Mitglied
- Beitritt
- 13.03.2002
- Beiträge
- 15
Das Ungewisse
Dies ist die Geschichte von ein paar Leuten, die so weit weg von uns sind, daß es eigentlich ein Wunder ist, daß wir von ihnen wissen. Es ist nicht mehr möglich, genau zu sagen, wie die Geschichte zu uns gelangt ist, aber anscheinend muß es vor langer Zeit einmal eine Verbindung zu jenen Leuten gegeben haben, von denen unsere Geschichte hier handelt. Ich habe diese Geschichte unter genauso seltsamen Umständen kennengelernt, wie auch diese Geschichte von seltsamen Dingen handelt: ein alter Mann, dessen Stuhl, auf dem er saß, ebenso alt zu sein schien wie er selbst, erzählte sie mir, als ich auf einer Bergwanderung durch eine nahezu menschenleere Gegend unterwegs war. Ich kann mich noch gut an die ruhige und doch bewegende Abendstimmung erinnern, die mich erfaßt hatte, als ich hinter ein paar schroffen Felsen den letzten Schein der Sonne sah, der es gerade noch zuließ, daß ich in recht kurzer Entfernung die Hütte des alten Mannes entdeckte, wo ich mich auch bald zum Ausruhen niederließ. Die kratzige Stimme des Alten, der nicht sehr laut sprach, hatte mich begrüßt. Seine Augen lächelten mir aus seinem von Falten durchzogenen Gesicht entgegen. Als ich mich von meinen Stiefeln befreit hatte, fragte ich ihn, ob er nicht eine Geschichte kenne, die es wert sei, an einem solch wunderbaren Abend vorgetragen zu werden. Das hätte ich lieber nicht tun sollen. Wenn ich gewußt hätte, daß mich meine leichtfertige Bitte um meinen ruhigen Schlaf bringen würde, wäre ich vielleicht vorsichtiger gewesen. Der Alte lächelte ein wenig und begann, mit seinen langsamen, ausdrucksstarken und doch etwas müde machenden Worten seine Geschichte. Ich weiß nicht mehr, ob ich wirklich die ganze Geschichte von ihm gehört habe. Es kommt mir so vor, als sei ich zwischendurch manchmal dem Schlaf nahe gewesen oder sogar darin versunken, um wenige Augenblicke später wieder aufzuwachen. Welche Teile der Geschichte aus der Erzählung des alten Mannes stammen und welche Teile auf anderem Weg zu mir gelangt sind, kann ich nicht mit Bestimmtheit sagen, jedoch habe ich alles so klar vor Augen, daß ich, wenn ich es nicht besser wüßte, sogar behaupten würde, bei den Geschehnissen dabei gewesen zu sein.
Die Geschichte beginnt damit, daß wir etwas über die Leute erfahren, von denen die Geschichte handelt, um sie verstehen zu können.
Die Leute, von denen ich berichten möchte, sind sehr klein. Sie gehören zu einem Zwergenvolk, das seit vielen, vielen Generationen an dem Platz lebt, wo sie sich wohl auch heute noch befinden. In all ihren Legenden, die sie besitzen, sprechen sie von keinem anderen Ort, den sie bewohnt haben, als von dem, wo ihr tägliches Leben stattfindet. Und sie haben viele Legenden. Sie legen einen großen Wert auf Traditionen. Alles muß danach ablaufen, wie es schon immer war. Und sie waren damit immer glücklich gewesen. Überhaupt ist dieses Volk ein für unsere Verhältnisse ungewöhnlich glückliches Volk. Alles läuft harmonisch ab. Niemand kämpft gegen einen anderen oder mißgönnt seinem Nachbarn dessen Glück. Jedoch fällt ihnen dieses Glück keineswegs in den Schoß, wie unsere Geschichte auch zeigen wird, sondern muß sich von jedem einzelnen erarbeitet werden.
Die Zwerge teilen ihr Leben in genau bezeichnete Lebensabschnitte ein. Der erste Abschnitt ist der grüne. In diesem Lebensabschnitt lernen die Zwerge von ihren Eltern; sie lernen zum Beispiel das Laufen, das Essen und andere Dinge, die man mit seinem Körper tun kann. Wie auch bei uns sieht man bei den Zwergen oft die Kleinen beim Spielen zusammen, wo sie sich mit allerlei Dingen die Zeit vertreiben.
Zum Abschluß des grünen Lebensabschnitts gibt es ein großes Fest. Es wird ?die blühende Wiese? genannt, auf der überall grüne und gelbe Fähnlein aufgepflanzt sind, mehr aber noch gelbe, da dies die Farbe des nächsten Lebensabschnitts sein wird. Im Grunde genommen ist diese Feier ein Sportfest, auf dem sich die Zwerge, derentwegen das Fest begangen wird, in allen möglichen Disziplinen miteinander messen. Es ist ein wirklich großes Ereignis, was den Zwergen hilft, frohen Mutes den zweiten Lebensabschnitt zu beginnen.
Der folgende Lebensabschnitt wird also die gelbe Phase genannt, in der darauf Wert gelegt wird, daß die Zwerge ihre geistigen Fähigkeiten entwickeln. Sie lernen Lesen, Schreiben, Rechnen und zusätzlich andere Dinge, die ihren Talenten entsprechen. Das Zwergenvolk hat hervorragende Lehrer, die sich um ihre Schützlinge kümmern.
Wenn der gelbe Lebensabschnitt zu Ende ist, beginnt danach der rote. Dieser nimmt dann eigentlich kein Ende mehr, da man in dieser Phase sich in den Dienst des Volkes stellt und sich seine Arbeit widmet und diese auch genießt.
Bevor ein Zwerg allerdings in die rote Phase eintritt, muß er den Übergang von dem gelben Lebensabschnitt der Tradition gemäß vollziehen. Die Tradition aber sieht für diesen Übergang kein Fest vor, sondern eine ganz persönliche Erfahrung, die jeder einzelne Zwerg durchleben muß und von der diese Geschichte handelt.
Die Unterteilung in verschiedene Lebensabschnitte gibt es bei den Zwergen schon immer. Sie ist genau so alt wie der Ort, an dem sie wohnen. Keiner weiß mehr, wer damit angefangen hat. Und keiner fragt danach, sondern alle freuen sich an dem Segen, der aus dieser Tradition entspringt. In den Legenden wird das Leben eines Zwerges mit einer Frucht verglichen:
Wenn ich das Leben meiner Lieben vor mir sehe, dann sehe ich die Entwicklung einer überaus edlen Frucht. Ich sehe, wie sich aus einem winzigen, blaßgrünen Sproß eine Pflanze entwickelt, der man immer mehr das Potential ansieht, Großes hervorzubringen. Das ist die grüne Phase, in der man mit Freuden jedes einzelne Blatt willkommen heißt, in der man das Pflänzchen vor Wind schützt und Sonne und Regen zu seinem Wachstum herbeisehnt. Und doch weiß man, daß trotz der übergroßen Sorge und Anstrengung, die man verwendet, nichts und niemand auf der Welt solch eine Pflanze ohne Inanspruchnahme des größten aller Wunder hervorbringen kann.
