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Das Ticket
Go1000 schaut sich eine Relevanz-Checkliste auf seinem Smartphone an und überprüft seine Leistungen.
- IQ über 130 CHECK
- Keine Krankheiten CHECK
- Keine Allergien CHECK
- Bestehe den Medizintest CHECK
- Absolviere drei Ultratriathlons in einem Monat CHECK
- Überlebe einen Krieg CHECK
- Sei ohne Vorstrafen CHECK
- Engagiere dich in sozialen Projekten CHECK
- Rette anderen Menschen das Leben CHECK
- Erreiche den Darwin-Tower und absolviere 5 Tests
- Löse dein Ticket
„Die Reise in ein langes, sicheres Leben! Hast du das Zeug dafür? Dann reiche alle notwendigen Bewerbungsdokumente und Unterlagen PERSÖNLICH ein und du erhältst eines von nur 1000 Tickets für die MS Darwin Europa.“ Go1000 scrollt auf seinem Handy und liest das Kleingedruckte. „Die 99 besten Bewerber erhalten zudem einen Spitzen-Preis.“
Anschließend scrollt er durch die anderen Fotos. Er lächelt leicht verliebt, als er das Foto seiner Frau sieht. „Dich nehme ich mit auf die Arche! Angeblich dürfen die Spitzenpreisgewinner eine Person ihrer Wahl mit auf die Reise nehmen. Ich hoffe, das Gerücht stimmt“, sagt er. Dann wischt er weiter und blickt auf ein Bild, auf dem ein junger Mann mit einer Kamera zu sehen ist. „Danke Mac, dass du die Videoaufnahmen gemacht und alles dokumentiert hast. Ohne dich hätte ich den Bürgerkrieg in Deutschland nie überlebt und keinen Beweis! Schade, dass du den Dreh nicht überlebt hast, guter Freund! Nur wegen dir gehöre ich zu den Finalisten!“, denkt er.
Als es unruhiger wird, legt er das Handy weg und blickt sich um. Neben ihm stehen Tausende, die es alle bis in dieses Startlevel geschafft haben. Im Hintergrund hört er die Schreie der Menschen, die an dem großen Grenzzaun mit Schusswaffen zurückgedrängt werden.
„Kein Zugang ohne Ticket. Und dennoch so viele Gegner alleine für Europa. Tja, bei über 1,5 Milliarden Europäer gibt es auch viele starke Gegner! Das Gerangel um ein Ticket für die MS Darwin Asia wird noch brutaler sein ...“, denkt er und schaut in den Himmel. „14 Uhr. Schwarz, wie seit Monaten. Das Ticket für diese Reise ist meine letzte Chance.“
Dann richtet er seinen Blick nach vorne: Der gläserne Darwin-Tower am Rande von London. Der höchste Turm Europas inmitten einer Militärbasis. Unweit des Towers erblickt er ein gigantisches Space Shuttle mit der Aufschrift MS DARWIN.
***
Eine Durchsage erfolgt und eine Frauenstimme ist zu hören. „Werte Teilnehmer und Teilnehmerinnen. Sie haben es bis hierhin geschafft. Sie gehören zu den Besten Ihres Kontinents. Hier in Europa sind es 15000 Mitspieler, die alle Kriterien erfüllt haben. Sie haben nun die Chance, ein Ticket für die Arche zu gewinnen. Wenn Sie es bis auf die Spitze des Towers schaffen und die letzten Hürden nehmen, dann winkt Ihnen ein langes, sicheres Leben! Bitte denken Sie daran, dass alle Mitspielenden ihren USB mitführen müssen. Ansonsten droht die Eliminierung. Lasset die Spiele beginnen.“
Go1000 küsst ein letztes Mal seinen anthrazit funkelnden USB-Stick, den er um den Hals trägt. Es ertönt ein Pfiff.
Wieder spricht dieselbe Stimme. „Level 1 beginnt jetzt! Die Regel ist einfach. Gelangt in fünf Minuten auf die andere Seite!“
In dem Moment beginnt der Boden unter dem Teilnehmerfeld zu wackeln. Vor ihnen öffnet sich der Boden. Viele Teilnehmer wirken nervös, als sie registrieren, dass sie sich auf einem Spielfeld befinden.
„Qué es eso?“,ruft ein Mann, der sich die Augen reibt.
„Merde!“, brüllt eine sportliche, blonde Frau, die direkt neben Go1000 steht.
Nach wenigen Sekunden wird eine tiefe Schlucht sichtbar.
„Das sind bestimmt sechs oder sieben Meter!“, denkt sich Go1000 und beobachtet die anderen. Er blickt den Abgrund hinunter. „Zu tief! Keine Zeit zum Klettern!“
Im Hintergrund ertönt die weibliche Stimme. „Noch 270 Sekunden. 269, 268 …“
In diesem Moment nimmt der spanisch sprechende Mann Anlauf und versucht, auf die andere Seite zu springen. Kurz vor der Schlucht rutscht er aus und stürzt in den Abgrund.
