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Das Theater im Nebel
Also, ich muss das jetzt endlich aufschreiben. Nicht so sehr, weil mich die Erinnerung quält und ich wieder mal nicht schlafen kann. Nein, es ist vor allem wegen der Angst. Ich bin ihnen damals entkommen, aber ich fürchte, dass sie sich damit nicht abfinden werden. Sie werden versuchen, mich zu holen. Eines Tages – eines Morgens Anfang November, natürlich – könnte ich einfach verschwunden sein. Meine Familie und Freunde werden mich vermissen, sicher. Aber irgendwann werden sie die Suche aufgeben. Sie haben ja keine Ahnung! Wenn ich aber alles aufschreibe und dann plötzlich fort bin, werden sie wissen, dass es die Wahrheit ist. Dann werden sie wissen, wo sie suchen müssen.
Oder noch besser – ich werde es nicht nur aufschreiben. Ich werde es ins Internet stellen. Dann werden die Menschen überall Bescheid wissen, und niemand wird diesen Theaterleuten mehr in die Falle gehen. Ja, so werde ich es machen. Wenn ich es im Internet veröffentliche, können sie mich nicht mehr holen. Weil sonst alle sehen würden, dass es die Wahrheit ist. Ich werde also sicher sein. Natürlich denkt dann jeder, dass ich total bescheuert bin. Aber das ist okay.
Hauptsache, sie können mich nicht holen.
Doch ich sollte wohl besser am Anfang beginnen, damit ihr versteht, wovon ich überhaupt rede. Mein Name ist Alexander, Alexander Nötzel. Alex, für die meisten. Heute bin ich fünfzehn, doch damals war ich elf. Vier Jahre ist es also her. Für jemanden in meinem Alter ist das eine Ewigkeit. Vor allem, wenn jedes Jahr Ende Oktober die Angst zurück kommt. Ich ging damals schon aufs Gymnasium, genau wie... wie die anderen eben. An dem Freitag, von dem ich erzählen will, waren wir total genervt, weil es in der Schule einen Wasserrohrbruch gegeben hatte. Die ganze Pausenhalle stand unter Wasser, und die Schulleitung hatte gerade die Halloween-Party abgesagt, die an diesem Abend stattfinden sollte. In die Sporthalle konnten wir nicht ausweichen, weil da der örtliche Handballverein trainierte. Damit war Halloween für uns praktisch erledigt. In den großen Städten konnte man damals schon von Haus zu Haus ziehen und überall Süßigkeiten abstauben, doch bei uns war dieser Brauch noch fast unbekannt. Manchmal ist es echt mies, wenn man in so einem kleinen Kaff lebt! Wir Kinder kannten das natürlich alles aus dem Fernsehen, aber die Erwachsenen sahen einen nur verständnislos an, wenn man sagte, sie sollten schon mal einen Vorrat an Süßigkeiten einkaufen.
Unser Nachbar schimpfte sogar: „Dieses Gesindel soll sich nur trauen, bei mir zu betteln, da kriegt der Hund mal was zu tun!“ Als ob der kläffende Köter nicht beim Anblick von gruselig geschminkten Gesichtern gleich umgekippt wäre! Dieser Dackel, der immer hinter dem Gartenzaun herumtobte und so tat, als würde er jeden Augenblick ausbrechen und die vorbeigehenden Schulkinder beißen, zog schon den Schwanz ein und versteckte sich, wenn nur der Postbote den Garten betrat.
Na, egal. Ich darf nicht vom Thema abkommen. Dieser Bericht muss heute Morgen noch fertig werden, bevor ich zur Schule gehe.
Schließlich ist heute Abend wieder Halloween.
Ich weiß gar nicht mehr genau, wer damals zuerst mit einem der Zettel ankam. Vielleicht war es Lennart, es könnte auch Yannick gewesen sein. Es waren kleine, gelbe Handzettel, die wohl der Wind über den Schulhof geweht hatte. Jedenfalls hatten ein paar Kinder einige davon aufgesammelt, und wir standen nach der letzten Stunde zusammen und blickten auf diese Ankündigung wie ein Schiffbrüchiger von seiner einsamen Insel aus vielleicht auf ein Schiff starrt, das sich vom Horizont her nähert.
„Theater einmal anders!“, stand da. „Große Sondervorstellung zu Halloween – tolles Programm für Kinder!“ Und dann die Worte, die uns eigentlich hätten stutzig machen müssen: „Eintritt frei!“
„Unser Abend ist gerettet!“, erklärte Yannick.
