Das todbringende Schachbrett
Hallo! Ihr wollt eine Geschichte hören? Ihr wollt wissen, was damals in diesem Vorort von Paris im Jahre 1957 genau geschehen ist? Nun dieser abstrusen Neugierde, diesem Drang nach Wissen, welchem zweifelsohne auch ich zum Opfer gefallen bin, kann abgeholfen werden. So hört, was ich zu sagen habe:
Stundenlang sass er bereits da. Das hatte nichts erstaunliches an sich, denn er pflegte jedes Wochenende hier in der Abgeschiedenheit zu sitzen und nachzudenken. Er war in der Tat ein eher stiller und in sich geschlossener Geselle. Nicht das er Züge eines Misanthropen mit sich brachte, davon kann keine Rede sein, doch scheute er ohne jeglichen Zweifel die Masse.
Höchst selten war er bei festlichen Anlässen oder Gemeinschaftsabenden seiner Freunde anwesend. Freunde hatte er bemerkenswerterweise en masse, vermochte diesen Umstand jedoch zu keiner Zeit zu schätzen. Die Schule stand bei ihm stets im Vordergrund, was die Pflege von Freundschaften klar ins Abseits beförderte. Denn hatte er einmal nichts zu tun, so zog er es vor sich mit sich Selbst zu beschäftigen, und so war dieser angenehm stille Ort im Grünen gerade zu optimal für ihn.
Der Name besagter Person lautet übrigens Armand. Ein sehr auffälliger Name, was mit seinem Charakter in keiner Weise zu vereinbaren ist.
Nun, dieser Armand ist ein eindeutiges Musterbeispiel für Leute, welche zum einen hervorragende Eigenschaften besitzen, überall vom Erfolg angezogen werden, es zum andern jedoch nicht schaffen, sich in die Gesellschaft des heutigen Zeitalters einzugliedern und richtig Fuss zu fassen.
Dies will nicht heissen, dass Armand ein exzentrischer Mensch wäre, im Gegenteil: In der Schule immer überragend gute Noten, beliebt bei den Lehrern, willkommen bei den Verwandten, begabt im musischen Bereich und zu allem Überfluss noch einer der grössten französischen Hoffnungsträger im Nachwuchsbereich des König
der Spiele, Schach.
Manch einer würde alles für solche Talente hergeben, doch Armand zerbrach mehr und mehr an ihnen.
Es begann ein grenzenloser Hass gegen die Menschheit in ihm zu keimen, welcher von Tag zu Tag grössere Ausmasse annahm.
Was in aller Welt wollten eigentlich all diese Leute von ihm? Die Lehrer erwarteten immer grössere schulische Glanzleistungen von ihm, im Schach erhoffte man sich schier unmögliches und Zuhause war durchgehendes, tadellos anständiges, bis zum Wahnsinn treibendes, würdevolles Benehmen Pflicht.
Sprich: Der Druck nahm von allen Seiten unaufhaltsam zu.
Der ausschlaggebende Grund zur Eskalation war jedoch sein eigener Ehrgeiz.
Seine persönlichen Ziele wurden stets höher und stiessen somit an die Grenze des Möglichen. Armand musste mit einem Mal die schmerzhafte Erfahrung machen, dass er all den Erwartungen, all dem Druck nicht gewachsen war. Dieser Tatsache konnte er einfach keinen Glauben schenken.
Er wollte nicht kapitulieren!
Der Spruch “gewinnst du einmal, so gewinnst du immer,“ den er seit klein auf in seinem Herzen getragen und als seinen Leitfaden durchs Leben betrachtet hatte, fiel in sich zu zusammen wie ein aus Spielkarten erbautes Schloss.
Und so reifte ein grausamer Plan in seinen Gedanken. Armand hatte demnach den Entschluss gefasst, von anderen zu fordern, von anderen zu erwarten und andere zu tyrannisieren. Er wollte sie alle leiden sehen, er wollte sehen, wie sie seine Erwartungen nicht erfüllen könnten und dafür bestraft würden.
