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Das Totenbett
Die Luft in dem kleinen Zimmer des einfachen Bauernhauses riecht abgestanden und nach
Krankheit. Eine abgemagerte Gestalt – nur mehr ein Schatten ihrer selbst – liegt in einem Bett
aus Holz. Geschützt durch wärmende Schichten aus Wolldecken.
Die blassblauen Augen blicken in die Ferne, als ob sie etwas sehen würden, das in der
diesseitigen Welt nicht existiert. Vielleicht die Pforten zum Paradies? Oder Geschehnisse längst
vergangener Tage? Wer weiß das schon? Niemand ist in der Lage die Brücke zwischen Leben
und Tod zu beschreiten, bevor er selbst an der Reihe ist diesen Weg zu gehen.
Der alte Narr, Zeit seines Lebens der festen Überzeugung gewesen, dem Tod von der Schippe
springen zu können, musste nun einsehen, dass die Endlichkeit des Lebens auch für ihn galt. Er
würde Zeugnis ablegen müssen, über das, was er getan und das, was er hätte tun sollen. Etwas
wie Rechenschaft oder gar ein Gewissen hatte ihn nie beschäftigt. Viel zu sehr hatte er an der
Verwirklichung seiner Pläne - ohne links oder rechts zu schauen - gearbeitet. Emotionaler
Ballast war ihm unwillkommen gewesen. Damit mussten sich die Mildtätigen, die ihre Kraft
aus der Nächstenliebe gewannen, beschäftigen. Doch nun, im Angesicht des Todes, war er
dankbar für die Aufopferungsbereitschaft, die ihm entgegengebracht wurde. Die kleinen Gesten
der Wertschätzung, wie das liebevolle Kühlen seiner glühend fiebrigen Stirn mit einem kühlen
Lappen.
Hatte er auf das falsche Pferd gesetzt? Holten ihn seine Eigennützigkeit und sein Egoismus nun
beim letzten Gericht vor dem Schöpfer als beschwerender Beweis wieder ein? In seinen besten
Jahren waren dies unverrückbare Grundpfeiler gewesen, die das Fundament seiner
Charakterstärke gebildet hatten. Niemand konnte ihm Steine in den Weg legen, weil er nichts
hatte, das man ihm wegnehmen hätte können. Bekannte, Freunde, auch der engste Kreis der
Familie waren bloß ein Mittel zum Zweck gewesen. Bausteine für eine Welt nach seinen
Vorstellungen. Wurde ein solcher porös oder konnte seine Last nicht mehr tragen, so musste
ein neuer seine Stelle einnehmen. Doch wurde auch sein Körper träger. Sein Geist schwächer.
Er selbst zu einem solch unnützen Element, das seine Aufgabe nicht mehr bewältigen konnte.
Dennoch, er wurde umsorgt und umhegt. Von guten Seelen, die nicht begriffen zu haben
schienen, dass er ihnen keinen Gegenwert liefern konnte. Kein Tauschgut hatte. Ein
schwächlicher Greis, der jederzeit überginge in die andere Welt und nichts hinterlassen würde
als eine leere, leblose, irdische Hülle. Kein Vermögen. Nicht einmal das Bett in dem er seine
letzten Tage verbrachte stand in seinem Eigentum. Was versprachen sie sich, diese
hochmütigen Samariter? Labten sie sich an seinem Schmerz? An seinem Verdruss? Gewannen
sie Freude daraus, einem Menschen Wärme zu schenken, wohlwissend, dass sein Ende mit
jedem Augenschlag kommen konnte? Welch grausame Geschöpfe! Hoffnung dort zu entfachen
wo es keine mehr gab. Hätte er die Kraft dazu gehabt, würde er allen unverzüglich befehlen den
Raum zu verlassen. Doch reichte es nicht zu mehr, als unscheinbar eine Hand zu heben. Das
würde keinen vertreiben.
Gänzlich unbemerkt blieb seine Geste jedoch nicht. Eine warme Hand schloss sich liebevoll
um die seine. Drückte sie sanft und gab ihm, entgegen all der wilden Gedanken, Halt und
Zuversicht. Das Gefühl, nicht allein zu sein in dieser schweren Zeit. Er erwiderte den Druck
leicht und genoss die Nähe des Anderen, der schweigend neben ihm saß und nicht in denselben
Kategorien zu denken schien wie er selbst. Großherzigkeit und Verständnis konnte er in den
haselnussbraunen Augen seines Gegenübers erkennen. Eigenschaften die er mit dem
menschlichen Wesen als unvereinbar angesehen hatte.
Bis zu diesem Moment. Einmal noch blickte der Alte den Unbekannten an. Tiefe
Glückseligkeit spiegelte sich in seinen Augen wider. Letzte Worte des Dankes, die ohne einen
Laut auskamen. Mit einem Lächeln auf den Lippen verebbte der Atem des Greises und er
übertrat die Schwelle ins Reich der Toten – in der süßen Gewissheit – dass er sich geirrt hatte.