Wie groß wird unser Erstaunen aber erst, wenn wir die Blüte an der Pflanze entdecken, erst als kleine, vom Grün umgebene Knospe, dann als sich dem Licht der Welt öffnende Pracht. Die gelben, zarten Blütenblätter blenden in der Sonne. Obwohl wir es erwarten konnten, ist es doch jedes Mal ein neues Erlebnis. Die gelbe Phase ist mit dem Frühling im Leben einer Pflanze vergleichbar. Jeden Tag möchte man zu der Pflanze laufen und die Entwicklung der Blüte verfolgen.
Dann ist die Zeit für ein weiteres Wunder gekommen, nämlich die Umwandlung der Blüte in eine Frucht. Die Blüte welkt, aber sie verliert nur ihre Blätter, um Platz für neues, besseres zu machen. Dann beginnt das Warten auf die Frucht. Schließlich erscheint sie und ihre rote Haut, die das Fruchtfleisch einschließt, ist wie ein Spiegel, in dem man sich selbst sehen kann.
Die Entwicklung einer Frucht ist das Ziel einer jeglichen Pflanze; die rote Phase glücklich zu verbringen, ist das Ziel eines jeden unseres Volkes. Ich weiß, wie kostbar jede einzelne dieser edlen Früchte ist.
(nach der Legende von Ki Pau)
Unsere Geschichte beginnt mit den Vorbereitungen eines Zwerges auf den Übergang von der gelben zur roten Phase. Diese persönliche Erfahrung wird auch als ?das Überwinden des Chi Tai Peh? bezeichnet. Der Chi Tai Peh ist der höchste bekannte Berg im Reiche der Zwerge. Jedoch geht es bei dieser persönlichen Erfahrung, die vor dem roten Lebensabschnitt steht, nicht in erster Linie darum, irgendeinen hohen Berg zu besteigen. Was genau in diesen Tagen geschieht, weiß eigentlich niemand, bevor er es nicht selbst erlebt hat. Und die, welche es erlebt haben, schweigen davon. Es soll für jeden, der es durchmacht, eine ganz neue Sache sein, von der er auch nicht das geringste Wissen hat, nicht einmal eine leise Ahnung.
Wu Chan war einer derjenigen, auf die dieses Ereignis bald hereinbrechen sollte. Allein der Beginn der Zeremonie, wenn das die richtige Bezeichnung ist, war ihm bekannt. Wu Chan hatte tausend Fragen. Würde ihn jemand prüfen, wie gut er war? Würde es einen großen Wettkampf geben? Er sagte immer und immer wieder den Titel vor sich her, mit dem die persönliche Erfahrung, die auf ihn wartete, in Worte gefaßt wurde: ?das Überwinden des Chi Tai Peh?. Was konnte das wohl sein? Nie hatte er solch eine innere Aufgeregtheit erlebt. Er hätte gern gewußt, wie er sich auf ?das Überwinden des Chi Tai Peh? hätte vorbereiten können. Doch alle in seiner Familie, die es schon hinter sich hatten, rieten ihm nur: ?Bleibe einfach du selbst. Verkrampfe nicht, denn es ist keine Prüfung, in der du durchfallen kannst.? Keine Prüfung, in der er durchfallen konnte? Hieß das, daß es sowieso egal war, was da passierte; war das alles nur ein großes Spektakel? Nein, das glaubte er nicht. Dafür hatte die persönliche Erfahrung einen viel zu großen Stellenwert bei jedem im Volk. ?Das Überwinden des Chi Tai Peh? war allgegenwärtig und doch wußte Wu Chan nichts davon, was ihn in irgendeiner Weise beruhigen konnte.
Endlich hatte er alle Sachen gepackt. Wenn man nicht gewußt hätte, welch große Sache vor der Tür stand, hätte man denken können, er fahre in die Ferien. Aber seine Stimmung hatte überhaupt nichts mit einer Ferienstimmung gemeinsam. Da war eine Mischung aus Freude und Bangen, Hoffnung und Furcht.
Wu Chan schaute sich ein letztes Mal in dem Raum um, den er schon immer als sein Zuhause bezeichnet hatte. Die gelben Wände, das hatten seine Geschwister versprochen, würden in einem wunderbaren Rot erstrahlen, wenn er von seiner persönlichen Erfahrung zurückkehren würde. Würde er neben der anderen Farbe auch sonst den Raum mit anderen Augen wiedersehen? Die Ungewißheit zermarterte ihn. Nie zuvor hatte er solche Gefühle erlebt. Sein Verstand sagte ihm, daß er keine Furcht zu haben brauchte, doch seine Gefühle wirbelten durcheinander. Was, wenn etwas ganz bestimmtes von ihm erwartet werden würde und er würde dies nicht erkennen und somit allen - vor allem aber sich selbst - eine Enttäuschung bereiten? Waren diese Gedanken vielleicht schon ein Teil der persönlichen Erfahrung, die er machen sollte? Doch gab es sicherlich noch einen Unterschied zwischen dem, was man tagtäglich als Erfahrung sammelte und dem ?Überwinden des Chi Tai Peh?.
Dann war es soweit, daß er mit einigen seiner Freunde am Sammelplatz stand. Von hier würden sie einen Hu Ran besteigen, eines jener Flugobjekte, mit dem man weite Entfernungen zurücklegen konnte. Die Schwingen dieses Gefährts waren aus einem Material, dessen Härte dem des uns bekannten Stahls gleich war und das dennoch eine solche Elastizität aufwies, daß die Schwingen ihrem Namen wirklich alle Ehre machen konnten. Ein Hu Ran in einiger Höhe war nur von einem geübten Beobachter von einem gewöhnlichen Vogel zu unterscheiden.
