe hinab. Er schluckte trocken und drehte den Schlüssel im Schloß herum. Das ratternde Förderband trieb fünfzehn Schalter weiter den beiden Agents an den Economyschaltern die letzte Farbe aus dem Gesicht. Sie blickten sich, des nahenden Ende bewusst, an, und warfen dann einen Blick nach links, nur zwei Schalter weiter, aber Welten von ihnen entfernt, zu der tapferen, jungen Frau, die unter dem Schriftzug „Ferienflüge“ mit leeren Augen, die schweigend um Hilfe zu schreien schienen, ihren Blick erwiderte. Die beiden kannten sie nicht. Wohl eine ganz Neue, dachten sie. So ein armes Ding, noch so jung und schon auf diesem hoffnungsverlorenem Posten dem Entsetzen ausgeliefert. Gegenüber schob ein Ticketagent das schützende Panzerglas zur Seite und entfernte leise das „Geschlossen“ - Schild.
Irgendwie war es viel zu ruhig. Keiner traute sich ein Wort zu sagen, nur verzweifelte Blicke kreuzten sich, nach Rettung suchend, die nie kommen würde und sprachen stumme Bände. Blanke Angst. Dieses quälende Warten auf das Unvermeidliche. Jeden Augenblick konnte die Hölle losbrechen, das wussten sie mit Gewissheit. Es war einzig und allein eine Frage der Zeit, wann die trügerische Ruhe endete und das Inferno begann.
Und dann geschah es ganz plötzlich. Diese Schreie vom Curbsideschalter. Die Agents zuckten zusammen, ihre Lippen zitterten, einer hielt sich die Ohren zu. Welche Qualen raubten einem Menschen derart seinen Verstand, um so markerschütternd zu um sein Leben zu schreien? Welch grauenhafte Schrecklichkeiten passierten ungesehen hinter den Türen des Großgepäckschalters? Mein Gott, diese Schreie! Was taten sie ihm da draußen bloß an? Und wer war das? Wieviele? Nur eine Vorhut, oder schon der Generalangriff? Der Angriff schien jedenfalls unmittelbar bevorzustehen.
Als erstes gaben die äußeren Schiebetüren nach. Aus Bussen und Taxis strömten diese Kreaturen und aus dem Bauch der Busses quollen die Folterwerkzeuge psychologischer Kriegsführung: Überdimensionale Trolleys mit Tapetenmuster, Taschen, tonnenschwer, als Handgepäck getarnt, zusammengeklebte Kisten und noch unzählige andere widerliche Dinge, die jeglicher Beschreibung trotzten und jeden Handgepäcksrahmen sprengen sollten. Sie sammelten und organisierten sich draußen. Und dann öffneten sich die Höllentore und diese grausamen Dämonen der Finsternis griffen an. Die inneren Schiebetüren stoben auseinander und herein rollte, in einem Kinderwagen sitzend und ohrenbetäubendes Kriegsgebrüll kreischend, dieses strampelnde Ding, zweifellos ihr Anführer, das von einem großen weiblichen Sklaven geschoben wurde. Geradewegs auf den Schalter der „Ferienflüge“ zu. Viele Monate hatten hochbezahlte, prämienüberschüttete Weise über dessen Logo sinniert, gemessen und geplant, aber alles vergeblich, der brüllende Kinderwagen bewegte sich unaufhaltsam darauf zu und keine Kraft der Welt konnte ihn aufhalten. Die junge Frau hinter dem Schalter zitterte, umklammerte ihren ID-Karte und rezitierte in sich hinein, was man ihr in wochenlangem Drill bis auf Gedeih und Verderb eingetrichtert hatte: People part. Information part. People part. Und immer näher kam das rollende, rotzende Schleimmonster. Tausend Gedanken schossen der jungen Frau durch den Kopf. People part. Abwehrmaßnahmen. Kindergeschenke! Ruckartig drehte sie sich mit ihrem Sessel, um sich ein rettendes Kindergeschenk zu schnappen, nur um mit einer weiteren Facette des Grauens konfrontiert zu werden. Ihr Förderband war noch geschlossen. Das schreiende Ding mit dem weiblichen Sklaven, der plötzlich selbst noch einen weiteren männlichen, kofferschleppenden Sklaven an ihrer Seite hatte, rollte näher und näher. Panik stieg in der jungen Frau auf, sie griff mehr aus Instinkt, denn geplant, nach ihrer Tasche und durchwühlte sie nach dem rettenden Schlüsselbund. Sie fand ihn, zog ihn aus der Tasche. Jetzt waren sie fast da, das Kreischen war schon unerträglich und aus dem Augenwinkel sah sie, in äußerster Anspannung den richtigen Schlüssel suchend, wie der weibliche Sklave Papier aus ihrer Tasche zog. Papier für einen Ferienflug. Ihre zitternden Finger fanden mehr glücklich als aus Verstand den richtigen Schlüssel und stießen ihn ins Schloß. Daneben. Verdammt. Nur noch ein paar Meter, das schreiende Monster geiferte nach dem Ferienflugpapier und stachelte seine Sklaven an, schneller zu marschieren. Zweiter Versuch. Der Schlüssel rutschte ins Schloss. Schnell drehte sie ihn um. Sie glotzte erschrocken auf das stillstehende Förderband, das verfluchte Förderband, das sich eigentlich bewegen sollte und starrte dann zurück auf den Schlüssel. Warum bewegte sich dieses verdammte Band nicht? Der Kinderwagen wurde langsamer. Die Koffer kamen näher. Der Notausschalter! Die junge Frau schlug mit letzter Kraft auf den Schalter und das Förderband gab nach und öffnete sich. Sie atmete tief durch, blickte auf. Der weibliche Sklave hatte den kreischenden Anführer auf das Pult gehoben und schob ihr das Ferienflugpapier hin, während dem Anführer der Geifer aus dem Mundwinkel über die Strampelhose lief. People part. People part. Sie blickte hoch, blickte dem sabbernden Tod ins Gesicht und nahm das Papier. Und erst jetzt bemerkte sie die vollkommene Aussichtslosigkeit ihrer Situation, es war hoffnungslos.
