Das Treffen
„Gott ist die Summe aller Zufälle“
Lion Feuchtwanger
„Die Jüdin von Toledo“
Das Treffen
Vom Ursprung und Ende unserer Welt
1 Nach jeweils drei Äonen wollten sie zusammentreffen. So war es abgemacht.
Nun waren drei Äonen vorbei. ES überdachte noch einmal SEIN Werk und ES war stolz. Ja, nun mochten sie kommen.
Diesmal mangelte es SEINEM Werk bestimmt nicht an Größe. Auch in der Unendlichkeit des Nichts war es ohne Mühe wahrzunehmen. (Nie würde ES die Ironie vergessen, mit der die ANDEREN einstmals ihr Zuspätkommen entschuldigt hatten: Sie hätten so lange suchen müssen, weil der Treffpunkt, SEIN Werk, fast zu klein sei, um gefunden werden zu können.)
ES schmunzelte in SICH hinein – ja, diesmal war IHM ein beispielloser Kunstgriff gelungen: SEIN Werk war so angelegt, dass es sich aus sich selbst heraus vegrößerte – unaufhaltsam, unbegrenzt durch Zeit und Raum.
Mochten sie kommen und SEIN Werk berechnen. Sie würden keinen Fehler finden. Die Regeln der Mathematik (die einzigen Bedingungen ihres Wett-bewerbs) waren eingehalten. Und alle Berechnungen würden eindrucksvolle Zahlen ergeben: Milliarden von Galaxien mit Milliarden von Sonnen. Einige Materie-Zusammenballungen mit Milliarden von Mi-krosystemen, die sich selbst reproduzierten.
Und vor allem: die Eleganz der Variablen und Gleichungen, durch die die Wechselbeziehungen zwischen allen Teilen definiert waren.
Diesmal würden sie kaum behaupten können, SEI-NEM Werk mangele es an Raffinesse.
Ja, die Variablen – die enorme Genugtuung, die ES empfand, wenn eine neu erdachte sich fehlerfrei in das Werk einfügen ließ. Und die Schönheit der Gleichungen – allein die, die das Verhältnis von Energie und Masse definierte: ein Meisterstück, das die ANDEREN einfach bewundern mussten. Denn auch sie wussten, dass die Erschaffung von Universen Unverträglichkeiten und Risiken barg.
ES dachte an die wohl schwierigste Phase SEINER Arbeit, das Projekt mit den sich selbst reproduzierenden Mikrosystemen. Da hatte eine neu eingefügte Variable plötzlich begonnen, selbstständig weitere zu erzeugen. Und diese neuen, ungeplanten entzogen sich hartnäckig allen SEINEN Versuchen, sie durch SEINE Definitionen zu kontrollieren.
Fast ein ganzes Äon hatte die Lösung dieses Dilemmas gekostet. Und noch nicht einmal die vollständige Ausradierung SEINER ersten Mikrosysteme (eine Aktion, die IHM mittlerweile etwas peinlich war), hatte den Erfolg erbracht.
Aber ES fand eine Lösung. Und wie jede wirklich geniale Lösung so war auch diese einfach und elegant:
ES erschuf das Chaos.
Vorbei die Zeit der mühseligen Berechnung und Manipulation von unzähligen Variablen. SEIN Chaos kam mit einer aus: ES nannte sie ‚Zufall’.
Nun konnten die ANDEREN kommen. SEIN Universum war fertig. Ein großartiges Werk. Ein Werk mit Raffinesse. Nein - ein grandioses, ein unübertreffliches. Dazu ein Werk, das sich veränderte, sich immer wieder von neuem schuf. Nie würde es sich selbst gleichen. Ein großes Werk, das ständig an Größe gewann – obwohl sein Schöpfer ruhte.
Ja, nun konnte ES ruhen, SICH ganz der Betrachtung hingeben. Für eine sehr lange Zeit. Denn SEI-NEM Blick würde nie das gleiche Bild geboten werden. SEIN Werk würde Äonen vergessen machen, Äonen voller verfluchter Langeweile bei der Schau auf ewig gleiche Welten.
Die ANDEREN würden beeindruckt sein.
2 „Du gehst recht verschwenderisch mit dem Nichts um. Das aber gehört uns allen.“ kritisierten die ANDEREN. Sie waren gerade gekommen und hatten nur einen flüchtigen ersten Blick auf SEIN Werk geworfen.
Jetzt war es ihnen also zu groß?
„Zu klein – zu groß! Es mag Schöpfer des Mittelmaßes geben – ICH aber gehöre nicht zu ihnen!“ sprach ES. Sehr schnell war der alte Ärger in IHM aufgestiegen und ließ ES harsch reagieren.
Etwas verbindlicher fügte ES hinzu: „Warum wollt Ihr Euch nicht am Anblick wahrer Größe ergötzen? An Galaxien, die sich umkreisen, die miteinander tanzen, die in einander stürzen, die sich zerstören, um dann in anderer Form wieder neu zu entstehen? Das braucht nun einmal Raum.“
Die ANDEREN schwiegen. Sie mussten es nicht aussprechen: Diese Bilder konnte man auch anders erschaffen – ohne die verschwenderische Vernichtung des Nichts.