„No!“, ist das letzte, was Go1000 von ihm hört, dann folgt der dumpfe Aufprall.
Als er nach unten blickt, rauscht plötzlich die blonde Frau an ihm vorbei. Sie springt einen hohen Bogen. Sie kann sich gerade so an der anderen Seite hochziehen. Immer mehr Männer und Frauen nehmen Anlauf und springen. Wenige schaffen es. Die meisten erreichen knapp die andere Seite, können aber nicht hochklettern oder knallen direkt gegen den Vorsprung.
„Noch 100 Sekunden!“, sagt die Stimme aus der Durchsage.
Go 1000 nimmt Anlauf. Er läuft so schnell, wie er kann, und springt im letztmöglichen Moment ab.
„Geschafft. Nur mein Fuß tut etwas weh. Egal. Weiter!“ Nach kurzer Zeit ertönt ein Pfiff. Go1000 sieht sich um. „Noch sind einige dabei, aber deutlich weniger als die Hälfte“, denkt er.
Auf der anderen Seite stehen immer noch ein paar Männer und Frauen. Einige von ihnen kehren mit gesenkten Köpfen um, andere blicken den Abgrund herunter, so wie Go1000, der am Boden Hunderte Leichen entdeckt. Das Seufzen eines Mannes reißt ihn aus seinen Gedanken. „Mein USB-Stick. Oh nein. Mein Stick. Verdammt! Wo ist er? Wo?“ Der Mann kramt in seinen Taschen und läuft auf und ab. „Oh nein. Das war‘s!“
Dann wieder eine Durchsage. „Bitte strecken Sie jetzt Ihren USB-Stick in die Luft, wenn Sie es auf die andere Seite geschafft haben.“
Go1000 checkt seinen Hals und fühlt, ob sein Stick noch dort hängt. „Alles gut!“, flüstert er und küsst ihn.
Es erfolgt eine kurze Pause. Dann hört man wieder die weibliche Stimme. „Es sind 6891 Menschen im Rennen um die Traumtickets. Ein Teilnehmer ist ausgeschieden, weil er die notwendigen Unterlagen verloren hat. Seien Sie aufmerksam!“
Der ältere Mann läuft kreidebleich an und wirft sich auf den Boden. „Nein! Nein! Alles vorbei!“
Gerade als Go1000 ihm die Hand reichen will, steht der Mann auf. Er blickt in den leuchtenden Himmel und vernimmt mehrere explosionsartige Geräusche. „Game Over“, flüstert der Mann und springt ohne Vorwarnung den Abgrund hinunter.
„Bitte nicht!“, möchte Go1000 rufen. Doch es ist zu spät. Am Horizont erkennt Go1000 ein paar Raketen, die in den Süden geschossen werden. "Jetzt auch das noch! Die totale Apokalypse! Gemacht von der Natur und den Menschen", denkt er.
***
Dann ertönt die weibliche Stimme.
„Wir starten mit Level 2, der Treppenlauf. Wer in unter zehn Minuten den 70. Stock erreicht, ist eine Runde weiter. In einer Minute beginnen wir.
Go blickt auf seine Konkurrenz.
„Mist. Das sind fast 7000 Leute für ein enges Treppenhaus! Da muss ich vorne dabei sein, ansonsten blockieren wir uns.“
Während viele Menschen noch vor dem Start von Level 2 nach Luft schnappen, wirken Go1000 und die Frau mit den blonden Haaren und dem französischen Akzent noch erholt.
„Bonne Chance. Hoffentlich hilft uns unsere jeunesse!“, sagt sie und zwinkert ihm zu.
Als der Pfiff ertönt, werden Go1000 und die Frau von einer großen Gruppe, die hauptsächlich aus jungen Männern besteht, überholt. Go1000 erkennt auch einige wenige Frauen unter ihnen.
„Ce n’est pas juste. Das sind Profisportler. Ich kenne einige aus dem Fernsehen! Einige sind Olympioniken“, ruft die Frau. „Das sind bestimmt 500!“
„Egal. Hauptsache, die Zeit reicht! “, ruft Go1000 ihr zu.
„Oui. Tu as raison!“
Als die beiden die erste Stufe des Gebäudes erreichen, blickt Go1000 zurück.
„Wir sind trotzdem weit vorne!“, ruft die Frau.
Die gläsernen Stufen sind nicht sehr breit. Plötzlich ein Schrei. Beinahe stolpert Go1000 über einen der jungen Männer, der bewusstlos mitten auf den Stufen liegt. Er trägt ein Manchester United-Trikot. Sein Kopf blutet.