Wu Chans Freunde standen heute vor dem gleichen Ereignis wie er selbst. Und doch sah er unterschiedliche Reaktionen. Manche standen in Kreisen zusammen und diskutierten heftig, andere saßen auf ihren Gepäckstücken und blickten nachdenklich umher. Wu Chan schlenderte über den Rand des Landeplatzes für den Hu Ran, in der Hand hatte er seine Sonnenmütze, die er hin und her wendete. Er ging an den verschiedenen Gruppen vorbei; hier ein freundlicher Blick als Gruß, da ein Schlag auf die Schulter, aber alle merkten, daß er im Moment allein seine Runde drehen wollte, und so ließen sie ihn. Natürlich ging es in den meisten Gesprächen darum, was in den nächsten Tagen auf sie zukommen würde. Einige erzählten von ihren Vermutungen, die sie aufgrund von Beobachtungen ihrer älteren Geschwister hegten; sie erzählten, wie lange sie damals nicht zu Hause waren, in welcher Verfassung sie zurückgekehrt waren, und, und, und. Waren das nicht alles Ablenkungsmanöver, von dem, was sie tatsächlich erleben würden? Alle Vermutungen brachten doch nur ihre Fragen, die dadurch kein bißchen beantwortet wurden, zum Schweigen, dachte Wu Chan.
Einige ältere Zwerge, die die jungen Zwerge auf ihrem Weg zu ihrer persönlichen Erfahrung begleiten sollten, standen etwas abseits und warteten geduldig auf das Eintreffen des zugesagten Hu Rans. Sie lächelten in sich hinein, wenn sie ihre Blicke auf die erlebnishungrige Meute warfen. Der Himmel wußte, was sie dachten. Was hätten einige der Teilnehmer bei dem bevorstehenden ?Überwinden des Chi Tai Peh? alles dafür gegeben, diese Gedanken zu ergründen. Doch niemand unternahm auch nur den kleinsten Versuch in diese Richtung. Die Spielregeln, wenn man sie so nennen konnte, waren allen klar und wurden von jedem akzeptiert. Auflehnung gegen ihre Tradition war jungen Zwergen genauso fremd wie den älteren. Das war eine der ganz frühen Lektionen, die sie gelernt hatten.
Ein Geräusch, das aus der Ferne kam, weckte Wu Chan aus seinen Gedankengängen. Er drehte sich um und sah in nicht allzu großer Entfernung einen Hu Ran auf den Landeplatz zuschweben. Es war ein elegantes Luftfahrzeug, das große Erfinder der Vergangenheit möglich gemacht hatten. Wu Chan bewunderte die Leichtigkeit der Bewegung. Sicher gehörte großes Können dazu, einen Hu Ran zu fliegen. Da erst fiel ihm auf, daß dieser Hu Ran gelbe und rote Streifen hatte. Alles, aber auch alles wies auf die Großartigkeit und Einzigartigkeit dieses Tages hin. Ein leichter Schauer lief Wu Chan über den Rücken. Es war schon jetzt anders, als er sich diese Zeit vorgestellt hatte.
Es dauerte ein paar Minuten, bis alle Zwerge mitsamt ihrem Gepäck im Hu Ran verstaut waren. Dann ein kontrollierender Blick des Zwerges, der das Unternehmen leitete, und ab ging?s. Fast jeder von ihnen war schon in einem Hu Ran mitgeflogen. Normalerweise war Fliegen eine gute Gelegenheit, Schlaf nachzuholen. Und dazu hätten sie jetzt allen Grund gehabt, denn die Sonne war erst seit einer halben Stunde aufgegangen, und als sie aufgestanden waren, war es noch stockfinster gewesen. Doch wer konnte jetzt schon schlafen? Obwohl die Sessel, in denen sie die nächsten Stunden verbringen würden, sehr bequem waren, fühlte sich Wu Chan etwas unbehaglich. Er rutschte hin und her, eine angenehme Sitzposition suchend, doch er war zu aufgeregt, um sich so richtig wohl zu fühlen. Anderen ging es scheinbar genauso. Die Gespräche fingen wieder an, nachdem für wenige Momente Stille, ja fast Andacht geherrscht hatte. Bald würde das große Abenteuer beginnen. Ehrfurcht vor diesem Unternehmen ließ Wu Chan erbeben. Was würde er erleben? Wie würden die Ereignisse der folgenden Tage ihn verändern? Würde er lernen? Alte und neue Fragen durchfluteten ihn. Er mußte seine Hände festhalten, damit sie nicht anfingen zu zittern.
Er hörte, wie bei manchen schon die Zeit nach der persönlichen Erfahrung eine Rolle in ihren Worten spielte. Klar, jeder wußte mehr oder weniger, wie sein Leben nach dem ?Überwinden des Chi Tai Peh? weitergehen würde. Was sie aber nicht wußten, war, wie die kommenden Tage sie beeinflussen würden und wie sie damit weiterleben würden. Das ganze Leben lag noch vor ihnen, und somit war ihnen natürlich klar, welch immense Bedeutung die persönliche Erfahrung für sie hatte.
Wu Chan konnte es bald nicht mehr aushalten; er wollte sofort damit beginnen, seine persönliche Erfahrung zu sammeln. Doch er wußte, daß ihn nichts um das Warten herum brachte. So zwang er sich, seine Gedanken um Dinge kreisen zu lassen, die ihn im Moment eigentlich gar nicht interessierten, wie zum Beispiel die Schönheit des Landes, das unter ihm lag und das er von seinem Platz aus durch ein Fenster sehen konnte.
Wie alles endete auch dieser Flug. So weit war wohl noch niemand von ihnen geflogen. Inzwischen waren sie in einem Gebiet, das Wu Chan genauso unbekannt war wie die Gedanken, die ihn an diesem Tag bisher begleitet hatten. Nachdem sich der Hu Ran auf dem Landeplatz niedergelassen hatte, kletterten alle aus ihm heraus und blickten erwartungsfroh in die Landschaft hinaus. Um sie herum gab es nichts als Wald. In der Nähe waren Hügelketten zu erkennen. Alles schien unberührt zu sein. Kamen etwa nur Zwerge hierher, die ihre persönliche Erfahrung machten?
Als alle den Hu Ran verlassen hatten und auf die wenigen Häuser zugegangen waren, die am Landeplatz lagen, kamen ihnen von dort ein paar Leute entgegen, von denen einer sie herzlich auf Ri Wau Tan begrüßte, einer Insel, die dem Festland vorgelagert war, auf dem das Volk der Zwerge in der Mehrheit wohnte. Der Flug über das Wasser mußte Wu Chan entgangen sein, aber er freute sich, in solch wundervoller Umgebung die nächsten Tage zubringen zu können. Sie erfuhren, daß Ri Wau Tan eine Insel des ewigen Sommers war, auf der es von Leben nur so wimmelte. Es wurde eine kurze Begrüßung. Danach wurde jeder, der mit dem Hu Ran gekommen war, von einem Zwerg von Ri Wau Tan willkommen geheißen. Der Zwerg, der Wu Chan persönlich begrüßte, hatte ein breites Lachen auf seinem von der Sonne gezeichneten Gesicht und sagte: ?Mein Name ist Yan Chen, und ich werde dein Begleiter zu dem Ort deiner persönlichen Erfahrung sein.? Wu Chan drückte ihm kurz die Hand und erwiderte das Lächeln von Yan Chen, wenn auch nicht mit der gleichen Intensität. ?Ich würde sagen, es kann losgehen. Brechen wir dahin auf, wo deine ganz persönliche Erfahrung stattfinden wird.?, kam Yan Chen gleich zur Sache. Er wies auf eines der im Hintergrund stehenden Hu Wak. Ein Hu Wak war ein Hu Ran in Kleinformat, zwar in etwas anderer Bauweise, aber auch ein Fluggerät. Es wurde vor allem für kürzere Strecken eingesetzt, da man mit weniger Platz zum Landen auskommen konnte. In einem Hu Wak war es nicht ganz so gemütlich, aber darauf zu achten, hatte Wu Chan jetzt keinerlei Zeit und Muße.
