Das Trommeln des Regens
Das Trommeln des Regens
Wir, die wir auf Erden verweilen, teilen alle dieselbe Angst.
Und das ist die Angst, zu gehen.
Das kleine Mädchen stand in ihrem dreckigen, braunen Kleid neben dem Euroscooter mit Extra-Loopings und Karosserieüberschlag. Ihr Haar wurde von einem rosa Schleifchen zusammengehalten, das jedoch kaum auch nur einen Teil der verfilzten Locken bändigte. Sie hatte einen Lolli in der kleinen, von Speichel benetzten Kinderhand – sie summte ein Liedchen und wippte dabei vor und zurück.
Das kleine Mädchen fiel niemandem auf. Vielleicht war sie noch zu klein. Vielleicht war sie aber auch schon zu groß.
Sie stand da, einfach da, summte und starrte wie gebannt auf den Euroscooter – mit all diesen Loopings und all diesen bunten Jugendlichen darin, die sich die Seele aus dem Halse schrien.
Mit kindlichen, naiven Tapserschritten hopste sie vor den Scooter und blieb dann wieder stehen.
Sie war fasziniert.
Hingerissen.
Schon gar hypnotisiert, denn sie starrte voller Hingabe auf das Treiben vor ihr.
Sie starrte direkt hindurch und war wie in Trance.
Und plötzlich – ganz unvorhergesehen, wie es bei Kindern so üblich ist – steckte sie sich den Lolli in den Mund, drehte sich um – und hüpfte summend davon.
Sie dachte an den großen, schlanken Mann mit Bart und langen Haaren, der in Lumpen gehüllt und sehr freundlich war. Sie hatte ihn sofort gemocht, denn ganz viele Kinder waren um ihn herum versammelt – und er lachte viel und seine Augen leuchteten immer vor lauter Freude.
Was hatte er zu ihr gesagt?
„Keine Angst, mein Kind. Keine Angst.“
Was hatte er vorgehabt? Sie wußte es nicht.
Der Mann sprach, ohne die Lippen zu bewegen. Er nahm sie in die Arme, ohne Arme zu haben – und der Bart war genau wie der seines Vaters, obwohl er gar keinen Körper hatte.
Der Mann war freundlich zu ihr und ihre Augen leuchteten, wenn sie an ihn dachte.
Aber was hatte er gesagt? Sie wußte es nicht mehr.
Und das brachte sie zum Weinen.
Der Tag war heiß und gegen Abend begann es zu regnen. Zunächst tröpfelte es – und dann kam ein Sturzbach vom Himmel.
Was hat er zu mir gesagt?, dachte das Mädchen und fröstelte. Es war wichtig gewesen. Unwahrscheinlich wichtig...
Der Lolli in ihrer Hand schmeckte nicht mehr – aber sie lutschte immer noch an ihm.
Regen. Trommeln. Plock... Plock... – PLOCK! -... plock...
Wer war der Mann? Und was sollte sie tun?
Sie wollte wieder weinen, aber dann hob sie den Kopf und sah einen Mann vor sich.
Es war ein ganz normaler Mann; ganz in braun gekleidet, sogar noch mit braunem Hut. Er wirkte sehr gepflegt und vornehm. Und er strahlte eine angenehme Autorität aus, die das Mädchen faszinierte.
Der Mann schien auf etwas (oder jemanden?) zu warten und starrte immer wieder auf seine goldene, sehr wertvolle Armbanduhr. Er trug keinen Bart. Und er war auch nicht in Lumpen gehüllt.
Das Mädchen verzog das Gesicht.
Sie dachte an den netten Mann mit den langen Haaren und verglich ihn mit diesem Herrn, der da vor ihr stand und von dessen braunem Hut dicke Wassertropfen auf den Asphalt purzelten.
Sie beobachtete ihn, dann seufzte sie, nahm den Lolli aus dem Mund und ging auf ihn zu. Sie zupfte an seinem Mantel. Mit großen, naiven Augen sah sie zu ihm auf. Augen, wie sie nur Kinder haben konnten.
Der Mann drehte sich um und ging kopfschüttelnd davon.
Das Mädchen sah ihm nach, bis er aus ihrem Sichtfeld verschwunden war. Dann setzte sie sich wieder auf die Treppe, die zum Euroscooter (mit all diesen schreienden Menschen!) hinaufführte.
Und weinte.
Das Trommeln des Regens.
Und weinte.
(plock, PLOCK)
Und weinte.