„Es ist viel zu eng!“, ruft Go1000 der Frau zu und springt über den Körper des Mannes.
Von unten hören sie Geschrei.
„Mach schneller, du Idiot! Du hältst alle auf!“, kreischt eine Frauenstimme.
Go1000 blickt nicht zurück, nur nach vorne. Wieder ist eine Durchsage zu hören. „Noch fünf Minuten!“ Das Atmen fällt Go1000 deutlich schwerer. Er sieht, wie die blonde Frau ihn überholt und dabei lächelt. Sie feuert Go1000 und einen anderen, etwas jüngeren Mann mit Zopf an. Dieser Mann trägt eine Brille und einen Vollbart. Dann spurtet die Frau, ohne sich umzublicken, nach oben. Wieder ein Schrei.
„Au!“ Der Mann mit dem Zopf ist umgeknickt und bleibt stehen.
„Was ist?“, fragt Go1000.
„Alles gut. Geht gleich weiter!“
Während Go1000 weiterläuft, sieht er, wie immer mehr Menschen von dem Mann blockiert werden.
„Estúpido!“, ruft ein großer, kräftiger Mann hinter ihm. „Mas rapido!“. Doch der Mann mit dem Zopf verlangsamt sein Tempo. Als der andere ihn überholen möchte, bleiben beide für einen Moment stecken und erzeugen einen Stau im Treppenhaus.
„Noch drei Minuten!“, mahnt die Stimme aus den Lautsprechern.
Go1000 bleibt einen Moment zögerlich stehen. Als er dem Mann mit dem Zopf die Hand reicht, schlägt der große Mann, von hinten auf ihn ein.
„I kill you. Estúpido!“
Immer mehr Leute treten den Mann von hinten und ziehen an seinen Haaren. Ein älterer Mann mit Brille reißt von hinten an seinem Bart, bis der junge Mann zu Boden geht. Er verliert dabei seine Brille. Anschließend wird der Mann mit dem Zopf von den anderen Teilnehmern überrannt. Viele springen über ihn und stürmen an Go1000 vorbei. Als Go1000 abwartet, wird er von einer Teilnehmerin zur Seite gestoßen. Der Mann am Boden ist kaum noch zu sehen.
„Nein! Ah!“, schreit er. Dann Schweigen. Nichts.
„Noch zwei Minuten!“, tönt es aus den Lautsprechern.
Als Go 1000 die Durchsage hört, rennt er weiter, dicht verfolgt von dem Mob. Sein Fuß schmerzt. „Das muss beim Sprung passiert sein. Es tut so weh!“ Die Angst, von anderen Teilnehmern nach hinten gerissen zu werden, wächst in ihm. „Niemand darf sehen, dass ich verletzt bin!“ Er schaut sich um, während immer mehr Leute an ihm vorbeirennen.
Er versucht, außen zu gehen, damit er niemanden blockiert.
„Noch eine Minute!“
Go1000 weint. „Ich schaffe das nicht!“
„Hier ist das Ziel!“, ruft in diesem Augenblick ein Mann von oben.
Go1000 lächelt kurz, doch er spürt seinen Fuß nicht mehr. Die letzten Stufen kriecht er hoch. „Außen bleiben, Außen bleiben! Niemanden blockieren. Bitte zieht mich nicht runter!“, denkt er.
„Noch 10, 9, 8…!“, hallt es aus den Lautsprechern.
Go1000 entdeckt die letzten Stufen. Er steht auf und springt. Dann ein Pfiff. Aus und vorbei. Go1000 hebt den Kopf und blickt auf die Beschriftung. „Stockwerk 70. Geschafft!“, brabbelt er und japst dabei.
„Bitte nicht bewegen. Wir werten aus!“ Dann folgt eine kurze Pause. „Go1000 ist der letzte Qualifikant. 30 Minuten Pause. Dann geht es weiter. Allen Ausgeschiedenen bieten wir die Möglichkeit der Umkehr. Viel Erfolg dabei.“
Go1000 blickt in das Gesicht einer Frau, zwischen Ende 30 und Anfang 40. „Nur 5 oder 6 Stufen!“, murmelt sie. „Scheiße!“ Sie senkt ihren Kopf und kehrt um. Go1000 sieht, wie sie über Schwerverletzte klettert, die am Boden stöhnen. Die Frau beachtet sie nicht.
Dann öffnet sich oben eine Tür.