„Von wegen“, widersprach Pascal. „Meine Eltern lassen mich da nie hingehen. Da steht ja nicht mal genau, wo es stattfindet!“ Er drehte sich um und ging fort. Rückblickend war es natürlich das Beste, was er tun konnte.
Ich sah mir den Zettel genauer an. „Kostenloser Sonderzug vom Bahnhof, Abfahrt gleich nach Sonnenuntergang“, las ich laut.
„Cool“, meinte Lennart. „Die lassen sich wenigstens was einfallen. Alles so richtig geheimnisvoll und gruselmäßig! Und zum Bahnhof sind es von uns zu Fuß nur ein paar Minuten.“
Ehrlich gesagt war mir nicht ganz wohl bei der Sache. Pascal hatte natürlich Recht, erlauben würden unsere Eltern das auf keinen Fall, und mitgehen würden sie schon gar nicht. Wär ja auch peinlich gewesen, sie dabei zu haben. Und im Dunkeln irgendwo hingehen, ohne dass sie davon wussten? Aber kneifen kam für mich auch nicht in Frage. Wie hätte ich denn vor meinen Freunden dagestanden?
Also griffen wir zu dem ältesten aller Tricks, zumindest wenn man den Filmen glauben durfte, die wir manchmal heimlich im Fernsehen guckten. Wir erzählten unseren Eltern, wir würden bei Yannick übernachten. Yannick lebte alleine mit seiner Mutter, und dass sie heute Nacht als Kellnerin in Siggis Kneipe jobbte, erzählten wir natürlich nicht. Falls unsere Eltern anrufen würden, würden sie nur den Anrufbeantworter dran haben – und denken, dass wir schon brav in den Federn lagen und Frau Ahmetovic, Yannicks Mutter, vor dem Fernseher eingeschlafen war.
Ich war sogar so dreist, mich von meinem Vater vor Yannicks Tür absetzen zu lassen. Da auch Lennart gerade mit seinem Rucksack den Bürgersteig entlang kam, schöpfte Papa nicht den geringsten Verdacht. Hätte er gefragt, hätte ich gesagt, Yannicks Mutter müsse jeden Augenblick von der Arbeit kommen.
Er hat aber nicht gefragt.
Wir waren natürlich überzeugt, wir würden zurück sein, bevor Frau Ahmetovic spät nachts nach Hause käme. Dass ihr Sohn Freunde zum Schlafen einlud, hatte sie noch nie gestört. Sie hatte dann wohl nicht so ein schlechtes Gewissen, weil sie ihn so oft alleinlassen musste.
Nachdem mein Vater mich abgesetzt hatte, hielten wir uns gar nicht lange auf. Aus einem Taschenkalender hatte Lennart abgelesen, dass die Sonne um sechzehn Uhr neununddreißig untergehen würde, aber wir waren mindestens eine halbe Stunde früher am Bahnhof.
Der Sonderzug wartete schon.
Es war ebenso unmöglich wie unnötig, jemanden nach dem richtigen Zug zu fragen. Nicht nur, weil die Fenster der Waggons mit grinsenden Pappkürbissen beklebt waren. Wie gesagt, ich wohne in einem kleinen Kaff, und an jenem Nachmittag stand überhaupt nur dieser eine Zug im Bahnhof. Bahnpersonal war nirgendwo auszumachen, und zuerst dachten wir, es seien auch sonst keine Menschen außer uns dort.
Dann sahen wir die Mädchen. Tina, Carina und Jacqueline. Sie gingen in die 6b, unsere Parallelklasse, und hatten ganz offensichtlich dasselbe Ziel wie wir.
Natürlich stiegen wir an den entgegen gesetzten Enden des Zuges ein.
Anscheinend hatte sich außer uns und den drei Mädchen niemand getraut, zu der Veranstaltung zu gehen, denn der Zug war ebenso menschenleer wie der Bahnhof. Daran änderte sich auch nichts, und so begannen wir schon, uns zu langweilen, als sich endlich wie von Geisterhand die Türen schlossen.