Ein letztes Mal winkte Wu Chan seinen Freunden zu, die ebenfalls dabei waren, einen Hu Wak zu besteigen. Wie würden sie sich alle wiedersehen? Dann hob der Flieger ab. Yan Chen war ein geübter Pilot, was man nicht nur an seinen akkuraten Handgriffen bemerkte, sondern auch daran, daß ihm das Fliegen sichtlichen Spaß bereitete. Doch sehr gesprächig war er nicht; nur sein breites Lachen gab seinen Gefühlen Ausdruck. Wu Chan stand der Sinn aber auch keineswegs nach Unterhaltung. Er war in seinen Gedanken anderswo. Ja, wo waren seine Gedanken eigentlich? Überall und nirgendwo.
Nach einer kurzen Zeit überquerten sie erneut Wasser. Dieses Mal konnte es Wu Chan nicht entgehen, da er ganz vorn an der Frontscheibe saß. Flogen sie zurück aufs Festland? Nein, das glaubte er nicht. In einiger Entfernung tauchte Land auf, von dem Wu Chan annahm, daß es eine Insel war. Es sah traumhaft aus, wie sich das blaue Meer an das Ufer der Insel warf. Schließlich waren sie für ein paar Minuten über der Insel hinweggebraust, als in weiter Ferne tatsächlich ein schmaler Streifen Blau auftauchte, der nur von Wasser stammen konnte. Nun war es soweit, daß Yan Chen den Hu Wak wieder Richtung Erdboden brachte. Ein letzter Flug über die Wipfel, dann hatten sie eine Schneise erreicht, die sich ein paar hundert Meter entlangzog, gerade lang genug, um sicher landen und wieder starten zu können. Der Hu Wak kam plötzlich zum Stehen. Yan Chen und Wu Chan kippten fast aus ihren Sitzen. Sie sprangen aus dem Gefährt und Yan Chen erklärte: ?Von hier sind es noch fünf Minuten bis dahin, wo ?das Überwinden des Chi Tai Peh? für dich beginnen wird. Folge mir einfach!? Gesagt, getan. Yan Chen bewegte sich mit schnellen Schritten vorwärts, durch das Dickicht des Waldes hindurch. Es waren keine Wege zu erkennen. Wirklich eine Wildnis. Das Kribbeln in Wu Chans Bauch war wieder da. Doch war er wesentlich ruhiger als noch auf dem Flug nach Ri Wau Tan.
Nach der von Yan Chen genannten Zeit waren sie an den Rand einer fast kreisförmigen Lichtung gelangt. Von hier aus bot sich ihnen ein herrlicher Ausblick auf einen kleinen Berg. ?Das ist die höchste Erhebung der Insel?, beantwortete Yan Chen den fragenden Blick von Wu Chan.
?Jetzt ist die Zeit gekommen, in der deine persönliche Erfahrung beginnt.?, setzte Yan Chen neu an, ?Bedenke, daß es eine heilige Zeit ist, die dir für dein ganzes Leben Nutzen bringen soll. Behalte alles, was dir während der nächsten Tage widerfahren wird, im Gedächtnis. Schließe die Erfahrungen, die du sammeln wirst, in dein Herz ein, so daß du sie nie verlierst und nie jemandem davon erzählst, denn es liegt ein besonderer Zauber auf den Erfahrungen, die du machen wirst, der vergeht, wenn du anderen etwas davon mitteilst. Ich kann dir nur von mir sagen, daß ?das Überwinden des Chi Tai Peh? in meinem Leben etwas war, was mich bis heute beeinflußt hat und mich auch weiterhin beeinflussen wird. Du wirst von mir einen Auftrag bekommen, aber denke nicht die ganze Zeit nur an diesen Auftrag. Das ist nicht das Ziel dieser Tage, sondern nur ein Mittel zum Zweck. Natürlich ist es wichtig, daß du dich bemühst, ihn zu erfüllen, aber denke darüber nach, was dieser Auftrag bedeutet.? Yan Chen holte vorsichtig etwas hervor. ?Hier in meiner Hand habe ich eine Blume. Sie wird die ?Blume der Verheißung? genannt. Sie hat einen ganz besonderen Duft und einen ebenso wundersamen Zauber, der ihr innewohnt. Diese gelbe Blume sollst du auf einen Berg bringen, den du sehen wirst, wenn du diesen Berg dort vor uns besteigst und mittags mit deinen Augen der Richtung der Sonne folgst. Dort wächst eine rote Blume, deren Zauber mindestens so groß wie der Zauber dieser gelben Blume ist. Diese Blume bringe hierher und ich verspreche dir, daß du, wenn du dies tust, Erfahrungen für dein ganzes Leben gesammelt haben wirst. Nun nimm diese Blume aus meiner Hand und geh! Ich wünsche dir von Herzen alles gute und eine lehrreiche Zeit.?
Yan Chen reichte Wu Chan ein letztes Mal die Hand und gab ihm die gelbe Blume mit den sonderbaren Blütenblättern, die vielleicht ein Teil des Geheimnisses des Zaubers waren. Dann drehte sich der Zwerg mit dem breiten Lachen um und verschwand, ohne sich nochmals umzusehen, im Dickicht des Waldes. Wu Chan wollte ihm noch ein ?Danke!? hinterher rufen, doch es blieb ihm im Halse stecken, so beeindruckt war er von der Atmosphäre dieses Augenblicks. Jetzt war es also soweit. Es gab kein Warten mehr. Er konnte seine persönliche Erfahrung beginnen. Er hatte nicht unbedingt sehr lange auf diesen Tag gewartet, doch auf jeden Fall in letzter Zeit voller Ungeduld ihn herbeigesehnt.