Wenn nicht die Größe, dann das Kleine! ES beschloss, den Fokus der ANDEREN auf ein Detail seines Universums zu lenken: „Wer wahrhaftige Größe nicht genießen kann,“ sprach ES, “mag die Kleinigkeiten betrachten. Folget MIR in MEIN Werk hinein und schaut!“
Tief tauchten sie ein. Galaxien und Sternenhaufen stoben an ihnen vorbei, leuchtende Farben, sphärische Klänge, wechselnde Vibratos reiner Energie. All das ließen sie hinter sich, bis ein winziges Staubkorn SEINES Werkes vor ihren Blicken zu einer Kugel wuchs. Blau und grün und braun, von weiß-transparenten Schleiern umgeben.Noch näher heran, durch die Schleier hindurch.
ES wies auf kleine Materieansammlungen, mit denen die Kugel geradezu übersät war. Kleine grünliche Konglomerate, weißliche, bräunliche, bunte. Manche bewegten sich.
„Beachtet besonders sie.“ empfahl ES. „Ihr Erscheinen ist immer nur von recht kurzer Dauer.
Aber solange sie existieren, ist es ein Vergnügen, ihrem Treiben zuzuschauen.“
„Was ist das?“ fragten die ANDEREN.
„Das ist das Resultat einer Variablen, die vor MIR noch niemand benutzt hat. In MEINEN Berechnungen trägt sie den Namen ‚Zufall’. Und die Konglomerate nenne ICH ‚Leben’“.
ES ließ eine kleine Pause entstehen, dann fuhr ES fort: „Ein oder zwei Mal pro Äon entsteht es an der einen oder anderen Stelle MEINES Universums. „Eine Weile habe ICH überlegt, ob ICH dafür sorgen sollte, dass es etwas länger hält. Aber letztlich ist das Erscheinen und Verschwinden dieser ulkigen kleinen Dinger viel unterhaltsamer.“
Nun wirkten die ANDEREN interessiert.
„Wenn Ihr denn mögt – versetzt Euch für eine Weile in sie hinein. Es ist ganz einfach. So könnt Ihr die Größe MEINES Werkes auch im Kleinen erkennen.“ sprach ES und zog sich zurück. Aber nicht ohne SICH noch kurz einmal umzuwenden. „Noch ein Tip: Versäumt nicht, dasjenige ‚Leben’ zu erkunden, das sich auf zwei Auswüchsen seiner kleinen Körper bewegen kann – es wird Euch besonders viel Kurzweil bereiten.“
3 Die ANDEREN mussten von SEINEM Werk beeindruckt sein. Dass sie so lange in ihm herumstreifen würden, hatte ES nicht erwartet. Zwar schmerzte ES ein wenig, dass sie die Größe SEI-NES Universums so gar nicht zu würdigen gewusst hatten. Die eine odere andere lobende Bemerkung wäre sicher angebracht gewesen. Doch von SEINER Variable ‚Zufall’, dem Chaos, das sie erschuf und von dem ‚Leben’, das sie erbracht hatte, waren die ANDEREN offenbar wirklich fasziniert. Keine Frage – IHM war da wirklich ein großer Wurf gelungen.
Langsam wurde ES ungeduldig. Wo blieben sie nur? SEIN Werk betrachten, erkunden, bewundern sollten sie – ja. Sich darin einnisten – nein.
ES beschloss, sie zu holen. Wieder tauchte ES tief in SEIN Werk ein. Galaxien und Sternenhaufen sto-ben an IHM vorbei, leuchtende Farben, sphärische Klänge, wechselnde Vibratos reiner Energie. All das ließ ES hinter sich, bis ein winziges Staubkorn SEINES Werkes vor SEINEN Blicken zu einer Kugel ...
Wo war die Kugel? ES musterte den Raum. Doch der Platz, an dem sie zu sein hatte, wurde einge-nommen von einem erlöschenden Stern. Wie von IHM erdacht, so, wie es an vielen Stellen SEINES Universums geschah, so hatte auch er sich aufge-bläht und mit dem Feuerinferno seines Todeskampfes alles um sich herum zerstört.
Aber – das geschah hier viel zu früh! Das durfte nicht sein! Das war gegen die Gesetzmäßigkeiten, die definiert waren.
Irritiert schaute ES das wabernde Plasma des sterbenden Sterns.
Und seine Strudel formten die Nachricht der ANDEREN:
„WIR sind Deiner Aufforderung gefolgt.
Eine Zeit lang waren WIR EINS mit Deinem Werk.
WIR fanden Schönheit.
WIR lernten Sehnsucht und Hoffnung.
Aber nun wissen WIR um Schmerzen und Leid, Verzweiflung, Angst und Tod.“
Einen Moment lang schienen die Strudel zu erstarren. Doch dann setzten sie sich wieder in Bewegung:
„P.S.
Dein Werk ist unvollkommen. So unvollkommen, dass sogar Deine ‚Lebewesen’ sich abmühen, es zu verbessern. Einige von ihnen fanden WIR verbissen bemüht, Deiner Schöpfung eine Spur von Ethik hinzuzufügen. Das jedoch ist ein Element, das dem Grundprinzip Deines Werkes widerspricht. Also sind sie verdammt zu beständigem Scheitern.
Ein Werk, das – mit Recht! – versucht, die Fehler seines Schöpfers zu berichtigen, beschämt und beleidigt alle, die wirkliche Schöpfer sind: also UNS.
WIR haben deswegen a) diesen Teil Deines ‚Werkes’ gelöscht und
WIR müssen deswegen b) Dich – auf Dauer – von unserem Wettbewerb ausschließen.“