Hinter dem auf sie herabsabbernden Anführer waren zahllose weitere Kreaturen und bildeten eine dicht gedrängte in allen Sprachen keifende, brüllende, übermächtige Schlange. Das unsagbar Böse hatte die Halle überrannt.
Es gab kein Entkommen. In Scharen fiel das Böse in all seinen erschreckenden Formen über die zahlenmäßig jämmerlich unterlegenen Agents her, deren einzige Waffen zur Verteidigung People part, Information part, People part, Kindergeschenke und Bordkarten waren. Das Böse drängte gegen die Schalter, lachend die gelbe Verteidigungslinie niedertrampelnd, zwängte sich mit blauen, frisch aus der Plastikpresse kommenden Vielfliegerkarten durch die Umzäunung der Senatorzone, gierig nach Flugzeugen, deren Kabinen aus einer einzigen Notausgangsreihe mit lauter Plätzen am Fenster bestehen mussten. Alle nebeneinander, selbstverständlich. Auch die Taktik der Ahnungslosigkeit wurde ungeniert eingesetzt, um die Agents an den Businessschaltern zu zwingen, auch touristische Schnäppchenflugdämonen mit Billigcoupons, die das Papier nicht wert waren, auf dem man sie gedruckt hatte, mit diversen Parts und fußfreien Plätzen nebeneinander zu versorgen.
Die junge Frau konnte man kaum noch ausmachen, umringt war sie, wie ein von Insekten umschwirrtes ein grelles Licht, dessen Quelle sie war, wurde sie gepiekt, gequält und gedemütigt, und die kriechende Masse reichte quer durch die Halle, wo sie sich mit anderen Schlangen vereinte und jeden Fluchtweg gnadenlos abschnitt. Den Angriff des sabbernden Anführers konnte sie gerade noch mit einem Kindergeschenk und einem Handgepäckslabel abwenden, doch dem Bösen sollten die Tricks nicht ausgehen und es forderte das Geschick unserer jungen Heldin bis an seine Grenzen und weit darüber hinaus. Sie versuchten es mit verkehrt abgeflogenen Coupons, verdrehten Identitäten und getürkten Sitzplatzreservierungen. Dem nicht genug, strapazierte das Böse, mit rhythmisch auf das Pult klopfenden Fingern, ihre Nerven und versuchte sie zu schnellerer Arbeit anzupeitschen. Andere versuchten hinterhältige Tricks, die jeder akzeptablen Form der Kriegsführung Hohn sprechen, und wendeten Nicht-Grüßen-und-mit-bösem-Blick-schauen oder Telefonieren-und-so-tun-als-ob-der-Agent-unsichtbar ist an. Doch wehrte sie sich tapfer und mit dem Mut der Verzweiflung.
Aber dann passierte zwei Schalter weiter das Unvermeidliche: ein Bagtagprinter segnete das Zeitliche und druckte aus Trauer über sich selbst nur noch tiefschwarze Trauertags. Der Agent, trainiert und ausgerüstet mit einem How-to-fix-it-youself-manual riss die Abdeckung auf und stürzte sich vor den Augen des Bösen in die Reparatur. Mit zittrigen Fingern hantierte er in den klebrigen Innereien des Geräts herum, unter dem kaum verkraftbaren Druck der immer näher rückenden tentakelhaften, klopfenden Spinnenfinger, dieser vielsprachigen, raunzenden Medusa, die sich bis zum Ticketschalter und darüber hinaus schlängelte, ihn mit einem babelgleichen Gewirr von Flüchen und Beschwerden eindeckte und ihm zugleich mit ihren unzähligen Röntgenaugen das Leben aus den Fingern sog. Der Agent hatte keine Chance, er musste die Technik zur Verstärkung rufen, und verlor wieder wertvolle Sekunden, die der Feind dazu nutzte noch mehr Zorn und Verderbnis auf ihn zu konzentrieren. Verzweifelt kletterte der Agent zum nächsten Schalter, worauf zwischen Verbänden des Bösen erbitterte Territorialkämpfe um den Bereich vor der gelben Linie ausbrachen und der Agent unter dem Pult in Deckung gehen musste. Einen Moment später knallte auch schon ein Vertreter des Bösen seinen Samsonite samt altem Bagtag um den Griff auf das noch geschlossene Förderband und zückte drohend auf ihn herabgrinsend eine blaue Plastikarte.
Und für einen wirklich kurzen Augenblick veränderten sich die Augen des Agents, verschwand das Lächeln aus seinem Gesicht und er sah die wahre Form des Bösen in dem hektischen Gewusel vor sich. Und ihm offenbarten sich Ideen, wie er es besiegen konnte. Doch noch bevor er den Gedanken zu Ende fassen konnte, beugte sich ein anderer Agent vom Nebenschalter zu ihm herüber und sagte: „People part. Information part. People part.“ Er drehte den Schlüssel um, und das Lächeln kehrte in sein Gesicht zurück. Während das Förderband ratternd den Koffer vor die Füße des Bösen zurückschob, dachte der Agent, dass dies erst der Beginn der Sommerferien war. Und sein Lächeln wurde breiter. Immer breiter. Glänzte da etwas Irres, Gefährliches in seinen Augen?
[ 02.06.2002, 20:23: Beitrag editiert von: Peter Koller ]