Dies auf grausamste Art und Weise, versteht sich.
Sein Plan war es, 32 seiner verhasstesten Bekannten auf einem überdimensional grossen Schachbrett zu versammeln. Er höchstpersönlich würde die Partie spielen, sowohl auf der Seite von Weiss, als auch auf der Seite von Schwarz agieren.
In der Hand würde er einen Bogen halten und auf dem Rücken trüge er einen mit Pfeilen bestückten Köcher.
Ein Perfektionist wie er war, hatte er selbstredend bereits alles bis ins letzte Detail geplant.
Ein halbes Jahr war er mit unvergleichlichem Eifer dem Bogenschiessen nachgegangen, gönnte sich in seiner sonst doch schon so knapp bemessenen Freizeit kaum eine Ruhepause und hatte, wie es nun einmal seine Art war, einen stetig wachsenden Erfolg zu verzeichnen.
Sein Fleiss, seine Unnachgiebigkeit und sein Durchhaltevermögen waren für eben genannten Erfolg nicht nur ausschlaggebend, sondern sogar unverzichtbar.
Hier ist sicherlich noch anzumerken, dass das ganze Prozedere völlig geheim durchgeführt wurde. Auf dem Landsitz der reichen Familie Armand`s um konkreter zu werden.
Der Gedanke, seine Hauptfreizeitaktivitäten- Schach und Bogenschiessen- zu kombinieren, um damit den unvermeidbaren Racheakt an der Menschheit zu vollziehen, schien für Armand der grösste Geniestreich seines noch so jungen Lebens darzustellen.
Doch wie brachte er es fertig, 32 Leute an einem Abend, an einem abgeschiedenen Ort zu versammeln und zugleich ihm Untertan zu machen, fragt ihr euch womöglich?
Nun, nichts leichter als das. Lehrer, Freunde, Verwandte; alle waren sie auf eine hysterisch anmutende Weise fasziniert von Armand, so dass sie nur zu gern einer Einladung dieses jungen Hoffnungsträgers Folge leisten würden.
So geschah es dann auch. Als Grund für die Einladung wurde ein erst kürzlich gewonnenes Schachturnier genannt.
Am 17. Juli des Jahres 1957 lud Armand zu einem Galaabend im Schloss seiner bereits lang verstorbenen reichen Grosseltern ein:
- 12 Lehrer
- 10 Verwandte
- 5 Freunde
- 5 Schachveteranen
Dass so eine Einladung des sonst so zurückhaltenden Jungsporns überaus untypisch war, fiel zum Unglück der Gäste niemandem auf.
Das Fest war in vollem Gange, als Armand den schon leicht angeheiterten Gästen das Highlight des Abends verkündete.
Armand liess via Lostopf die Parteien Schwarz und Weiss ermitteln. Man war allgemein übrigens hell begeistert und überaus entzückt von der ganzen Angelegenheit.
Er liess seine Gäste in den traditionellen und äusserst pompös wirkenden Spielsaal des Schlosses eintreten, wo unter lautem Gejohle und anerkennenden Oho-Rufen die Positionen auf dem seit Ewigkeiten bestehenden, in der Tat überdimensionalen Schachbrett eingenommen wurden.
Armand blickte in die durch voller Erwartung geprägten Visagen und mit einem Mal überkam ihn eine Woge des Stolzes. Er war fast am Ziel...
Mit feierlicher Miene kündigte er den Beginn des Spiels an und forderte einen der Lehrer, der die Rolle eines Bauern verkörperte auf, zwei Felder nach vorne zu marschieren.
Dieser tat wie ihm befohlen und schritt mit einem sich übers ganze Gesicht ausdehnenden, überaus vergnüglichem Grinsen zum angegebenen Ziel, wusste er doch nicht was ihm noch bevorstand.
