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Das Totenbett

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19.09.2016
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Das Totenbett

Die Luft in dem kleinen Zimmer des einfachen Bauernhauses riecht abgestanden und nach
Krankheit. Eine abgemagerte Gestalt – nur mehr ein Schatten ihrer selbst – liegt in einem Bett
aus Holz. Geschützt durch wärmende Schichten aus Wolldecken.

Die blassblauen Augen blicken in die Ferne, als ob sie etwas sehen würden, das in der
diesseitigen Welt nicht existiert. Vielleicht die Pforten zum Paradies? Oder Geschehnisse längst
vergangener Tage? Wer weiß das schon? Niemand ist in der Lage die Brücke zwischen Leben
und Tod zu beschreiten, bevor er selbst an der Reihe ist diesen Weg zu gehen.

Der alte Narr, Zeit seines Lebens der festen Überzeugung gewesen, dem Tod von der Schippe
springen zu können, musste nun einsehen, dass die Endlichkeit des Lebens auch für ihn galt. Er
würde Zeugnis ablegen müssen, über das, was er getan und das, was er hätte tun sollen. Etwas
wie Rechenschaft oder gar ein Gewissen hatte ihn nie beschäftigt. Viel zu sehr hatte er an der
Verwirklichung seiner Pläne - ohne links oder rechts zu schauen - gearbeitet. Emotionaler
Ballast war ihm unwillkommen gewesen. Damit mussten sich die Mildtätigen, die ihre Kraft
aus der Nächstenliebe gewannen, beschäftigen. Doch nun, im Angesicht des Todes, war er
dankbar für die Aufopferungsbereitschaft, die ihm entgegengebracht wurde. Die kleinen Gesten
der Wertschätzung, wie das liebevolle Kühlen seiner glühend fiebrigen Stirn mit einem kühlen
Lappen.

Hatte er auf das falsche Pferd gesetzt? Holten ihn seine Eigennützigkeit und sein Egoismus nun
beim letzten Gericht vor dem Schöpfer als beschwerender Beweis wieder ein? In seinen besten
Jahren waren dies unverrückbare Grundpfeiler gewesen, die das Fundament seiner
Charakterstärke gebildet hatten. Niemand konnte ihm Steine in den Weg legen, weil er nichts
hatte, das man ihm wegnehmen hätte können. Bekannte, Freunde, auch der engste Kreis der
Familie waren bloß ein Mittel zum Zweck gewesen. Bausteine für eine Welt nach seinen
Vorstellungen. Wurde ein solcher porös oder konnte seine Last nicht mehr tragen, so musste
ein neuer seine Stelle einnehmen. Doch wurde auch sein Körper träger. Sein Geist schwächer.
Er selbst zu einem solch unnützen Element, das seine Aufgabe nicht mehr bewältigen konnte.
Dennoch, er wurde umsorgt und umhegt. Von guten Seelen, die nicht begriffen zu haben
schienen, dass er ihnen keinen Gegenwert liefern konnte. Kein Tauschgut hatte. Ein
schwächlicher Greis, der jederzeit überginge in die andere Welt und nichts hinterlassen würde
als eine leere, leblose, irdische Hülle. Kein Vermögen. Nicht einmal das Bett in dem er seine
letzten Tage verbrachte stand in seinem Eigentum. Was versprachen sie sich, diese
hochmütigen Samariter? Labten sie sich an seinem Schmerz? An seinem Verdruss? Gewannen
sie Freude daraus, einem Menschen Wärme zu schenken, wohlwissend, dass sein Ende mit
jedem Augenschlag kommen konnte? Welch grausame Geschöpfe! Hoffnung dort zu entfachen
wo es keine mehr gab. Hätte er die Kraft dazu gehabt, würde er allen unverzüglich befehlen den
Raum zu verlassen. Doch reichte es nicht zu mehr, als unscheinbar eine Hand zu heben. Das
würde keinen vertreiben.

Gänzlich unbemerkt blieb seine Geste jedoch nicht. Eine warme Hand schloss sich liebevoll
um die seine. Drückte sie sanft und gab ihm, entgegen all der wilden Gedanken, Halt und
Zuversicht. Das Gefühl, nicht allein zu sein in dieser schweren Zeit. Er erwiderte den Druck
leicht und genoss die Nähe des Anderen, der schweigend neben ihm saß und nicht in denselben
Kategorien zu denken schien wie er selbst. Großherzigkeit und Verständnis konnte er in den
haselnussbraunen Augen seines Gegenübers erkennen. Eigenschaften die er mit dem
menschlichen Wesen als unvereinbar angesehen hatte.

Bis zu diesem Moment. Einmal noch blickte der Alte den Unbekannten an. Tiefe
Glückseligkeit spiegelte sich in seinen Augen wider. Letzte Worte des Dankes, die ohne einen
Laut auskamen. Mit einem Lächeln auf den Lippen verebbte der Atem des Greises und er
übertrat die Schwelle ins Reich der Toten – in der süßen Gewissheit – dass er sich geirrt hatte.