Das kleine Mädchen – pitschnaß, nervös, aufgeregt, verängstigt – schniefte und erhob sich. Sie konnte nicht den ganzen Tag über weinen. Sie konnte nicht hier im Regen sitzen und alles um sie herum sein lassen.
Der Euroscooter war so wichtig gewesen. Das wußte sie noch.
Abgesehen davon, daß sie es wußte, spürte sie es.
So, wie sie gespürt hatte, daß der feine Mann nicht der schlanke Mann mit Bart gewesen sein konnte.
Sie stand da und sah sich um.
Hier ein Liebespaar, das sich küßte.
Dort ein Mädchen, das mit zwei Buben in Pfützen hüpfte und sich über das aufspritzende Wasser freute.
Hier ein alter Mann, der mit dem Stock versuchte, einen Hund abzuwehren.
Dort Trauben von Menschen, die ganz hingerissen von der Losbude waren.
Aber das alles war doch gar nicht wichtig! Was war es schon für sie? Für das kleine Mädchen mit ihrem braunen Kleidchen? Was war es für das kleine Mädchen, das neben dem Euroscooter stand und vergessen hatte, was der Mann in Lumpen und mit Bart zu ihr gesagt hatte, als sie auf seinem Schoß saß und in seine Augen sah?
Sie hatte keinen Durst und keinen Hunger.
Sie hatte auch kein Geld. Trotzdem spürte sie, daß sie mit ihm fahren mußte, daß es wichtig für sie war, in einen von diesen schön-verzierten Wagen zu sitzen und zu lachen, zu spüren, wie das war...
Zu spüren, wie alles in ihrem Bauch ziepte, wie sie schreien, wie sie die Arme ausbreiten und in den Himmel starren würde... Das alles... Und dann-
Das kleine Mädchen genoß den Regen auf ihrer zarten, weißen Haut und ging eine Stufe nach der anderen empor. Ihr kleines Mädchenherz schlug heftig, schlug ganz schnell – so aufgeregt war sie.
Mit einem nervösen Lächeln auf den Lippen wartete sie ab, bis die Wagen zum Stillstand gekommen waren – und ging auf einen zu.
Fliegen. Das Trommeln des Regens. Die Gedanken. Die Freiheit. Die ausgebreiteten Kinderarme. Lachen.
Das Lachen in ihrem kleinen, naiven Mädchenherzen.
Das war es, was der Mann zu ihr gesagt hatte. Oder etwa nicht?
Nur das, nur, nur das konnte es gewesen sein.
Sie stieg ein, und ihr folgte ein junger Mann, vielleicht sechzehn oder siebzehn Jahre alt. Er setze sich neben sie, beachtete sie aber nicht weiter.
Das war dem kleinen Mädchen nur recht so. Sie lachte. Ihre Augen strahlten in blanker Vorfreude.
Die Musik ertönte, der Sprecher schrie seine Worte ins Mikrophon.
Es geht gleich los! GLEICH GLEICH GEHT ES LOS !!! YEAH !!! YEEEAAAHHH!!!!! SCHNALLT EUCH FESTE AN!!!!
Die Stange wurde zurückgezogen und das kleine Mädchen umklammerte sie. Der Regen trommelte auf ihren Kopf, durchnäßte ihr braunes Kleid völlig – zumindest erschien es ihr so.
„Seid Ihr bereit?“, flüsterte sie und sah den Jungen neben ihr von der Seite her an.
Er beachtete sie nicht, grinste, winkte einer Traube von Menschen zu, die wahrscheinlich seine Freunde waren.
Er hatte Freunde.
Aber das war dem kleinen Mädchen egal.
„Seid Ihr bereit?“, fragte der Typ im kleinen Häuschen, der die Instrumente, den Speed - einfach alles regulierte.
„Das wird die Show Eures Lebens!“, schrie das kleine Mädchen in den Himmel, in den Regen – überall hin, wenn auch nur aus ihr heraus.
„Das wird die Show Eures Lebens!“
„Haltet Euch fest!“
„Haltet Euch fest!“
Den Rest hatte sie vergessen. Der Rest war wie weggefegt...
Die Karosserie setzte sich in Bewegung, sie setzte sich in Bewegung (!FLIEGEN!), das Ziepen begann – und...
Der Junge neben ihr schrie schon.
Das Mädchen verzog das Gesicht, grinste, winkte, wie der Typ neben ihr, lächelte.
Es wurde schneller.
„Schneller!“, schrie sie aus sich heraus. O, wie diese Kinderaugen leuchteten!
„Schneller!“, brüllte der Mann im Häuschen – ein dicker Mann mit Brille und Sommersprossen.