„Bitte eintreten. Wir haben noch 2989 Teilnehmer und Teilnehmerinnen.“ Die Stimme räuspert sich. „Es gab einen unfreiwilligen Exit …us. Ich korrigiere. 2988 Teilnehmer und Teilnehmerinnen. Ich wiederhole noch 2988 Teilnehmer und Teilnehmerinnen für Level 3.“
Go 1000 steht auf und humpelt als Letzter durch die Tür, die in eine große Halle führt. Er entdeckt dort die französisch sprechende Frau wieder. Sie lächelt ihn an. Gerade als er ihr zuwinken möchte, ertönt die Durchsage. „Level 3 beginnt. Ab sofort bitte nicht mehr reden. Wer kommuniziert, indem er Tipps gibt, scheidet aus. Treten Sie bitte einzeln durch die Schleuse, wenn Sie aufgerufen werden, und entscheiden Sie sich für eine Tür.“
Die Durchsage endet. Viele Teilnehmer drehen sich um.
Go1000 versucht, Blicken auszuweichen. „Einfach die Fresse halten! Niemanden angucken!“
Immer mehr Personen werden aufgerufen und verschwinden nacheinander durch die Schleuse. „Jolie1407 bitte eintreten!“
Go1000 sieht, wie die französisch sprechende Frau in der Schleuse verschwindet.
„Go1000!“
Er ist an der Reihe und begibt sich zur Schleuse, während der große, kräftige Mann von vorhin auf seinen angeschwollenen Fuß blickt. „Estás perdido, hombre!“ Als die Schleuse sich hinter ihm schließt, humpelt Go1000 einen Gang entlang, bis er vor zwei großen Türen mit der jeweiligen Aufschrift 1 und 2 stehen bleibt.
„Teilnehmer, du hast 20 Sekunden Zeit, dich für eine Tür zu entscheiden. Beide Türen führen in einen Raum, in dem du einen Tag überleben musst. Hinter Tür 1 befinden sich 100 Löwen, die vier Wochen nichts gegessen haben. Hinter Tür 2 befindet sich ein 40 Quadratmeter großer Raum. Wähle jetzt!“
Go1000 stellt sich zuerst vor Tür 2 und überlegt. „Was ist, wenn alle hier rein gehen? Die Luft wird nicht ausreichen!“ Er versucht, an den Türen zu lauschen. „Sie sind schalldicht. Ich höre gar nichts!“ Go1000 sieht, wie die Zeit rennt. „Noch 5 Sekunden! Das ist bestimmt eine Falle.“
Er entscheidet sich kurz vor Ablauf für Tür Nummer 1.
***
Tür 1 öffnet sich und er tritt ein. Ein bestialischer Geruch tritt ihm entgegen. Er schaut sich um. Vor ihm stehen in einer etwas größeren Halle Hunderte Menschen, von denen sich viele die Nase zu halten.
„Hier herrscht viel Platz!“, denkt er. Schnell entdeckt er Jolie1407 wieder, deren Gesicht mit Blut beschmiert ist.
„Du bist sehr intelligent, Chéri! Die Löwen waren entweder tot oder sehr schwach. In dem anderen Raum werden sie alle ersticken, weil er zu klein ist. Wir haben gut gewählt.“
„Das habe ich mir auch gedacht“, sagt Go1000 lächelnd. „Viele sind wohl darauf reingefallen. Und was ist mit den Löwen?“
„Nur fünf waren noch am Leben. Kannibalen und Aasfresser! Sonst wären sie längst verhungert. Aber sie waren trotzdem schwach. Sie haben nur drei von uns getötet, aber dann kam zum Glück Zon666 und hat sie erwürgt.“
„Zon666?“, fragt Go1000 nach.
Jolie1407 weist mit ihrem Kopf auf einen großen Mann, Ende 50, mit schwarzer Hautfarbe dessen Gesicht mit mehreren Kreuzen tätowiert ist. „Er ist Pole und sehr stark, ein netter und guter Mann.“
Go1000 nickt und begibt sich nach vorne. Dort erblickt er die leblosen Körper von zwei Frauen. „Und wo ist der dritte Tote?“, fragt er.
„Sein Kopf liegt dahinten unter dem großen Vieh!“, entgegnet der ältere Mann mit der Brille aus dem Turm, der Go1000 nicht wiederzuerkennen scheint. Go1000 erblickt nun die Kadaver der Löwen. Er muss mehrfach würgen, als der Geruch in seine Nase steigt. „Das wird ein langer Tag!“, sagt er erschöpft. Er schnappt sich einen der toten Löwen, und lehnt sich trotz des Gestanks an ihn.
"Schlafen! Kräfte sparen!“ Er schließt die Augen.
***
Am nächsten Tag wird er wieder durch die weibliche Stimme aus den Lautsprechern geweckt.
„Ich gratuliere. Sie gehören zu den 1813 Menschen, die sich für den richtigen Raum entschieden haben. Alle anderen sind leider erstickt oder wurden zu Tode gequetscht. Sie aber sind nun bereit für Level 4. Glückwunsch. Wenn Sie die nächste Minute überleben, erreichen Sie das letzte Level. Viel Glück.“
Als Go1000 in das ratlose Gesicht einer älteren Frau blickt, bohren sich Metallrohre durch die Wände.