Der Auftrag, den er erhalten hatte, schien ihm nicht besonders schwer zu sein. Auf Wanderung war Wu Chan schon oft gewesen, auch mehrere Tage lang. Den Berg mit der roten Blume zu finden, klang auch nicht gerade schwierig. Doch ihm kam in den Sinn, daß Yan Chen zu ihm gesagt hatte, daß der Auftrag nur das Mittel zum Zweck sei. Aber zu welchem Zweck? Er konnte es nur herausfinden, wenn er sich aufmachte und losging. Also gab er sich einen Stoß und überquerte die Lichtung. Die Sonne strahlte direkt über ihm unbarmherzig auf die Erde nieder. Es mußte ungefähr Mittag sein. Die Lichtung war nicht groß, und auf der anderen Seite erwartete ihn wieder Wald, der ihn vor der Hitze der Sonne schützen würde. Und doch war die Sonne, auch wenn er sie durch den dichten tropischen Wald fast nie sehen konnte, da, um ihm Licht zu spenden. Sie war sozusagen ein unsichtbarer Begleiter. Manchmal würde sie durch die hohen Baumwipfel hindurchschauen, wie, um ihn zu beobachten. Als Wu Chan auf der Mitte der Lichtung war, drehte er sich nach der Richtung um, aus der er kam, um seinem alten Leben Auf Wiedersehen zu sagen. Er blickte kurz in die Sonne und wandte sich wieder seinem Ziel zu. Auf der Lichtung gab es neben dem saftiggrünen Gras ein paar kleinere Sträucher, doch nirgendwo entdeckte Wu Chan eine Blume, die der in seiner Hand ähnelte. Er schaute sich diese Blume genauer an, während er dem Ende der Lichtung entgegenging. Das Gelb ihrer Blütenblätter strahlte in der Sonne. Er führte die Blume an sein Gesicht heran, um ihren Duft einzuatmen. Als der Duft in seine Nase eindrang, erinnerte er sich daran, daß Yan Chen auf ihn hingewiesen hatte. Gleichzeitig durchströmte ihn ein Gefühl der Stärke. Es war ihm, als wolle die Blume Verbindung zu ihm aufnehmen. Doch konnte er außer dieser Verbundenheit nichts genaues spüren. Das mußte der Zauber sein, den Yan Chen erwähnt hatte. Und er hatte gedacht, daß es mehr eine Weisheit gewesen sei, ein Sinnbild oder dergleichen. Daß die Wirklichkeit tatsächlich von diesem Zauber erfüllt war, erstaunte ihn. Er fühlte, wie der Duft in sein Bewußtsein einströmte. Alle Farben um ihn herum erschienen ihm plötzlich kräftiger. Fast mußte er den Blick abwenden, so sehr stachen ihm das Grün des Grases und das der Bäume sowie das Gelb der Blume ins Auge. All seine Sinne wurden zur höchsten Sensibilität angestachelt. Auch seine Gedanken wurden klarer und kräftiger. ?Ist dies der Zauber der Blume, der mich berühren soll??, dachte Wu Chan. Sollte dies dazu dienen, daß er sich selbst kennenlernte?
Jetzt erst hatte er die Lichtung überschritten, an deren anderem Ende er noch vor wenigen Augenblicken mit Yan Chen gestanden hatte, und war in Gedanken doch schon meilenweit gereist. Wieder roch er an der Blume, und von neuem durchlief ihn eine Energie, die den Anschein hatte, direkt aus der Blume zu kommen. Wie kann es eine solche Blume geben? Alles, was er gelernt hatte, widersprach der Erfahrung, die er gerade machte. Was du gelernt hast, ist nicht alles, was es gibt. Es gibt Dinge, von denen du noch nicht einmal geträumt hast, daß es sie gibt. Nimm zum Beispiel mich. Wo kamen diese Gedanken her? Wu Chan wußte nur, daß es nicht seine Gedanken waren. Ihm kam ein Verdacht. Hatte er nicht vorhin das Gefühl gehabt, als wolle die Blume Verbindung zu ihm aufnehmen? Ja, die Blume mußte sich in seine Gedanken gemischt haben. Das war phänomenal! Hast du etwa geglaubt, es gäbe nur die Sachen, die du sehen und anfassen kannst? Das war eine gute Frage. Die Wahrheit war die, daß er eigentlich nie darüber nachgedacht hatte.
Wu Chan versuchte, die Richtung einzuhalten, von der er glaubte, daß sie ihn zu seinem ersten Ziel führen würde, nämlich zu dem Berg, von wo aus er sein endgültiges Ziel auf dieser Insel ansteuern konnte. Doch allmählich kamen ihm Zweifel. Wie konnte er beständig in die richtige Richtung gehen, wenn er nicht die ganze Zeit sein Ziel vor Augen hatte? Er dachte an die Sonne. Auch wenn sie ihre Position im Laufe des Tages wechselte, so konnte man mit ihrer Hilfe sicher einigermaßen sicher einen geraden Weg einschlagen. Zeitgefühl hatte Wu Chan; das war etwas, was er schon von klein auf gelernt hatte. Zeitmesser gab es nicht, weil niemand je in Eile war und von Kind an ein gewisses Zeitgefühl besaß. Das kam ihm nun zu Hilfe. Schwieriger war es da schon, den genauen Stand der Sonne herauszufinden, hier unter dem Dickicht der tropischen Bäume mit ihren dunklen grünen Blättern und allerlei Pflanzen, die zusätzlich das Licht rar machten. Es bedurfte einer regen Aufmerksamkeit, kleinste Anzeichen festzustellen, die ihm halfen, die Position der Sonne herauszubekommen. Mal um Mal brach sich doch ein Strahl durch den Wald, an dem er seinen Kurs ausrichten konnte. Siehst du, wie du von oben abhängig bist. Was würdest du tun, wenn Wolken den Himmel verdunkeln würden? Das war eine berechtigte Frage. Ja, was dann? Er befand sich zwar im Gebiet des ewigen Sommers, doch auch hier gab es neben Sonnenschein Regen. Genauso, wie der Wald die Sonne abhielt, auf den Boden zu fallen, nahm er auch den Regen als erster auf.