Na ja, ich schreibe jetzt „wie von Geisterhand“, aber da spielt mir wahrscheinlich meine Erinnerung einen Streich. Eigentlich schließen Zugtüren ja immer automatisch, und ich glaube nicht, dass wir uns wirklich etwas dabei dachten. Trotzdem war es ein eigenartiges Gefühl, als wir in dem leeren Zug abfuhren und schon bald unsere kleine Ortschaft hinter uns ließen. Die gespenstische Musik aus den Lautsprechern gefiel uns anfangs allerdings gut – wie Lennart schon gesagt hatte, die Veranstalter ließen sich was einfallen! Und der immer dichter werdende Nebel draußen wirkte wie bestellt. Gerade noch hatte Yannick nach einem Blick aus dem Fenster verwirrt gefragt: „Wo sind wir eigentlich? Kennt einer von euch diese Gegend?“ Da war die Suppe vor den Fenstern auch schon so dick, dass wir beim besten Willen nichts mehr erkennen konnten.
Lennart kam auf die Idee, mal zu den Mädchen rüberzuschlendern. Yannick und ich grinsten uns an; wir konnten uns schon denken, was Lennart zu diesem Vorschlag bewogen hatte. Jacqueline und ihre Freundinnen mussten wohl auf denselben Gedanken gekommen sein, denn wir trafen uns in einem der mittleren Waggons. Die Mädchen fanden es ebenso merkwürdig wie wir, dass sich nicht mehr Leute aus der Schule hergetraut hatten. Wir begannen, über diese Feiglinge Witze zu machen, und hatten auch sonst immer mehr Spaß. Eigentlich waren die drei echt nett – dafür, dass es Mädchen waren, meine ich. Vor allem Carina gefiel mir, und Yannick und ich wussten natürlich schon länger – obwohl es keiner von uns ausgesprochen hätte -, dass Lennart auf Jacqueline stand.
Wir hatten total die Zeit vergessen, als der Zug unvermittelt abbremste und anhielt. Erwartungsvoll stiegen wir aus, und wir wurden nicht enttäuscht.
Der Nebel war jetzt weit weniger dicht als während der Fahrt. Vielleicht hundert Meter entfernt konnten wir die unheimlich beleuchteten Umrisse von etwas erkennen, das wie ein Zirkuszelt aussah. Davor tummelte sich eine ganze Reihe Leute. Das war auch so etwas, das uns hätte zu denken geben sollen – das Zelt schien inmitten von Wiesen oder Feldern zu stehen, es gab hier nicht einmal einen Bahnhof. Woher kamen all diese Leute? Jedenfalls waren sie nicht mit unserem Zug angekommen, soviel stand mal fest. Aber darüber dachten wir gar nicht groß nach.
Wir gingen auf das Zelt zu und betraten es fasziniert. Die meisten Personen, an denen wir vorbeikamen, waren elegant gekleidete Erwachsene. Dazwischen begegneten uns einige Kinder, die kostümiert waren, meist als Hexen oder Vampire. Wir selbst waren übrigens nicht besonders zurecht gemacht, für solche Vorbereitungen hatten wir uns keine Zeit genommen.
Wir gingen durch einen langen, schmalen Gang und fanden uns recht unvermittelt im Inneren des Zeltes wieder, das ganz in Schwarz und Rot gehalten war. Abgesehen von den Wänden und der runden Zeltkuppel, an der sich lange Reihen von Glühbirnen entlang zogen, kam man sich tatsächlich wie in einem Theater vor. Es gab nicht etwa eine Manege in der Mitte des Zeltes, sondern auf einer Seite eine echte Bühne und davor eine Unmenge von Stühlen. Zum Rand hin standen weitere Stühle, allerdings an Tischen, auf denen wir sofort zwischen künstlichen Fledermäusen und Spinnen herrliche Mengen an Süßigkeiten entdeckten. Die Stühle vor der Bühne waren ohnehin von lauter Kindern besetzt, die gebannt auf die Aufführung warteten, aber auch sonst hätte es uns direkt zu einem der Tische hingezogen. Zu sechst drängten wir uns daran und fielen sofort über die Leckereien her.
„So lass ich mir Halloween gefallen.“ Mit vollem Mund sprach Tina uns allen aus der Seele.
Während wir es uns gut gehen ließen und ziemlich coole Musik genossen, deren Ursprung nicht auszumachen war, strömten immer mehr Kinder herein, manche älter, die meisten aber noch jünger als wir. Ab und zu tauchte einer der eleganten Erwachsenen auf und ließ seine Blicke prüfend herumwandern, und von Zeit zu Zeit kam eine beinahe ebenso vornehm gekleidete Kellnerin herbei und brachte uns Getränke oder füllte die Schüsseln mit Naschkram auf. Sie versicherte uns mehrmals mit dem freundlichsten Lächeln, alles sei ganz und gar kostenlos, und bald kannten wir keine Hemmungen mehr. Ich glaube, wir haben an diesem Abend mehr Cola getrunken und Schokolade gegessen als sonst in einem ganzen Jahr.