„Das ist der Lauf einer Waffe. Fuck!“, brüllt Zon666. „Die schießen auf uns!“
Es ertönen Schüsse. Go1000 wirft sich auf den Boden, während Hunderte Salven abgefeuert werden. Er schaut in das Gesicht der älteren Frau, die ihm nun scheinbar lächelnd gegenüberliegt. Ihr Gesicht ist starr und regt sich nicht.
„Ihre Schläfe, sie blutet“, denkt er.
Go1000 beobachtet Jolie1407 und den kräftigen Mann, die sich unter Löwenkadavern verstecken.
„Gute Idee!“ Go1000 zieht den leblosen Körper der älteren Frau an sich heran und vergräbt sich unter ihm. Dann schließt er die Augen und betet.
Ein Pfiff ertönt.
„Vorbei!“, denkt er.
Wieder spricht die Frauenstimme. „Werte Teilnehmer, falls Sie noch leben, stehen Sie bitte auf.“
Das Ohr von Go1000 piepst in einem schrillen Ton. Ganz dumpf hört er winselnde und stöhnende Stimmen. Er reibt sich die Augen. Er nimmt nur ganz verschwommene Silhouetten wahr. Einige Teilnehmer krümmen sich am Boden. Die meisten Menschen sind von mehreren Kugeln durchlöchert und regen sich nicht. Go1000 atmet hektisch. „Sie haben noch 30 Sekunden, um aufzustehen! Danach entblößen Sie sich bitte. Wir werden überprüfen, ob Sie nicht verwundet wurden. Glück ist in der Evolution ein entscheidender Faktor. Wer Glück hatte, tritt bitte durch die Tür zum letzten Level.“
Go1000 reißt sich die blutverschmierten Klamotten vom Leib und tastet seinen Körper ab. Seine Gedanken rasen. „Blut. Oh nein. Doch nicht meins. Puh. Nein. Das kann man abwischen. Nichts. Gar nichts! Glück gehabt!“ Er blickt zu Jolie rüber und nickt ihr zu. Auch sie lächelt und blickt anschließend verschämt zur Seite. Gerade als Go1000 sich entschuldigen will, sieht er, wie der kräftige, spanischsprechende Mann immer wieder über sein starkblutendes Ohr fährt.
„No! No!”, ruft er. „Nicht von mir! Nicht von mir! Nicht mein Blut. No! No!“
Die Blutung hört nicht auf. Während er versucht, sie zu stoppen, verliert der Mann das Gleichgewicht und knallt auf den Boden. „No!“
„Wer nicht verwundet ist, geht jetzt bitte durch die Tür. Im Nebenraum werden Sie später in einem MRT näher untersucht. Betrug wird entlarvt“. Also versuchen Sie es gar nicht. Hier sind überall Kameras“, sagt die Stimme.
Dann tritt Go1000 mit Zon666, Jolie 1407 und weiteren Teilnehmern in den Nebenraum, während der spanischsprechende Mann mit den anderen Verletzten zurückbleibt.
***
„Doch bevor wir Sie untersuchen, wollen wir Ihnen kurz gratulieren. Sie gehören zu den 109 Besten aus ganz Europa.“ Die nackten Teilnehmer blicken auf einen Monitor, der noch ausgeschaltet ist. „Sie sind intelligent, sportlich, zäh, waren bis eben sehr gesund. Sie sind erfolgreich und Sie haben das notwendige Glück. Sie sind nur einen Schritt davor, um unsere Spezies auch nach der Apokalypse auf unserer Arche zu repräsentieren. Es fehlt nur noch ein Kriterium, damit wir Sie mit auf die Arche nehmen. Die Moral!“
Der Bildschirm geht an. Go1000 erkennt eine Videoaufnahme von sich aus dem Treppenhaus. In einer Szene wird gezeigt, wie der ältere Mann mit der Brille, den jüngeren mit dem Zopf tritt und umreißt. Als der ältere Mann sich dabei beobachtet und sieht, wie schwer er den Mann mit dem Zopf verletzt hat, beginnt er zu weinen.
„Wir haben uns die Videoaufnahmen aus den Übungen angeguckt. Verbrecher und Mörder haben keinen Platz auf der MS Darwin verdient. Wir brauchen Menschen, die besonnen, aber sozial agieren. Aggressivität bedroht unsere Werte.“
In der nächsten Szene sieht man eine junge schwarzhaarige Frau, die bei Aufgabe 2 im Treppenhaus zur Spitzengruppe gehörte und den Mann mit dem Manchester-Trikot bis zur Besinnungslosigkeit tritt. Als sie damit konfrontiert wird, springt sie wütend auf. „Das ist Evolution und kein beschissener Kindergarten! Ich erfülle alle Kriterien. Ihr müsst mich mitnehmen.“
Dann öffnet sich eine Tür.
