Mitglied
- Beitritt
- 11.10.2002
- Beiträge
- 14
Das Ticken der Uhr
Das Ticken der Uhr dröhnt in meinem kahlgeschorenen Schädel wie göttliche Hammerschläge auf dem Amboss Menschheit, jede Sekunde ein unerbittliches, unaufhaltsames Vorrücken des Zeigers, Augenblick um Augenblick, Schlag um Schlag, jeder Schlag ein kleiner Tod, wie viele bis zum Ende? Die Uhr und ich, wir warten gemeinsam - doch nur ich weiß, worauf. Schlag um Schlag, und jeder Schlag sagt mir, dass der nächste meine Trommelfelle zerfetzen und meinen Körper zerschmettern wird; doch nichts geschieht. Ich möchte die Hände auf meine Ohren pressen, um die Qual zu lindern; aber ich kann mich nicht bewegen. Ich fixiere den Zeiger, beobachte ihn, während er seine Runden dreht, und dabei die Zukunft vom blankpolierten weißen Ziffernblatt wischt. Seltsam, wie die Zukunft dabei übergangslos zur Vergangenheit wird, denn noch während ich die Gegenwart denke, ist sie bereits Vergangenheit. Ich versuche, dem Zeiger zuvorzukommen und so, im Wissen um den nächsten Schlag, dessen Wucht abzuschwächen, ich schreie dagegen an, doch die Uhr, eingebettet in weißen Schaumstoff über der weißen Tür, macht all meine Bemühungen zunichte; unerbittlich, unermüdlich Schlag um Schlag. 938.521. Ich sollte aufhören, mitzuzählen. Würde ich rückwärts zählen, hätte ich ein Ziel; aber wo soll ich beginnen? Ich weiß nicht genau, wann es passieren wird. Ich weiß nur - heute. Ich hätte es ihnen nicht sagen sollen. Ich hätte es niemandem sagen sollen. Wie konnte ich nur glauben, dass sie mein Wissen teilen wollten? Dass sie dazu in der Lage wären, zu begreifen? Zu schmerzvoll die Wahrheit, zu ungeheuer der erforderliche Glaube, zu endgültig die Konsequenz. Schlag um Schlag, mein Kopf will zerspringen. Lass es jetzt geschehen, bitte. In dieser fürchterlichen Stille, wo das leiseste Flüstern zum Brüllen, das Ticken der Uhr zum Donner wird, verliere ich, eingelullt in Desinfektionsmittelduft und die lähmende Schwere der Zwangsjacke, allmählich tatsächlich den Verstand. Diese Stille, so laut. Ich warte, Schlag um Schlag, warte darauf, dass es geschieht, darauf, dass alles sich endlich und unabänderlich bewahrheitet, darauf, dass den Ungläubigen die Augen geöffnet und aus den vakuumgefüllten Schädeln gerissen werden. Noch wissen sie nicht, dass die Sonne sich heute zum letzten Mal erbarmt hat, diese kalte Welt zu wärmen. Aber es kann nicht mehr lange dauern, denn die Uhr frisst die Zukunft schnell, Schlag um Schlag, zermalmt sie stampfend zwischen den gedankenlosen Zahnrädern ihrer Edelstahlmechanik. Und plötzlich höre ich es; über das Dröhnen des Zeigers, über mein eigenes Schreien hinweg, ein fernes Grollen, das Schlag um Schlag anschwillt, näher kommt, bis ich es spüren kann, bis der weiche Boden unter meinen Füßen bebt; grelles Licht durchflutet die Zelle, und ich weiß, dass es geschieht, dass es jetzt geschieht. Die kunststoffgepolsterten Wände um mich herum beginnen zu schmelzen, und entfernt nehme ich wahr, dass ich brenne, ich brenne wie eine Fackel, und kurz bevor ich von einer tosenden Welle donnernder Zerstörung in die weiße Unendlichkeit gerissen werde, zerplatzt das plexiglasgefasste Ziffernblatt der Uhr, und die Schläge verstummen.