Als nächstes beorderte er einen Schachkollegen mit auffallend grossem Gebiss, welchem die Aufgabe einen Springer zu spielen zugewiesen wurde, die altbekannte L-Bewegung auszuführen. Der Bauer vor ihm wollte schon galant zur Seite weichen um den Springer vorbeizulassen, als Armand ihn zurechtwies.
Er erinnerte den mit den Schachregeln einwandfrei vertrauten Kollegen daran, dass ein Springer die anderen Figuren überspringt. Dies berührte den armen Springer übrigens sehr. Ein vergnügliches Gelächter erfüllte den Saal, als der arme Springer versuchte den Zug Armands auszuführen und demnach den äusserst gross gewachsenen Bauer vor ihm zu überspringen und dies dazu in der L-Bewegung. Nach mehreren gescheiterten Versuchen musste er Armand seine Hilflosigkeit eingestehen.
Durch diese Geschehnisse wuchs das Selbstvertrauen und eine gewisse innere Befriedigung in Armand.
Die Figuren beziehungsweise Gäste, welche geschlagen wurden, durften den Saal verlassen und sich wieder am reichlich gedeckten Buffet oder auf der Tanzfläche vergnügen.
Immer wieder machte Armand nach einigen getanen Zügen jemanden der Gesellschaft aufs gröbste lächerlich, um zu zeigen, dass er der Herr im Hause so wie auch stets Herr der Lage war.
Je fortgeschrittener der Spielverlauf, desto verbissener kämpfte Armand auf beiden Seiten.
Da er jedoch Spieler beider Parteien war, wusste er mit der einen Farbe stets die Angriffspläne der anderen Farbe zu vereiteln. Dieser Sachverhalt brachte ihn immer mehr zur panischen Verzweiflung, da keine Seite entscheidende Gewinne zu erzielen vermochte und das Ganze auf ein Remis hinauszulaufen schien.
Es mag nun sicherlich etwas naiv und töricht klingen, doch dadurch, dass Weiss auf dem Schachbrett der schwarzen Seite nicht unterlegen war, gewann auch der gute Geist im Kopf Armands immer mehr an Boden, so dass sich Gut und Böse die Waage hielten und somit auch die Absichten so wie Gedanken des Armand auf ein Remis zusteuerten.
Sehen wir uns bei dieser Gelegenheit den Gedankengang unseres Protagonisten etwas genauer an. Wie folgt muss es sich etwa abgespielt haben:
- „Armand, bald hast du es geschafft! Diese miesen, dreckigen Heuchler werden eines grausamen Todes sterben. Nachdem dieses überflüssige Schachspiel endlich zu Ende ist, wirst du im Hauptsaal von allen Seiten die Türen verriegeln und von der Erhebung im westlichen Teil des Saales ausnahmslos jedem dieser Gesellschaft einen Pfeil ins Herz schiessen, so wie du es nun monatelang geübt und geplant hast!“
- „Nein Armand, das kannst du nicht machen! Mag sein, dass diese Menschen dich dein Leben lang getrimmt und auf eine zweifelsohne perfide Weise gefördert haben, doch du kannst aus diesem Grund doch kein Massaker anrichten. Armand, besinne dich deiner stets gelobten Tugenden!“
- „Armand, du musst dem jetzt ein Ende setzen. Du hast doch nicht umsonst jedes Detail beachtet, geplant und dich innerlich gelobt, nur damit du nun doch noch schwach wirst! Lass diese Schweinehunde fühlen, lass sie wissen, was sie verschuldet haben!“
- „Wenn du jetzt schiesst, Armand, dann hast du endgültig verloren!“
Unzählige Schweisstropfen rannen Armand über das Gesicht, seine Gesichtsfarbe nahm einen überaus blassen Teint an und ein tiefer, undurchdringbarer Schleier des Schwindels legte sich über Armand. Mit einem Mal sah er nur noch alles verschwommen und knickte ein...
Der Saal geriet in helle Aufruhr. Die Leute verliessen ihre Positionen auf dem Schachbrett und hielten Ausschau nach einem mit der Medizin vertrauten Helfer.