Dann verstummte die Musik, und das Theaterstück begann – oder besser gesagt, das erste der Theaterstücke. Wenn ich nämlich heute daran zurückdenke, bin ich sicher, dass es sich um mehr als ein Stück gehandelt haben muss. Merkwürdigerweise erinnere ich mich kaum an die Inhalte, aber sie hatten alle irgendetwas mit Gespenstern, Vampiren, Werwölfen und ähnlichen Gruselgestalten zu tun. Manchmal war es so spannend, dass die Zuschauer kaum zu atmen wagten, im nächsten Moment erscholl überall im Zuschauerraum lautes Lachen, und ein oder zweimal wurde es ganz traurig (aber irgendwie auf eine schöne Weise), und die Mädchen bei uns am Tisch kämpften sichtlich gegen die Tränen an. Ich weiß noch, dass Yannick sich darüber lustig machte. Er muss einen ziemlich guten Spruch gebracht haben, denn Lennart amüsierte sich köstlich. Leider war ich gerade etwas abgelenkt und habe den Spruch nicht richtig mitbekommen. Ich glaube, mir war irgendetwas ins Auge geflogen. Das war natürlich unangenehm – die anderen hätten denken können, ich sei am Heulen -, aber Carina sah mich mitfühlend an, und das war wiederum ein ziemlich gutes Gefühl.
Bei all der Cola, die wir tranken, mussten wir zwischendurch natürlich immer wieder mal die Toiletten aufsuchen. Die befanden sich in der Nähe des Eingangs, wo das Zelt mit Holzwänden verstärkt war. Bei einem dieser Abstecher kam ich irgendwie mit einem fremden Jungen ins Gespräch.
„Merkwürdig“, sagte ich, als ich an unseren Tisch zurückkehrte. „Ich dachte, diese Vorführung findet nur heute statt. Aber gerade habe ich mit jemandem geredet, der behauptet, schon an den letzten drei Abenden hier gewesen zu sein.“
„Keine Ahnung“, entgegnete Tina. „Ist mir aber auch egal. Mal was ganz anderes – weiß einer von euch, wie spät es ist? Meine Uhr ist anscheinend stehen geblieben.“
Die meisten von uns trugen gar keine Uhr, aber Yannick sah auf sein Handgelenk und fluchte: „So’n Mist, meine auch! Schon um zwanzig vor fünf!“
„Das ist ja witzig“, kicherte Tina. „Genau zur selben Zeit wie meine.“
„Zwanzig vor fünf?“, fragte Jacqueline nach. „Das muss dann ja genau passiert sein, als unser Zug losfuhr.“
Carina und ich warfen uns einen ganz merkwürdigen Blick zu. Soweit ich mich erinnere, war das der Moment, in dem ich mich zum ersten Mal in jener Nacht richtig gruselte, und ich glaube, ihr ging es genauso.
Etwas später kam auch Tina von der Toilette zurück und erwähnte beiläufig: „Das scheint seine Richtigkeit zu haben, was dir der andere Junge vorhin erzählt hat, Alex. Ich habe mich eben mit ein paar Mädchen unterhalten, und die waren auch alle schon in den letzten Nächten hier. Die eine hat allerdings ziemlich rumgesponnen. Sagte, sie wäre jetzt seit mindestens zwanzig Nächten hier, und es würde ihr nie langweilig. Ich meine, hallo? Zwanzig Nächte hintereinander immer dasselbe – da hängt einem doch selbst Halloween zum Hals raus, oder?“
„Würde ich gar nicht sagen“, schmatzte Lennart und schob sich mit einem Grinsen noch ein wenig mehr Schokolade in den Mund. „Ich meine, wir sind doch bestimmt auch schon zwei oder drei Stunden hier, aber es kommt mir viel kürzer vor.“
Carina und ich sahen uns wieder an. (Wir hatten alle immer mal wieder die Plätze getauscht, und sie saß inzwischen direkt neben mir.) Ich weiß noch ganz genau, was ich in diesem Augenblick dachte: Wir mussten nicht erst seit zwei oder drei Stunden hier sein, sondern doppelt so lange. Mindestens. Eher dreimal so lange. Aber bis zu diesem Augenblick war es keinem von uns aufgefallen.