Aber der nette, dürre Mann mit Bart und langen Haaren mochte auch ihn, das wußte sie.
Und plötzlich ging es los! Hoch! Hoch! Hoch in den Himmel!
Das Ziepen verwandelte sich – es wurde anders, es wurde angenehm, stetig, pulsierend.
(schneller, schneller, schneller!)
Sie hielt sich ganz feste fest. Sie genoß das Gefühl von Freiheit.
„Keine Angst“ hatte der Mann gesagt. Jetzt wußte sie auch, warum er es zu ihr gesagt hatte.
„Ich habe diesen Weg auch gehen müssen. Ein zweites Mal. Wir müssen ihn alle ein zweites Mal gehen.“
O, es war doch nicht schlimm! Lieber, netter Mann, das ist doch nicht schlimm! Warum sollte sie denn Angst haben? So frei, wie sie sich fühlt?
Sie lachte. Der Wind peitschte den Regen in ihr kleines Gesicht. Sie rümpfte die Nase, spürte, wie ihr Tränen aus den Augen gepreßt wurden, als es losging. Als es wirklich losging.
Als die Karosserie begann, sich zu drehen und überzuschlagen. Als alles begann, plötzlich...
Plötzlich...
(komisch zu werden)
Das kleine Mädchen bildete sich ein, es sei nicht weiter tragisch.
(Wir müssen ihn alle ein zweites Mal gehen)
Der Junge neben ihr ignorierte sie. Ignorierte sie, als sie anfing, sich an das Metall um sie herum zu drücken, zu pressen, es zu halten, es nicht weggleiten zu lassen...
Sie rutschte. Sie drohte, unten durch zu rutschen und aus dem Karussell zu kippen. Aus dem Euroscooter, der ihr so gefallen hatte...
Nein, jetzt war es nicht mehr schön.
(ein zweites Mal)
Sie krallte sich fest. Ein Fingernagel brach ab. Ihre Beine waren bereits draußen, waren für sie unbeweglich.
Sie sah, wie sich ihre Sehnen spannten, sie schrie (!!!!! AUFHÖREN AUFHÖREN !!!!!)
Und plötzlich wußte sie, daß es wirklich das zweite Mal war; sie ließ los.
Das Letzte, was sie sah, war der Junge, der lachte und schrie – und immer mal wieder seinen Freunden zuwinkte.
Und sie weinte.
Das Trommeln des Regens.
Und weinte.
(plock, PLOCK)
Und weinte.
Als sie wieder zu sich kam, lag sie auf etwas Weißem. Der nette, dünne Mann beugte sich mit leuchtenden Augen über sie. Seine verfilzten Haare kitzelte ihre Wangen.
Er lächelte.
Sie lächelte.
„Das hast du wirklich gut gemacht“, sagte er mit dieser von Leid und Liebe geprägten Stimme.
Glück machte sich überall in ihr breit.
Er reichte ihr die Hand und half ihr auf.
„Ich möchte dir etwas zeigen“, sagte er und sie gingen auf diesem weißen Zeug, das unendlich zu sein schien.
Sie gingen und gingen.
Und plötzlich lichtete sich der Nebel (?) und das Mädchen blieb stehen.
Ihre Augen weideten sich. Ihr Kinn klappte hinunter.
„Mom...“, stammelte sie, als sie die Frau sah, die mit ausgebreiteten Armen auf sie zukam.
Der Mann, der sie immer noch an der Hand hielt, nickte und drückte sie. Ging vor ihr auf die Knie und umarmte sie.
„Ich bin stolz auf dich. Jetzt bist du ein Kind Gottes“, sagte er. Dann musterte er sie schweigend. Traurig. „Ich muß jetzt gehen.“
Sie umklammerte ihn, wie ein Ertrinkender seine Hoffnung.
„Kommst du wieder?“, fragte sie und lautlose, dicke Tränen purzelten von ihren Wangen, durch dieses weise Zeug hindurch.
„Nein“, sagte er. „Aber das ist nicht schlimm. Ich muß anderen Kindern helfen.“
„Anderen Mädchen?“, sagte das kleine Mädchen und schniefte. Er reichte ihr ein weißes Taschentuch und zerzauste ihr Haar.
„Du wirst mich nicht mal vermissen...“, lächelte er.
Und dann ging er. Ging gebückt, mit einem leicht krummen Rücken. Ging und hinterließ das kleine Mädchen, das sich umdrehte und ihrer Mutter in die Arme fiel.
Ein zweites Mal. Um die Seele zu befreien.
Und alles, alles war doch gar nicht so schlimm.
Stefanie Kißling, 1. Juli 2001