„Unsere Soldaten führen die Menschen ab, die durch unsere Videoaufnahmen als gewalttätig entlarvt wurden. Für Sie gibt es kein Ticket und somit keinen Platz auf der MS Darwin.“ Die junge Frau versucht sich, zu wehren, ist aber machtlos. Schreiend wird sie abgeführt. „Betrüger. Mörder! Ich werde mich an euch rächen!“, krakeelt sie.
Nachdem noch ein paar weitere Teilnehmer abgeführt wurden, ertönt eine Melodie. „Wir haben 102 Gewinner. Herzlichen Glückwunsch. Sie müssen nur noch einen Test bestehen und dann erhalten Sie eines der begehrten Tickets in ein ewiges Leben“.
Gerade als Go1000 Jolie zulächelt, hört man, wie Gas in den Raum strömt. Go1000 und Jolie1407 sacken langsam zu Boden.
***
12 Stunden später
Go1000 liegt auf einer Pritsche und wacht allmählich auf. Eine Krankenschwester tritt an ihn heran.
„Guten Morgen. So, die Untersuchungen sind abgeschlossen. Das hier ist Ihr Ticket. Das müssen Sie im nächsten Raum abgeben. Aber zuerst einmal Glückwunsch. Sie haben es geschafft. Sie werden auf ewig weiterleben!“ Die Frau blickt ihn ein bisschen traurig an und reicht ihm seinen schwarzen USB-Stick und eine verschlossene Kühlbox. „Das ist alles, was Sie für Ihr ewiges Leben brauchen. Blutproben, Spermaextraktionen, weitere DNA-Screens, virtuelle Screens, AI-Profile …“ Ihr neues Leben befindet sich nun auf diesem Stick. Hier!“
Ohne alles zu verstehen, nickt Go1000.
„Gehen Sie bitte durch diese Tür zu Raum B und geben Sie dort Ihr Ticket ab.“
Go1000 blickt durch das Glas und starrt auf den leuchtenden Himmel, auf dem er mehrere Meteoriden erkennt.
Go1000 steht langsam auf. Sein Fuß schmerzt immer noch. Er humpelt mit seinem USB-Stick in der Hand und der Box unter seinem Arm in den Nebenraum, wo er an einem Schalter von einer schlanken, älteren Dame, die ein Namensschild mit der Aufschrift „Emma“ trägt, begrüßt wird. Emma trägt ein Monokel.
„Hallo Go1000!“, sagt Emma.
Er erschrickt, als er die bekannte Stimme hört. „Das ist doch die Frau aus der …“
„Ihr Ticket bitte!“
„Wie bitte? Ach so. Pardon! Hier bitte schön!” Go1000 streckt ihr den Stick und die Kühlbox entgegen.
„Vielen Dank!“, sagt Emma.
Ihre Stimme klingt ohne die Lautsprecher deutlich angenehmer. Sie überprüft mit einem Scanner die Daten und steckt den USB-Stick in einen großen, mobilen Rechner. „Alles klar, vielen Dank. Sie können nun gehen!“
Go1000 zeigt auf den USB-Stick und die Box.
„Wie? Gehen? Wohin? Ich verstehe nicht. Ich. Ich. Ähm. Das da ist doch mein Ticket! Ich möchte an Bord gehen. Ich brauche mein Ticket zurück!“
„Ja richtig, die Kühlbox brauchen wir auch. Das bekommen Sie nicht wieder. Ihr Stick und die Box gehen nämlich auf die Reise.“
Als Go1000 über die Absperrung tritt, ertönt ein Alarm.
„Schön, aber wann darf ich eintreten? Ich will auch verreisen und weg von hier.“
„Eintreten? Ich glaube, Sie haben da etwas falsch verstanden.“
„Öhm. Ähm. Nein. Bestimmt nicht! Sie haben mir ein langes und sicheres Leben versprochen.“
„Ich weiß. Wir halten unsere Versprechen.“
„Und wieso darf ich nicht eintreten? Lassen Sie mich durch!“
„Weil Sie verletzt sind!“
„Das kann nicht sein. Ich wurde nicht getroffen. Ich schwöre! Ich habe alle Tests bestanden!“
„Haben Sie? Oder war es doch Pech, als Sie sich den Fuß gebrochen haben? Den Glückstest haben Sie definitiv nicht bestanden!“
Beschämt blickt Go1000 auf den Boden.
„Die Röntgenaufnahme war eindeutig und Sie sind leider als 101. von der Teilnahme ausgeschlossen. Es handelt sich um einen komplizierten Bruch. Das ist bedauerlich, aber wir haben nicht genügend Ärzte an Bord, um uns um Sie zu kümmern. Sie wären ein unnötiger Ballast.“
„Aha. Muss ich jetzt also sterben!?“, schreit Go1000.