Und dann fiel mein Blick auf den Jungen, den ich an diesem Abend kennen gelernt hatte.
„Guck mal“, flüsterte ich Carina zu. „Das ist der Typ, von dem ich euch vorhin erzählt hab.“
Einen Moment lang schien sie meinem Blick nicht folgen zu können, doch dann entdeckte sie, welchen Jungen ich meinte. Ganz plötzlich umklammerte sie meinen Arm, so dass es richtig ein Bisschen weh tat.
„Seit wie vielen Nächten, sagtest du, ist er schon hier?“ Irgendetwas an ihrer Stimme ließ mich frösteln.
„Drei, wenn ich mich nicht irre.“ Das Gespräch mit ihm schien schon so lange her zu sein, dass ich Mühe hatte, mich genau zu erinnern.
Ein paar Sekunden, die sich ewig hinzogen, antwortete sie nicht. Dann sagte sie: „Das ist Michael. Der war mal mit meiner großen Schwester zusammen. Bis er eines Tages spurlos verschwand. Vor genau drei Jahren.“
Sie ließ mir nicht viel Zeit, den Kloß hinunterzuschlucken, der sich in meinem Hals gebildet hatte. Meine Hände begannen zu zittern, als sie hinzufügte: „Meine Schwester hat ein altes Foto, und ob du’s glaubst oder nicht – er sieht heute nicht einen Tag älter aus als auf dem Bild.“
In meinem Kopf drehte sich alles. Ich versuchte, ein Puzzle zusammenzusetzen. Nein, das ist nicht wahr – ich glaube, in Wirklichkeit versuchte ich mich dagegen zu wehren, dass sich dieses Puzzle von selbst zusammensetzte. Vielleicht war es Angst, vielleicht wollte auch ein Teil von mir einfach bei der Schokolade und den packenden Theaterstücken bleiben.
Ich bekam nur am Rande mit, dass Carina auf die anderen einredete. Aber weder Yannick noch Jacqueline wollten ihr zuhören. Lennart und Tina dagegen schienen nun auch von der Angst gepackt zu werden. Schließlich standen die drei auf, und Carina zerrte an meinem Arm, bis ich den Mut fand, mich ebenfalls zu erheben. Auf wackeligen Beinen bewegten wir uns auf den Ausgang zu. Yannick und Jacqueline blieben am Tisch zurück.
Wir hatten das Zelt schon verlassen, als einer der eleganten Männer an uns herantrat. „Wollt ihr etwas frische Luft schnappen?“, fragte er mit misstrauischer Stimme.
„Tut uns leid“, antwortete Tina ihm schnell. „Es wird zu spät für uns. Wir müssen nach Hause.“ Wir setzten unseren Weg fort, legten sogar noch einen Zahn zu.
Der Mann folgte uns und behauptete: „Ihr wollt nach Hause? Ihr seid also welche von denen, die nach Hause wollen? Aber das geht nicht, wisst ihr das denn nicht? Dafür ist es zu spät, die Sonne geht doch schon auf!“
Er schien nach Lennart greifen zu wollen, und der rannte vor Angst einfach los. Ohne zu überlegen, liefen wir hinterher. Vor uns, auf den Gleisen, stand der Zug, mit dem wir gekommen waren. Zu Tode erschrocken bemerkte ich, dass er von Sekunde zu Sekunde durchsichtiger wurde.
„Ihr dürft nicht fort!“, schrie der Mann hinter uns. „Niemand darf das! Niemand darf von uns erzählen! Wir werden euch zurückholen! Nächste Nacht, oder die darauf, oder...“ Seine Stimme wurde mit jedem Wort leiser. Ich blickte im Laufen zurück und sah, dass auch er jetzt durchsichtig wurde, ebenso wie das Theaterzelt hinter ihm. Alles schien sich im Nebel aufzulösen.
Zum Glück lösten sich die Gleise, auf denen unser Zug gefahren war, nicht auf. Wir liefen sie entlang, liefen und liefen und hielten kaum einmal an, um nach Luft zu schnappen. Im Nebel, der jetzt wieder dichter war, waren die Schienen unter unseren Füßen das einzige, das wir sahen. Als wir schon lange nicht mehr laufen konnten, uns nur noch müde vorwärts schleppten, folgten wir immer noch diesen Gleisen. Und irgendwie haben wir es geschafft, wieder nach Hause zu kommen, heraus aus dem Nebel, ins Tageslicht.