Langsam spürte Wu Chan, wie sich sein Magen meldete. Er bekam Hunger. Ein paar Lebensmittel hatte er in seinem Gepäck, doch es würde nicht lange reichen. Für einen Zwerg war dies allerdings kein Problem. Wie man in der Natur überlebt, war eine der Lieblingsaufgaben, die Zwerge lösten. So konnten sie ihre Findigkeit am besten unter Beweis stellen. Ja, es gab sogar Wettbewerbe, wer in einer gewissen Zeit am meisten eßbares aus der Natur zusammentragen konnte. Wu Chan war zwar nie einer der besten darin gewesen, aber hier in einer vor verschiedenen Pflanzen nur so wimmelnder Umgebung konnte es nichts leichteres geben, als sich an den Segnungen der Natur gütlich zu tun. Als Wu Chan ein kleines Rinnsal entdeckte, welches einen kleinen Hügel hinabfloß, setzte er sich auf einen Stein und benetzte mit dem Wasser, das er aus einer seichten Stelle des Rinnsals schöpfte, seine Zunge und sein Gesicht. Dann schaute er sich um und entdeckte viele Pflanzen, die denen ähnlich waren, die er von zu Hause kannte. Doch eben nur ähnlich und nicht gleich. Aber waren sie eßbar? Waren diese violetten, kleinen Beeren an dem Strauch da hinten zum Verzehr geeignet? Er war sich nicht sicher. Er war sich überhaupt nicht sicher, ob er seinem Wissen trauen konnte. Er öffnete sein Gepäck und entnahm ihm eine gelbgrüne Frucht, in die er sogleich hineinbiß. Er wußte, irgendwann waren seine Reserven aus, und dann mußte er wissen, was hier zu genießen war und was nicht. Ihm brach schon jetzt kalter Schweiß auf der Stirn auf, wenn er an diese Aufgabe dachte. Diese Aufgabe würde sich vielleicht als schwieriger erweisen, als die gelbe Blume, die er sich inzwischen an sein Hemd gesteckt hatte, auf einen Berg zu bringen und von dort eine rote Blume zurückzutragen. Hast du wirklich Angst zu verhungern? Glaubst du nicht an dich? Und schließlich: glaubst du nicht daran, daß du beschützt wirst? Du wirst es schon schaffen. Da bin ich sicher. Sein Verstand bezweifelte diese Gedanken, die in seinem Kopf dahinflogen, doch innerlich wurde er ruhiger.
Nachdem er sich gestärkt hatte, ging die Wanderung durch den Wald, den man an manchen Stellen ohne Übertreibung Dschungel nennen konnte, weiter. Er schritt wieder mutig aus und bahnte sich an den Plätzen, wo es nötig wurde, seinen Weg. Die Zuversicht, die ihm durch diese Blume zukam, half ihm, ohne Zögern seinen Auftrag weiter zu verfolgen. Er wußte aus Erfahrung schon, daß es gut war, wenn jemand an ihn glaubte. Doch in dieser Dimension hatte er es noch nicht erlebt.
Nach Stunden des Vorwärtsstrebens bemerkte er, daß das Gelände anfing, nach oben zu führen. War er am Fuße des Berges angekommen, welcher sein erstes Ziel war? Wie konnte er das herausbekommen? Manchmal muß man die Anstrengung auf sich nehmen, um einen Pfad bis zum Ende zu gehen. Nicht immer hat man es so einfach, aus der Entfernung beurteilen zu können, was am Ende liegt. Ist nicht das ganze Leben ein Ausprobieren von Wegen, ob sie schon von anderen gegangen sind oder nicht. Aber wenn es hier wenigstens ausgetretene Wege gäbe, die einem anzeigten, in welche Richtung man gehen soll. Ist es nicht einfältig, einen Weg nur deshalb zu wählen, weil andere ihn vor dir gegangen sind, vor allem dann, wenn du noch nicht einmal weißt, wer es war, der diesen Weg ausgetreten hat. Auf einem ausgetretenen Weg ist man unter Umständen einsamer als auf dieser Insel. ?Also soll ich den Weg einfach versuchen.?, dachte sich Wu Chan. Gut, damit war sein Entschluß gefaßt. Was konnte auch schon groß schiefgehen? Wenn er auf dem falschen Berg oder Hügel landen würde, hätte er immerhin einen Ausblick, der ihm neue Orientierung gäbe. Ich sehe, du hast mich verstanden. Präge dir diese Weisheit ein. Ich verheiße dir, du wirst sie noch oft gebrauchen können.
Es ging steiler und steiler bergauf, fast wie bei einem Vulkankegel. Nach und nach setzte die Dämmerung ein; erst recht langsam, dann immer schneller. Als die letzten Sonnenstrahlen, die durch das Dickicht zu scheinen pflegten, verschwunden waren, konnte man die Augenblicke fast an einer Hand abzählen, die vergingen, bis es dunkel war. Jetzt erinnerte sich Wu Chan daran, daß es in den Tropen gar keine richtige Dämmerung gab, sondern die Nacht unmittelbar auf den Tag folgte. Kalt würde es aller Voraussicht nach nicht werden. Der Boden und die Pflanzen hatten den Tag über soviel Wärme gespeichert, daß sie genug davon hatten, um sie in der Nacht wieder abzugeben. Dazu kam, daß die Kälte des Dunkels genauso schlecht in den Wald eindringen konnte wie die Hitze der Sonne tagsüber. Wu Chan suchte sich ein bequemes Plätzchen, soweit das im Dunkeln noch ging, und er holte aus seinem Gepäck die Utensilien heraus, die ihm schon des öfteren bei Übernachtungen im Freien gute Dienste geleistet hatten.