 
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Hallo Zabadok

Willkommen bei den Wortkriegern!

Ich fand deinen Text ansprechend und zwar auf eine eigentümliche Weise. Zunächst mag ich deine Sprache, die im Text auch konsequent durchgehalten wird. Sie hat den Klang vergangener Zeiten, wirkt aber dennoch nicht wirklich verstaubt oder gestelzt. Ich finde, sie passt zum Thema und am Ende entwickelst du eine gewisse Eindringlichkeit in den Formulierungen.

Die Szene, in der der Mann die Hand bewegt, um die Menschen im Raum zu verscheuchen, und die Hand dann ergriffen wird, fand ich sehr stark.

Eigentlich möchte ich dir jetzt «show, don’t tell» um die Ohren hauen und sagen, dass du auch an anderen Stellen szenischer erzählen solltest, vor allem mehr über diesen Mann erzählen könntest, zum Beispiel hier:

Etwas wie Rechenschaft oder gar ein Gewissen hatte ihn nie beschäftigt. Viel zu sehr hatte er an der Verwirklichung seiner Pläne - ohne links oder rechts zu schauen - gearbeitet.

Das bleibt alles sehr abstrakt, ich kann mich da nicht hineindenken, die Figur bleibt Schablone.

Auf der anderen Seite war das wohl auch deine Absicht, um etwas Allgemeines auszusagen, daher auch der Tag «Philosophisches», nehme ich an.

Bei mir hat es nur so halb funktioniert. Wie gesagt, du entwickelst eine gewisse sprachliche Eindringlichkeit, aber die «Botschaft», um es mal plump zu formulieren, bleibt mir dennoch fern.

Ich sehe das so, dass eine konkrete Geschichte über einen konkreten Mann (sagen wir: «Citizen Kane») mir viel mehr Anhaltspunkte gibt, über die allgemeinen Bedingungen eines gelungenen Lebens nachzudenken, als wenn mir die Sache in dieser allgemeinen Form präsentiert wird, wie du es hier (in Bezug auf die Lebensgeschichte des Mannes) machst. Gerade das kann Literatur im Unterschied zu einer philosophischen Abhandlung leisten. Und darum fand ich die Szene, die ich oben genannt habe, die stärkste in deinem Text.

Ein paar formale Dinge:

Zunächst würde ich die Leerzeilen rausnehmen, das würde die Leserfreundlichkeit erhöhen.

Die blassblauen Augen blicken in die Ferne, als ob sie etwas sehen würden, dass in der diesseitigen Welt nicht existiert.

das


Niemand ist in der Lage [Komma] die Brücke zwischen Leben und Tod zu beschreiten, bevor er selbst an der Reihe ist [Komma] diesen Weg zu gehen.

Das erhöht die Leserfreundlichkeit m.E. deutlich.

Er würde Zeugnis ablegen müssen, über das [Komma] was er getan und das [Komma] was er hätte tun sollen.

Damit mussten sich die Mildtätigen, die ihre Kraft
aus der Nächstenliebe gewannen [Komma] beschäftigen.

Von guten Seelen [Komma] die nicht begriffen zu haben
schienen, dass er ihnen keinen Gegenwert liefern konnte.

Lieber Gruss
Peeperkorn

 

Hallo Peeperkorn,

vielen Dank für die herzliche Begrüßung und deine ausführliche Kritik. Ich habe schon bemerkt – die Mitglieder dieser Website haben ihren Ruf, faire und ehrliche Kritiken zu verfassen, jedenfalls verdient.

Zur inhaltlichen Kritik:
"[...] Ich sehe das so, dass eine konkrete Geschichte über einen konkreten Mann (sagen wir: «Citizen Kane») mir viel mehr Anhaltspunkte gibt, über die allgemeinen Bedingungen eines gelungenen Lebens nachzudenken [...]"

Danke für den Tipp! Du läufst damit bei mir offene Türen ein. Mein Schreibstil hat sich mit einer neueren, hier noch nicht hochgeladenen KG auch schon in diese Richtung weiterentwickelt.

Zur formalen Kritik:
Habe die Leerzeilen geändert. Ursprünglich war es einmal 1,5-facher Zeilenabstand, den das Script dieser Website anscheinend nicht unterstützt. Wie schaut es eigentlich mit "Blocksatz" aus? Habe im Forum nichts dazu gefunden.

Zur Beistrichsetzung:

Erstes Zitat:
"Niemand ist in der Lage [Komma] die Brücke zwischen Leben und Tod zu beschreiten, bevor er selbst an der Reihe ist [Komma] diesen Weg zu gehen."

Kann es sein, dass mit der "neuen" Rechtschreibreform, diese Beistriche optional geworden sind (Infinitiv-Gruppen ohne Signalwörter)?

Viertes Zitat:
"Von guten Seelen [Komma] die nicht begriffen zu haben schienen, dass er ihnen keinen Gegenwert liefern konnte."