Es zeigte sich, dass sich ein diesbezüglich fachkundiger Mann unter der Gesellschaft befand, welcher sich nun eifrig daranmachte, Armand wieder ins Bewusstsein zu rufen.
Der erste Gedanke, welcher Armand kam als er sein Bewusstsein wieder erlangt hatte, war: „Niederlage“
Warum hatte er bloss verzagt? Oder hatte er gar nicht verzagt, hatte er womöglich gewonnen? Mit einem Mal erlag Armand einem Sog der Gefühle und eine nicht enden wollende Pein erfüllte ihn. Armand brach zur absoluten Verwunderung der Gäste in hemmungsloses Weinen aus.
Als nur noch einzelne Tränen ihre Linien schlugen, sammelte Armand seinen ganzen Mut und begann anfänglich äusserst stockend, doch mit der Zeit immer klarer zu reden.
Mehrmals unterbrochen von neuerlichen Weinkrämpfen, zogen sich die Erklärungen des Jungen dahin...
Es musste schon früh am nächsten Morgen gewesen sein, als Armand seine Gäste vollends aufgeklärt hatte, ihnen seine Absichten dargelegt hatte und sich aufmachte, seinen Bogen und Köcher mit den Pfeilen zu präsentieren.
Viele der Gäste waren ob dem gehörten vollkommen perplex und aufs tiefste erschüttert. Manche lagen völlig konsterniert am Boden und blickten ins Leere. Einigen- vor allem Angehörigen der Familie- standen die Tränen in den Augen. Mit anderen Worten: Es herrschte eine Ratlosigkeit obersten Grades.
Da geschah etwas für alle Beteiligten derart unerwartetes, dass keiner der Anwesenden in der Lage gewesen wäre, auf das nun passierende zu reagieren.
Der beim Schachspiel arg gepeinigte Schachfreund Armands lief mit zornesrotem Gesicht und hasserfüllten Augen, wie sie in dieser Form wohl noch kein Mensch dieser Erde erblickt hat, in Richtung Bogenausrüstung, zückte einen Pfeil, spannte den Bogen und schoss Armand mitten ins Gesicht.
Bei der Entfernung muss es sich um etwa 3 Meter gehandelt haben, dies erklärt den Trefferfolg des Attentäters. Einzelne schrien als sie die Blutrinnsale auf des Gastgebers Gesicht dahinfliessen sahen, doch bewies leider Gottes kein einziger die Geistesgegenwart um Gerard- so der Name des Schachfreundes- daran zu hindern, noch einen zweiten Pfeil abzuschiessen.
Alsbald hörte man ein leises, aber doch gut hörbares Sirren, welches Armand aber auch dem Rest der Gesellschaft wie eine Ewigkeit vorgekommen sein muss.
Der Pfeil rammte sich mit einer unwahrscheinlichen Genauigkeit in Armands Herz. Mittlerweile war Gerard überwunden worden, doch was änderte dies?
Die Welt hatte ein Genie verloren. Ein Genie, welches gerade den grössten Sieg seines Lebens feiern konnte: Die Einsicht!
Kurz bevor Armand verstarb, kam ihm ein sanfter, in seiner Stärke jedoch nicht zu unterschätzender Lichtstrahl entgegen.
Der russische Schriftsteller Dostojewski, unzweifelhaft Armands grösstes Idol, kam mit sanften Schritte zu Armand und gebrauchte die Worte: „So höre Armand. Du hast wohl dein Leben verloren, doch obsiegtest du dem Bösen in dem du zur Einsicht kamst.“
Unmittelbar danach kamen Armand die Worte des deutschen Schriftstellers Erich Limpach in den Sinn, welcher einst sagte: „Mancher muss die Freiheit verlieren, um die Einsicht zu gewinnen“
Obwohl Armand im Sterben lag, dachte er nach den gehörten Worten, dass dies in der Tat der schönste Moment seines Lebens war.
[ 19.06.2002, 09:47: Beitrag editiert von: Pandora ]