Schon lange war er nicht mehr so müde gewesen. Es war nicht nur die körperliche Anstrengung eines halben Tages, sondern auch eine geistige Anspannung, die sich bemerkbar machte. Er würde gut schlafen können, dachte er sich und schloß seine Augen. Ein leichtes Summen über ihm bewegte ihn dazu, seine Augen nochmals zu öffnen. Und was mußte er da sehen? Da war ein kleines Licht. Er versuchte, mit der Hand danach zu schnappen, aber das Licht bewegte sich aus seiner Reichweite und kam wieder heran, als er den Arm hatte niedersinken lassen. ?Was ist das für ein Geschöpf??, fragte sich Wu Chan. ?Ich bin ein Glühwürmchen!? tönte es leise. Jetzt verschlug es Wu Chan aber die Sprache. Ein Glühwürmchen?! Als Zwerg war man es gewohnt, daß viele Tiere größer waren; nur kleine Vögel, Mäuse und andere Tiere dieser Größenordnung machten da eine Ausnahme, und natürlich Insekten. Doch wer achtete schon auf Insekten? Und ein Glühwürmchen hatte Wu Chan noch nie gesehen, von einem sprechenden ganz zu schweigen. ?Was tust du hier?? fragte er einfach, nachdem er sich mit der Existenz dieses kleinen Lebewesens einfach abgefunden hatte. ?Ich bin hier, um dich zu bewachen.? Wu Chan mußte sich beherrschen, um nicht laut zu lachen. ?Mich beschützen??, fragte er dann, ?wie kannst du mich denn beschützen; und außerdem: wovor brauche ich hier Schutz?? ?Wenn dir jemand seinen Schutz anbietet, sollte man das nie geringschätzen. Wer von uns beiden ist denn zum ersten Mal auf dieser Insel?? ?Ist ja schon gut.?, brummte Wu Chan. Das Glühwürmchen war aber noch nicht fertig: ?Man kann immer einen guten Freund gebrauchen. Sich nur auf die zu verlassen, denen man selbst geholfen hat, kann verhängnisvoll sein. Das ist das gleiche, als würde man sich nur auf sich selbst verlassen. Einen Freundschaftsdienst von jemandem anzunehmen, dem man vielleicht nie zurückgeben kann, was man erhalten hat, erfordert Demut.? ?Hm, so habe ich das noch nie gesehen.?, mußte Wu Chan zugeben, ?aber wovor mußt du mich nun beschützen?? ?Ich muß dich vor deinen Träumen beschützen. Der Zauber der gelben Blume, die ich bei dir gesehen habe, hat nämlich eine Schattenseite. Tagsüber hilft sie demjenigen, der von ihrem Duft genossen hat, klare Gedanken zu fassen und mit dem Himmel in Verbindung zu stehen, aber nachts kehrt sich dieses Gute ins Böse. In deinen Träumen werden dich deine Zweifel verfolgen, deine Furcht vor Ungewißheit wird dich martern und Gedanken, die mit dir selbst ins Gericht gehen, werden deine Träume zu Alpträumen machen. Ich bin hier, um dich aus den Klauen dieser Macht zu befreien. Ich bin hier, daß du deinen Schlaf dazu nutzen kannst, Kraft für den nächsten Tag zu sammeln. Ohne mich würdest du wie ein Todkranker erwachen, krank an Körper und Geist.? Jetzt war Wu Chan sehr ruhig und nachdenklich. Wieso hatte ihm nichts bisher verraten, daß diese Gefahren auf ihn lauerten? ?Ich bin dir sehr dankbar für deine Gegenwart, Glühwürmchen.?, sagte er leise. Dann schlief er ein.
In seinen Träumen war nie viel los gewesen. Jedenfalls konnte er sich an nichts erinnern. War er noch wach oder befand er sich schon im Land des Schlummers? Auch hier bemerkte er, daß es keinen so klaren Übergang gab. Er sah den Dschungel um sich herum. Er blickte aufmerksam um sich herum. Was war das? Hatte sich da nicht etwas bewegt, dort, hinter dem Baum mit der langen, von oben herabhängenden Schlingpflanze? Die Schlingpflanze bewegte sich. Es war eine Schlange. Sie war tiefgrün und länger als jede Schlange, die er auf Bildern gesehen hatte; von denen, die er mit eigenen Augen gesehen hatte, wollte er gar nicht sprechen. Die Schlange blickte ihm in die Augen, öffnete ihren Mund und zischelte mit der gespaltenen, blutroten Zunge. Lauf weg! Das dachte er. Doch er konnte nicht. So sehr er sich auch bemühte, aber durch nichts konnte er seine Füße dazu bringen, sich zu bewegen. Er würde von dieser Schlange umgebracht werden, das spürte er deutlich. Wie sollte er seinen Auftrag erfüllen und mit der roten Blume zu Yan Chen zurückkehren? Mein Messer, dachte er, das würde jetzt helfen. Damit kann ich der Schlange begegnen. Doch er hatte es kaum in die Hand genommen, als seine Hand zu zittern anfing und ihm das Messer aus der Hand glitt. Nein! Lauf weg! Jetzt spürte er seine Beine wieder. Er ging rückwärts und stieß an einen Stein. Er drehte sich um und sah, daß der Stein sich bewegte. Oh, Hilfe, es war ein Krokodil, das seinen hungrigen Rachen nach ihm aufriß. Jetzt lief er voller Angst vor den beiden Ungeheuern weg, die ihm hinterherkamen. Als Zwerg war man nicht viel schneller und vor allem viel kleiner als diese Bestien. Nur nicht ins Stolpern geraten. Dann wäre alles aus. Er schaute ab und zu hinter sich, um sich zu vergewissern, wie groß der Abstand war. Er hätte nie gedacht, daß eine Schlange und ein Krokodil so schnell auf dem Land sein konnten. Er konnte es nicht verstehen. Er fragte sich immer wieder: wieso? Aber er konnte jetzt keine Antwort auf diese Frage bekommen. Er sah nur nach unten auf den Weg. Auf einmal hörte er vor sich ein gräßliches, ihm irgendwie bekannt vorkommendes Geräusch, das ihn gar nichts gutes ahnen ließ. Langsam und voller Angst hob er den Kopf und blickte direkt in das Gesicht eines ausgewachsenen Löwen, der, wie es aussah, gleich seine Zähne zeigen würde und sie auch zu benutzen gedachte. Er war gefangen. Gefangen von den Gefahren des Dschungels. Es gab keinen Ausweg mehr. In Gedanken schloß er mit seinem Leben ab, gab es auf.
Der folgende Augenblick machte ihn um Jahre älter. Alles wollte ihn verschlingen. Er konnte der Gefahr ins Auge blicken, sah aber keinerlei Möglichkeit, ihr zu entkommen. Im nächsten Augenblick sah er aus seinen Augenwinkeln ein gelbes Seil aus der Höhe auf ihn zufliegen. Es war eine belastbare Liane, an der jemand hing, den er aber so schnell nicht erkennen konnte. Einen Augenblick später hing er selbst an der Liane und schwebte erst nach der einen Seite und dann zurück zu dem Baum, aus dessen Richtung die Liane gekommen war. Wo aber war die Person, die vorher an dieser abgestorbenen und doch so ungemein festen Schlingpflanze hing? Jetzt konnte er sie sehen. Sie befand sich mitten unter den Ungeheuern, wo er eben selbst noch war. Dieser Jemand hatte ihn davor gerettet, verschlungen zu werden und hatte sein eigenes Leben dafür gegeben, weil die Liane für zwei Personen zu schwach gewesen wäre. Wer war imstande, solch ein Opfer zu vollbringen? Er wollte sich gerade von dieser Liane zum Boden gleiten lassen, als er erwachte.