„Sie sterben nicht. Sie werden ewig leben. Schauen Sie hier. Sie sind zwar nur Nummer 101, und erhalten deshalb nicht den Spitzenpreis, aber es gibt einen fantastischen Zusatzpreis zu Ihrem normalen Ticket. Wir hatten nur 100 Plätze für reale Teilnehmer und Teilnehmerinnen. Aber wie ich Ihnen die ganze Zeit versuche mitzuteilen, ist das Arche-Komitee von Ihrem Kampfgeist begeistert, dieser muss einfach fortbestehen! Trotz eines gebrochenen Fußes haben Sie fast alle Aufgaben gemeistert. Solche Gene braucht unsere Spezies! Und durch eine TESE und ein IVF-Verfahren bleiben Sie sogar im Genpool. Sie sind widerstandsfähig und garantieren so das Überleben der Spezies Homo sapiens sapiens. Ihre Partnerin und Sie erhalten durch unser Labor auf der Arche auch perfekte Nachkommen. Alles, was wir dafür brauchen, wandert mit der Kühlbox in unser Labor.“
„Nicht so schnell! Tese was?"
„TESE. Testikuläre Spermienextraktion“
Seine Augen füllen sich mit Tränen. "Verstehe. Und eine weitere Person darf bestimmt auch niemand mitnehmen."
"Korrekt. Das waren Gerüchte. Die Information kam nicht von uns. Aber weinen Sie nicht!"
Die Frau aktiviert einen Bildschirm, auf dem ein durchtrainierter, mittelgroßer Mann mit lockigen, roten Haaren zu sehen ist, der Go1000 winkend zulächelt. „Du kannst stolz auf mich, beziehungsweise auf uns sein! Wir haben es geschafft, Partner“, sagt der lächelnde Avatar.
„Das bin ja ich!“
„Korrekt!“, sagt Emma. Das sind Sie als künstliche Lebensform. Sie werden auf ewig in unserem Bordcomputer als künstliche Intelligenz weiterleben. Wie es auf dem Flyer steht: Sie erhalten auf doppelte Art und Weise ein langes, sicheres Leben! Das ist Ihr Ticket.“
"Sie erwähnten eben meine Partnerin. Woher haben Sie denn die Proben meiner Frau? Sie war doch gar nicht qualifiziert!?“
„Ach so. Nein, wir meinen Ihre virtuelle Frau! Eine, die es auch wert ist, fortzubestehen und an die sich die neue Generation erinnern soll, weil sie eine Heldin ist. Wir haben keine Reserven für redundante Menschen ohne besondere Eigenschaften. Es gibt insgesamt doch nur eine Arche pro Kontinent. Und die MS Darwin Europa hat insgesamt nur 99 Plätze für reale Teilnehmer ausgeschrieben. Der Rest gehört Ärzten, Wissenschaftlern und anderen elitären Menschen. Sie sind besonders, verzichten Sie nicht auf Ihren Ausnahme-Platz, nur weil Sie etwas erzürnt sind.“
Go1000 atmet tief durch die Nase ein und aus.
Emma fährt fort. „Sie sind wirklich ein Glückspilz. Ihre neue Frau hat sich extra für Ihre Gene bei der IVF entschieden, obwohl Sie es nicht in die Top 100 geschafft haben und Sie dafür eigentlich nicht zur Verfügung gestanden hätten.“
„Was? Wen meinen Sie?“
„Schauen Sie auf den Bildschirm!“
Go1000 blickt auf den Monitor und sieht eine künstliche Version von Jolie1407. „Hallo Chéri. Wir werden für toujours ein Paar! Ich freue mich auf die Zeit mit dir.“
Als die künstliche Jolie seinen Avatar küsst, bäumt sich Go1000 vor der Assistentin auf.
„Und wo ist die echte Jolie? Darf sie auch nicht mit?“
„Doch. Sie ist auf dem Weg zur Arche.
Go1000 blickt wieder auf seinen künstlichen Avatar, der beginnt die AI-Version von Jolie1407 leidenschaftlich zu küssen.
Go1000 knallt mit der Faust auf den Tisch. „Das ist doch wahnsinnig!“
Emma schaut ihn grimmig an. „Wenn Sie sich jetzt nicht beruhigen, wird Ihr Ticket als ungültig deklariert und Ihre Spermienextraktionen vernichtet. Seien Sie vernünftig! Es ist nicht genug Platz für jeden auf der Arche. Die MS Darwin Asia hat natürlich mehr als doppelt so viele Plätze wie wir. Aber Sie sind nunmal Europäer. Verstehen Sie das doch. Seien Sie dankbar, dass Jolie1407 sich überhaupt für Sie entschieden hat. So haben Sie eine Chance. Menschen werden sich an Sie erinnern!“
Über einen weiteren Monitor sieht Go1000, wie Jolie1407 und Zon666 sowie weitere Teilnehmer zu einem Space Shuttle gefahren werden. Sie tragen rote Trainingsanzüge.
