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Das tote Schaf
„Unten am See liegt ein totes Schaf“, erklärte Rekrut Widmer beiläufig.
Gähnend nahm ich Funkgerät und Nachtsichtgerät entgegen, steckte das Nichtsichtgerät in die Halterung an meinem Helm und blickte dann auf meine Armbanduhr. Es war genau vier Uhr morgens. Jede Stunde musste jemand die Wache übernehmen, wir hatten die Abfolge am Vorabend ausgelost. Ich klopfte Widmer auf die Schulter und wünschte gute Nacht.
Während er zurück zu seinem Zelt stolperte, schaltete ich das Nachtsichtgerät ein. Der Himmel war bewölkt und es war überraschend kalt für eine Nacht im August. Ein leises Rauschen lag in der Luft vom Windkraftwerk auf dem Hügel, dessen Rotorblätter sich langsam drehten, und das Licht oben auf dem Mast blinkte grell im Nachtsichtgerät. Auf den Berggipfeln lag Schnee und im Tal leuchteten nur noch wenige Lichter. Es war Dienstag in der fünfzehnten Woche der Infanterierekrutenschule, und ich sollte mit meiner Gruppe während der Nacht das Windkraftwerk bewachen und am Morgen zum Oberalppass marschieren.
Sobald sich meine Augen an das grüne Licht des Restlichtverstärkers gewöhnt hatten, folgte ich dem Bach hinunter zum kleinen See und suchte auf den grasbewachsenen Hängen nach dem toten Schaf. Wahrscheinlich lief das bereits die ganze Nacht so, dachte ich. Jeder suchte erst mal das tote Schaf.
Ich fand es auf der Ostseite des Sees, kniete daneben auf den Boden und richtete meine Taschenlampe auf den Kadaver. Das Tier lag auf der Seite mit einer tiefen Schnittverletzung am Hals und die Wunde sah, soweit ich beurteilen konnte, relativ frisch aus. Die anderen Schafe standen ruhig auf der Weide, als ob nichts geschehen wäre.
Um vier Uhr vierzig weckte ich meine acht Rekruten und ließ sie das Biwak zusammenpacken. Dann versammelte ich sie, es war noch dunkel, und fragte, wer von Ihnen das tote Schaf unten beim See gesehen habe.
Alle, die Wache hatten, meldeten sich.
Ich blickte auf die Namen in meinem Notizbuch. „Rekrut Kleiner, Sie hatten zuerst Wache. Haben Sie das Schaf gefunden?“
Kleiner blickte mich mit seinem kahlgeschorenen Kopf herausfordernd an. Die linke Seite seines Kiefers war deformiert, wodurch sein Mund links stets listig zu lächeln schien, und seine Stimme hatte einen irritierenden nasalen Klang. „Ja“, antwortete er. „Lag dort mit aufgeschnittener Halsschlagader.“
„Haben Sie gesehen, wer oder was dem Schaf den Hals aufgeschnitten hat?“
„Nein, keine Ahnung. Hab’s so gefunden.“
Auch sonst wollte niemand etwas gesehen haben. Ich sagte, „Sie können jetzt essen, Treffpunkt um fünf Uhr dreißig marschbereit oben auf der Straße“, und beendete damit das Thema, zumindest für den Moment.
Doch ich traute ihm nicht, diesem Kleiner. Ich hatte die Gruppe erst bei Beginn der Verbandsausbildung vor einer Woche übernommen und er war mir sofort aufgefallen. Zwar wurde er von allen in der Kompanie respektiert und er leistete gute Arbeit, doch die Gerüchte ließen aufhorchen. Er sei Akkordmetzger, halte in seiner Wohnung eine fünf Meter lange Schlange, und einmal habe er sich im Schlachthof auf ein Pferd gesetzt und dieses so mit dem Bolzen geschossen. Kurz gesagt, er war mir unheimlich, und er war sicherlich der einzige hier, der wusste, wie man ein Schaf mit einem gezielten Schnitt tötet.
Während die Rekruten am Boden saßen und aßen, begab ich mich außer Hörweite und rief den Leutnant an. „Ja, ein totes Schaf, mit aufgeschnittenem Hals. Fragen Sie doch den Bauer, ob er davon wusste. Kleiner hatte die erste Wache und fand das Schaf so - sagt er zumindest. Klar, es gibt hier tagsüber auch Touristen und Wanderer und so. Aber von uns ist Kleiner der einzige, der es gewesen sein könnte, vor der ersten Wache hat sich niemand vom Biwak entfernt. Und Sie kennen ja die Geschichte mit dem Pferd.“
Kurz vor fünf Uhr dreißig kontrollierte ich auf dem Schlafplatz, dass nichts liegengeblieben war. Die Rekruten standen bereits oben auf der Straße und ich sah, dass der Piranha-Panzer gewendet wurde. Jede Gruppe verfügte über einen solchen Radschützenpanzer - eine Gruppe bestand aus einem Fahrer, einem Schützen und sechs bis acht Infanteristen. Unser Fahrer war Kleiner und er sollte allein zum Oberalppass fahren, während die anderen marschierten.
Plötzlich hörte ich ein schleifendes Geräusch, gefolgt von erschrockenen Ausrufen. Ich rannte hoch auf die Straße und sah, dass die Jungs aufgeregt um den Panzer standen. Die hinteren Räder des Fahrzeugs hingen in der Luft und drehten sich frei. „Er ist rückwärts auf einen Stein gefahren“, wurde ich informiert. Kleiner blickte ratlos aus der Fahrerluke.