Er fühlte den Schweiß am ganzen Körper, als sei er wirklich mit letzter Kraft gelaufen. Er bemerkte, wie ein leichter Schimmer von Morgenrot durch die Bäume drang. Er blickte sich um, um das Glühwürmchen zu entdecken. Es war schon einige Meter entfernt und dabei, davonzufliegen. ?Auf Wiedersehen. Wir sehen uns wieder.?, rief es noch. Wu Chan hätte es gern zurückgehalten. Ihm lag noch die Frage auf der Zunge, wer ihn da in seinen Träumen gerettet hatte. War es das Glühwürmchen selbst gewesen? Aber dieser Jemand war doch an seiner Statt gestorben. Er konnte es nicht verstehen. Nur eine tiefe Dankbarkeit war in ihm. Und er konnte schon jetzt den Abend nicht erwarten, um das Glühwürmchen auszufragen, denn dann erwartete er es zurück. Vielleicht kann mir auch die Blume etwas darüber mitteilen, dachte er bei sich, wir werden sehen. Er sah an sein Hemd, wo die gelbe Blume nahezu unversehrt steckte, und sog ihren immer noch kräftigen und frischen Duft ein. Doch kein Gedanke kam ihm, der eine Antwort auf seine brennende Frage war. Er spürte gar keinen Gedanken, der denen von gestern in irgend einer Weise ähnlich war. Also blieb alles am Glühwürmchen hängen. Dieses mußte ihm erklären, was in seinem Traum geschehen war.
Nachdem er aufgestanden war, hielt er Umschau nach eßbarem. Und tatsächlich fand er Dinge, bei denen er sicher war, sie ohne Furcht essen zu können. Nach seinem Frühstück brach er auf und bestieg den Gipfel des Berges, den er schon am vorangehenden Abend zur Hälfte erklommen hatte.
Und tatsächlich sah er vom Gipfel aus mehrere Berge in der Ferne, etwa zwei bis drei Tagesreisen entfernt. Daß er selbst auf dem richtigen, dem von ihm angepeilten Gipfel stand, konnte er einfach daran erkennen, daß es hier in der Nähe keine andere Erhebung gab. Er wartete bis zum Mittag, um ganz sicher zu sein, den Berg mit der roten Blume als nächstes und letztes Ziel vor dem Rückweg anzuvisieren. Die Sonne stand dann direkt über ihm. Welchen Berg konnte Yan Chen gemeint haben? Die Sonne zu Mittag zeigte in keine bestimmte Richtung. Sie stand im absoluten Zenit. Er hatte das noch nie gesehen, weswegen er auch nicht auf den Gedanken gekommen war, daß sich solch eine Schwierigkeit ergeben würde. Er stand mitten in der Sonne, warf selbst fast keinen Schatten und fragte sich, wozu er diesen Berg überhaupt hinaufgelaufen war. Man muß nicht immer in die Ferne schweifen, um das zu entdecken, was man sucht. Ah, da meldete sich die ?Stimme? der Blume. Doch sie sprach in Rätseln. Was meinte sie? War der Zauber wirklich noch genauso frisch wie am gestrigen Tage? Die Worte kamen ihm undeutlicher und verschwommener in den Sinn. Auf welchen Berg zeigt denn die Sonne? Ja, auf keinen; das hatte er nun auch schon festgestellt. Doch Ärger war etwas, was er jetzt am allerwenigsten gebrauchen konnte.
Er zwang sich, vernünftig zu denken. Kein Berg wurde durch die Sonne markiert. Was konnte das bedeuten. Seine Gedanken drehten sich im Kreis. Selbst seine Füße fingen an, im Kreis zu gehen. Die Hände am Kopf, sprach er zu sich selbst: ?Auf welchen Berg zeigt die Sonne?? Er sank nieder und wollte mit der Faust auf den Boden schlagen. Fast hätte er eine wunderbare Blume zerdrückt. Es war eine herrliche, rote Blume. Eine rote Blume? Eine rote Blume! War das Zufall? War das DIE rote Blume? Ja, ja, ja. Jetzt wurde ihm alles klar. Die Sonne stand direkt über ihm und zeigte auf diesen Berg, wo die rote Blume wuchs. Oft werden Ziele höher als nötig gesteckt, um die Freude des Erreichten um so stärker wirken zu lassen. Allerdings ist es auch so, daß, wenn man manchmal wüßte, wie nah man seinem Ziel ist, man nicht so schnell aufgeben würde. Vergiß nie, daß du deinem Ziel näher sein könntest, als du glaubst. Gib nie auf! Verzweifle nicht! Und: genieße das Erreichte!
Das brachte Wu Chan wieder in die Gegenwart zurück. Er blickte auf die rote Blume, entfernte sie vorsichtig vom Gras, das ihr so lange einen Platz gewährt hatte, schloß die Augen und nahm einen tiefen Atemzug, den schweren Duft in sich aufnehmend.
Als er die Augen wieder öffnete, war der Boden viele Meter unter ihm. Er hatte sich in die Lüfte geschwungen und drehte eine große Runde über der Insel. Auf einmal war etwas blinkendes neben ihm. ?Glühwürmchen!? rief Wu Chan erfreut. ?Ich wollte dich unbedingt fliegen sehen und an deiner Freude teilhaben.? ?Ich habe noch eine Frage an dich, Glühwürmchen. Du mußt mir sagen, wer mich in meinem Traum vor den wilden Tieren gerettet hat.? ?Wilde Tiere? Ich weiß nichts von wilden Tieren. Das einzige was ich weiß, ist, daß da, wo Licht ist, keine Finsternis sein kann. Lebewohl!? Das war das letzte, was Wu Chan vom Glühwürmchen zu hören und zu sehen bekam.
Einen Tag später war Wu Chan auf der Lichtung zurück, von der aus Yan Chen ihn in den Dschungel, in seine persönliche Erfahrung geschickt hatte. Er hatte den Chi Tai Peh überwunden. Yan Chen lächelte, als er ihn wiedersah und umarmte ihn.
Als er auf dem Rückflug nach Hause im Hu Ran saß, dachte er über die Geschehnisse nach und fragte sich, was er tun könnte, um diese Erfahrungen nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. Das alles erschien ihm wie ein Traum, auch wenn er tief im Innern wußte, daß es der Wahrheit entsprach. Da entdeckte er an seiner Kleidung ein kleines rotes Blütenblatt einer kleinen wunderbaren Blume. Er nahm es mit nach Hause und behielt es bei sich alle Tage seines Lebens.
Das ist das Ende der Geschichte von Wu Chan, dem Zwerg. Ich war dem alten Mann dankbar, daß er mir diese Geschichte erzählt hatte, denn sie hinterließ einen tiefen Eindruck auf meine Seele. Oder hatte ich doch alles nur geträumt? Ich kann es nicht sagen. Aber an eine Merkwürdigkeit kann ich mich noch erinnern. Als ich mich von dem Alten damals verabschiedete, warf ich einen Blick auf seinen Garten und sah nur gelbe und rote Blumen. Ich bat den alten Mann um den Gefallen, mir eine davon auszusuchen, um sie an meine Jacke zu stecken. Wie mir schien, lächelte der Alte, und er erfüllte mir meinen Wunsch ohne eine Frage nach dem Warum.
[ 15.05.2002, 10:36: Beitrag editiert von: toniglaeser ]