Frau Ahmetovic hatte natürlich längst gemerkt, dass Yannick nicht in seinem Bett lag. Sie hatte herumtelefoniert und auch unsere Eltern alarmiert, und unser Schwindel war aufgeflogen. Was blieb uns übrig, als einen neuen zu erfinden? Hätten wir vom Theater im Nebel erzählt, hätte uns doch niemand geglaubt! Also haben wir gesagt, wir wollten heimlich von Tür zu Tür ziehen und die Leute um Süßigkeiten anbetteln. Dann wäre der Nebel aufgekommen, und wir hätten uns zuerst verlaufen und dann Yannick und Jacqueline verloren. Wir hätten keine Ahnung, wo sie abgeblieben wären.
Na ja, das haben sie uns geglaubt, aber furchtbaren Ärger haben wir trotzdem bekommen. Das war uns allerdings so was von egal! Wenigstens waren wir davongekommen.
Natürlich haben wir untereinander oft über die Sache geredet, wenn niemand anders dabei war. Wir sind sicher, dass dieses ganze unheimliche Theater nur einmal im Jahr aus dem Nebel auftaucht, für eine Nacht – die Nacht von Halloween. Wahrscheinlich merken die Leute im Zelt gar nicht, dass sie zwischen diesen Nächten einfach nicht existieren. Und als uns der Mann damals nachgerufen hat, sie würden uns zurückholen, in der nächsten Nacht oder der darauf... Da sprach er natürlich von den folgenden Halloweenfesten.
Und so kam es auch.
Im ersten Jahr war es Lennart. Niemand hat je einen Hinweis darauf gefunden, was sich abgespielt hat. Er war einfach am Morgen des ersten November nicht mehr da, obwohl seine Eltern ihm ausdrücklich verboten hatten, jemals wieder Halloween zu feiern. Und er wäre ganz sicher nicht freiwillig noch einmal losgezogen, das könnt ihr mir glauben! So groß war seine Sehnsucht nach Jacqueline nun auch nicht.
Im Jahr darauf haben sie keinen von uns erwischt, aber als ich einmal aus dem Fenster blickte, standen zwei elegant gekleidete Männer an der nächsten Straßenecke, als beobachteten sie unser Haus. Nebel waberte um ihre Füße. Ich war mir ganz sicher, dass einer der beiden der Mann war, der uns damals nicht gehen lassen wollte.
Letztes Jahr war es dann Tina, die verschwand. Markus, ihr kleinerer Bruder, sagte, er hätte eine vornehme Dame vor dem Haus stehen sehen. Aber sonst wusste er auch nichts.
Nun sind wir noch zwei, Carina und ich. Morgen früh, vielleicht...
Ich habe es also geschafft. Mein Bericht ist fertig, und ich komme noch fast pünktlich zur Schule. Hab nur die ersten beiden Stunden verpasst, das kommt öfter vor. Leider ist unser Internetanschluss zur Zeit nicht in Ordnung. Und in diesem kleinen Kaff sind nur wenige Leute online. Ich denke, ich werde den Bericht auf meinem USB-Stick einem meiner Lehrer geben und ihn bitten, ihn für mich ins Internet zu stellen. Natürlich werde ich so tun, als sei das alles nur eine erfundene Geschichte zu Halloween. Mein Deutschlehrer sagt sowieso immer, dass ich ein Talent fürs Schreiben habe. Lehrer mögen es, wenn ihre Schüler kreativ sind.
Schüler, die ein Rad ab haben, mögen sie nicht so sehr.
Wenn ich Pech habe, wird man mir morgen früh glauben. Aber vielleicht habe ich Glück, und die Theaterleute interessieren sich nicht mehr für mich, jetzt, wo ich sowieso alles erzählt habe.
Aber letzten Endes, falls sie mich doch holen sollten...
Vielleicht ist es gar nicht so schlimm, wie ich die ganzen Jahre gedacht habe. Immerhin würde ich Yannick und Jacqueline wieder sehen, und Lennart und Tina. Und falls sie Carina auch irgendwann erwischen, sind wir dort im Nebel auf jeden Fall eine coole Truppe.
Immerhin: Die Stücke, die sie aufführen, sind echt der Hammer!