Fluchend ging ich um das vierzehn Tonnen schwere Fahrzeug herum. Das Heck des Panzers saß auf einem Felsbrocken und die vier Räder an den Antriebsachsen hingen etwa einen halben Meter über dem Boden. Kleiner hatte wohl beim Wenden den Stein übersehen. „Kann passieren im Dunkeln“, verteidigte ihn Nägeli, der Schütze. „Hinten sieht man fast nichts. Vor ein paar Wochen hat einer beim Wenden einen Jeep mitgeschoben, hat’s nicht mal gemerkt.“
Ich drückte Rekrut Widmer, den ich für den intelligentesten hielt, eine Karte in die Hand und sagte ihm, er solle die Gruppe zum Oberalppass zu führen und ich käme nach, sobald wir das hier gelöst hätten. Als sie in Einerkolonne davongetrottet waren, zitierte ich Rekrut Kleiner aus dem Fahrzeug und erklärte ihm, dass ich von Panzern keine Ahnung habe und dass er sich jetzt sofort etwas einfallen lassen soll, um den Piranha von diesem Stein runterzuholen.
„Ich glaube, wir brauchen jemanden, um ihn abzuschleppen“, sagte er kleinlaut.
So einfach ließ ich mich aber nicht abwimmeln, denn ich wollte das Problem um jeden Preis schnell gelöst haben. Ich war damals zwanzig Jahre alt und unerfahren, und ich konnte den Kompaniekommandanten bereits hören, wenn ich ihm nach meinem ersten längeren Einsatz mit der Gruppe ein getötetes Schaf und einen aufgebockten Piranha beichten würde. Vom Gespött der Kollegen nicht zu sprechen, denn einen Piranha auf einen Stein zu setzen, hatte meines Wissens noch niemand geschafft.
Ich brüllte, „Sie sind verantwortlich für dieses Fahrzeug, also machen Sie das Ding jetzt ein-satzbereit, ist mir völlig egal wie“, und Kleiner antwortete verzweifelt, „soll ich den etwa von Hand runterschieben?“
Ich dachte in diesem Moment nur an den Ärger, den mir Kleiner noch einbringen würde, und der Klang seiner Stimme reizte mich zusätzlich. „Da drin hat’s doch einen Wagenheber?“ fragte ich barsch. „Holen Sie diesen und heben Sie hier auf dieser Seite, bis der Piranha vom Stein rutscht.“
Er verschwand im Panzer und kam mit einem großen Wagenheber wieder heraus, doch so einfach war es nicht. Der Fahrzeugboden lag hinten zu hoch für den Wagenheber, und als Kleiner das Gerät vorne ansetzte, konnte der Panzer nicht genügend gehoben werden.
„Setzen Sie den Wagenheber hinten unter die Räder“, sagte ich ungeduldig.
„Das würde ich nicht tun, da kann er wegrutschen“.
Unsanft schob ich ihn zur Seite, setzte den Wagenheber fluchend unter eines der Hinterräder und kurbelte hektisch hoch. Jetzt funktionierte es, der Panzer bewegte sich langsam auf dem Stein. Mit der Bewegung rutschte aber plötzlich der Wagenheber unter dem Rad weg und riss mich zu Boden. Wie in Zeitlupe sah ich, dass der Panzer auf meine Seite kippte und dass sich die Räder genau auf mich zu bewegten.
Kleiner reagierte blitzschnell. Er packte mich unter den Armen und riss mich zurück, bevor die Räder mit einem dumpfen Laut genau da landeten, wo ich gelegen hatte. Schockiert blieb ich am Boden liegen und starrte auf das Rad vor mir und realisierte allmählich, dass ich gerade mein Leben riskiert hatte.
Kleiner war hinter mir hingefallen und stand auf. „Glück gehabt“, kommentierte er trocken.
Ich kann nicht mehr sagen, ob es eine Sekunde oder eine Minute dauerte, bis ich mich aus meiner Starre löste. „Mann, Sie haben mich gerade gerettet, vielen Dank!“
„Ach was.“ Er winkte ab und seine Hand wanderte zur deformierten Stelle seines linken Kiefers, wohl unbewusst, denn plötzlich zog er sie ruckartig zurück.
„Ich bin Ihnen echt was schuldig“, sagte ich und musste mich zusammenreißen, um nicht vor Freude in die Luft zu springen, denn Euphorie überrollte mich plötzlich wie eine Welle.
Kleiner jedoch blickte nachdenklich auf die Räder, die mich beinahe erdrückt hätten. Er wirkte niedergeschlagen und es dauerte eine Weile, bis er antwortete. „Wissen Sie eigentlich, warum ich hier bin und mich freiwillig melde für die Nachtwache und alles?“ Er löste seinen Blick von den Rädern und sah mich an. „Weil ich für die Polizeiausbildung die Rekrutenschule absolvieren muss - und ich brauche eine gute Bewertung von Ihnen und dem Leutnant. Aber Sie werden sehen, irgendwas geht wieder schief, wie immer.“
Ohne ein weiteres Wort kletterte er auf den Panzer und stieg durch die Fahrerluke hinein. Die Hinterräder standen jetzt auf einer Seite auf dem Boden und das Fahrzeug ließ sich problemlos bewegen. Schweigend fuhren wir zum Oberalppass, ich lag hinten im Mannschaftsraum auf den Sitzen und konnte mein Glück kaum fassen.
Noch am selben Tag wurde Rekrut Kleiner wegen dem toten Schaf zum Kommandanten ins Büro befohlen und kehrte danach nicht mehr in unsere Kompanie zurück. Der Kommandant erklärte, dass Kleiner die Tat zwar bestreitet, doch die Militärpolizei habe ihn wegen dem Verdacht vom Militärdienst suspendiert. Auf meinen Protest erwiderte der Kommandant, er verstehe meinen Einwand, aber Sicherheit gehe in diesem Fall vor. Man könne sich schließlich keine Rekruten erlauben, die auf der Wache einem Schaf den Hals durchschneiden.