Hier bin ich deiner Meinung, weil die Infinitiv-Gruppe eindeutig von dem Substantiv "Seelen" abhängt.

Ansonsten vielen Dank für deine Mühe.

Liebe Grüße
Zabadok

 

Hallo Zabadok

Kann es sein, dass mit der "neuen" Rechtschreibreform, diese Beistriche optional geworden sind (Infinitiv-Gruppen ohne Signalwörter)?

Ja, deshalb habe ich als Begründung "erhöht die Leserfreundlichkeit" angegeben. Vor allem bei längeren Infinitivsätzen finde ich es halt viel angenehmer, ein Komma zu haben, und ich selbst setze bis auf wenige Ausnahmen (sehr sehr kurze Infinitivsätze) auch immer eines, da macht man auch sicher nichts verkehrt. :)

Lieber Gruss
Peeperkorn

 

Hallo Zabadok,

ausführliche philosophische Reflexionen haben es in Kurzgeschichten schwer, weil Autoren in der Regel keine Philosophen sind. Aus diesem Grund klingen solche Gelegenheits-Philosophierversuche meist ein wenig naiv und "unprofessionell". Ich finde das Thema Deiner KG durchaus bedeutsam. Der Tod beunruhigt den Menschen seit tausenden von Jahren, und kann ganz bestimmt als Prüfstein persönlicher Einsichten, Motivationen und Lebenskonzepte betrachtet werden. Die Erinnerung an den Tod (Memento mori - "Gedenke zu sterben") wird in vielen Kulturen als Übung eingesetzt, um sich ins Gedächtnis zu rufen, was wirklich wichtig ist im Leben.

Wenn man das aber so aufbereitet, wie Du es in Deiner KG tust, dann ist es – für mein Empfinden - zu wenig. Philosophisch trägt es nicht zu meinen Erkenntnissen bei, denn das habe ich so und besser schon tausendmal gehört und gelesen. Literarisch ist es schwach, weil Du keine Geschichte erzählst.

Damit meine ich nicht, dass Du nicht schreiben kannst, sondern nur, dass Du hier keinen Versuch machst, eine Story zu entwickeln. Deine KG lebt einzig von der Reflexion eines Sterbenden, der im Angesicht des Todes begreift, dass sein lebenslanger Egoismus auf einer Selbsttäuschung beruhte. Das ist – philosophisch betrachtet – keine Neuigkeit.

Ich schließe mich Peeperkorns Rat deshalb an: Bringe Deine philosophische Botschaft als Subtext in einer Geschichte unter, in der ein Protagonist konkrete Aufgaben zu bewältigen hat. Klatsche dem Leser keine Weisheiten um die Ohren, sondern lass ihn das selbst aus dem Gang der Ereignisse schlussfolgern.

Ich handhabe es meist so, dass ich die eine oder andere philosophische Einsicht als Gedanken des Protagonisten einstreue. Aber wie gesagt – nicht übertreiben.

Gruß Achillus

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Achillus,

Danke auch dir für deine offene Meinung. Mir gefällt der Begriff "Subtext" für die philosophische Botschaft / Schablone. Diese nahezu vollkommen in das Tun und Wirken eines Protagonisten bzw als Hintergrundgeräusch einer Geschichte als Ganzes einweben zu können, ist für mich eher ein längerer (Lern-)Prozess als eine kurzfristige Entwicklung (natürlich soll auch hier der Spaß an der Sache im Vordergrund stehen), wobei es für das Maß an Reflexionen des Protas kein Patentrezept gibt.

"ausführliche philosophische Reflexionen haben es in Kurzgeschichten schwer, weil Autoren in der Regel keine Philosophen sind. Aus diesem Grund klingen solche Gelegenheits-Philosophierversuche meist ein wenig naiv und "unprofessionell".
"[...] Das ist – philosophisch betrachtet – keine Neuigkeit. "

Hier bin ich nicht ganz deiner Meinung, auch wenn ich dir zustimme, dass "ausführliche philosophische Reflexionen" es in Kurzgeschichten schwer haben. Das sollte jedoch keinesfalls das Ziel hinter meiner kleinen Geschichte sein. Das wissenschaftliche Aufarbeiten philosophischer Problemstellungen sollte man tatsächlich den Philosophen überlassen (auch wenn gerade dieser Wissenschaftszweig ein stark interdisziplinärer ist und in jedem anderen Studium ein bisschen Philosophie drinsteckt). Vielmehr finde ich KGs durchaus geeignet, Anstoß zu geben, über die ein oder andere Frage nachzudenken, indem man die Reflexionen des Protagonisten als Beispiel anführt (mit welchem man nicht einmal übereinstimmen muss). Dazu muss man mE kein Philosoph (Bachelor / Master / Magister / Doktor / Habil? ;) ) sein, wie man auch kein Germanistik-Studium absolviert haben muss, um schreiben zu können, sondern nur selbst reflektieren können.

Liebe Grüße
Zabadok

 

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