Go1000 löst seine Faust und zeigt auf einen der Überwachungsmonitore. „Na gut. Ich geh ja schon. Nur noch eine Frage. Was haben diese Zwei, was ich nicht hab?!“ Er zeigt auf Jolie1407 und Zon666.
„Ein Faktor ist Glück. Beide sind unverletzt. Sie haben bewiesen, dass sie sich immer durchsetzen werden, weil Erfolg in ihren Genen steckt. Survival of the luckiest and fittest! Sie gehören zu den 99 Besten ud erhalten den Spitzen-Preis."
In diesem Moment rast ein großer Meteoroid über den Tower hinweg, sodass gewaltige Erschütterungen im Gebäude zu spüren sind.
"Verstehe. Dann wünsche ich Ihnen einen schönes Restleben auf dem neuen Planeten! Glückwunsch!", ruft Go1000 trotzig.
Emma weicht seinem Blick aus. Die Stimme der Frau bricht weg und sie senkt nachdenklich ihren Kopf. „Ich habe es auch nicht geschafft. Nur die Besten kommen mit. Ich bin zu alt und meinen Job kann auch wer anders übernehmen“, schreit sie.
Die Frau aktiviert einen zweiten Monitor auf dem ihre AI-Version zu sehen ist.
„Stellen Sie sich also nicht so an. Wollen Sie das Ticket jetzt oder nicht? Ich würde es auch nehmen, wenn Sie es nicht möchten!“
Go1000 stockt der Atem. Er ballt in seiner Hosentasche die Hände zur Faust. Dann nickt er.
„Doch. Doch. Ich nehme es. Werde ich jetzt eliminiert, oder darf ich wenigstens zurück zu meiner Frau?“
Emma schickt seine Proben über ein Transportrohr zum Shuttle. „Ich bitte Sie! Wir sind ein seriöses Unternehmen. Das hier ist keine koreanische Fernsehsendung. Natürlich dürfen Sie nach Hause. Es handelt sich bei Ihrem Rückweg leider nur um denselben Weg, wie auf der Hintour. Sie müssen zuerst durch das Treppenhaus. Doch vielleicht schaffen Sie es noch rechtzeitig zurück.“ Emma wird von einer erneuten Erschütterung unterbrochen. „Aber ich weiß nicht, wie viel Zeit Ihnen mit dieser Verletzung noch bleibt.“
Emma schenkt ihm keine Aufmerksamkeit mehr und arbeitet hektisch weiter.
Go1000 senkt den Kopf. "Aha". Er humpelt aus dem Raum.
Ein letztes Mal blickt er zurück. Aus der Ferne hört Go1000 Drohnen und Raketen. Eine starke Erschütterung sorgt dafür, dass ein Monitor von der Decke kracht. Emmas Monokel beschlägt erst, dann verschwindet sie hinter einer Staubwolke.
***
Eine Stunde später
Auf dem Rückweg über das Treppenhaus klettert Go1000 über mehrere Leichen; plötzlich folgt wieder eine Erschütterung. Er blickt durch das Glas auf die Startrampe und sieht, wie die MS Darwin Europa abhebt. In dem Moment packt eine Hand seinen Fuß und zieht ihn nach unten.
„Hilfe! Hilfe!“, stöhnt eine männliche Stimme. Es ist der Mann mit dem Zopf.
„Er lebt!“, denkt Go1000 und zieht den Mann hoch.
„Ey Alter, danke! Sorry, dass du es auch nicht geschafft hast! Ich war mir sicher, dass du es packst!“, sagt der Mann mit gebrechlicher Stimme und lächelt Go1000 zu. Das Gesicht des Mannes ist mit Hämatomen übersät.
Go1000 blickt auf ein Shuttle auf der Startrampe.
„Wer sagt denn, dass ich nicht doch dabei bin!?“, sagt Go1000 mit einem zynischen Grinsen, als er gemeinsam mit dem Mann die Treppe hinunter humpelt und ihn dabei stützt.
„Für uns sieht es düster aus, Kumpel, oder?“
„Ach ja? Wirklich? Schau uns an, was wir schon alles überlebt haben. Wir sind erst nicht mehr im Spiel, wenn wir tot sind! Noch ist das Game nicht over!“, sagt Go1000.
„Du hast recht! Aber was machen wir nun?“
„Ich hab da schon eine Idee!“, ruft Go1000 und lacht, als er mit aufblitzenden Augen auf das letzte kleine Shuttle auf der Startrampe blickt. "Nun spielen wir nach neuen Regeln! Komm mit!"
ENDE