Das Telefon
Das Telefon klingelt. Seit Tagen schon.
Sie steht in der Tür zum Wohnzimmer. Mit gemischten Gefühlen und geschlossenen Augen. Die Versuchung, sich einfach umzudrehen, und zu gehen, ist groß. Doch sie bleibt und schaut nicht auf. Unsichtbare Seile scheinen sie an diesen Raum zu binden, den sie mit so viel Vorfreude und Hingabe gestaltet und eingerichtet hat, der so lange Teil ihres Lebens war. Schau nicht hin.
Das Telefon klingelt beharrlich. Sie sieht den Raum vor sich, die Augen fest geschlossen, unfähig, sie zu öffnen, unfähig, sich zu bewegen, unfähig, den Hörer von der Gabel zu nehmen. Sie ist wie erstarrt.
Der Teppich, weich und flauschig, der ihr immer ein so warmes Gefühl vermittelt hatte. Oder das große Sofa, auf dem man eher lag als saß, mit den vielen, weichen Kissen, das so wunderbar in den großen, hellen Raum passte und mit seinem dunklen Holzgestell einen wohligen Kontrast zu den hellen Möbeln bildete. Die Teetasse, die blaue, mit ihrem Namen darauf, ihre Lieblingstasse. Sie ist umgefallen. Hässliche Flecken haben sich auf Sofa und Teppich ausgebreitet.
Das Telefon klingelt noch immer.
Die Fotos. Schwarz-weiß Fotografien von Menschen. Großstädten. Vom Leben. Ausdruck. Dynamik. Die Schnelllebigkeit des Lebens, als Momentaufnahme, ein Innehalten, gebannt auf Papier. Ihr ganzer Stolz.
Die plötzliche Stille des verstummten Telefons trifft sie wie ein Schlag. Die Versuchung, sich einfach umzudrehen, und zu gehen, ist unwiderstehlich. Doch sie bleibt und schaut nicht auf. Sieh nicht hin, vielleicht ist alles nur ein Traum. Sie schaudert.
Es ist Herbst geworden. Draußen haben sich die Blätter gefärbt. Gelb. Orange. Rot. Wunderschöne, kräftige Farben.
Wer wohl angerufen hat. Es ist doch schon spät. Zu spät. Vielleicht war es die Mutter. Um zu plaudern. Wie war dein Tag? Oh, gut, wie immer – nichts neues. Stell dir vor, was dein Vater wieder angestellt hat… Ihr helles Lachen. Der Hauch einer Erinnerung.
Oder vielleicht ist es die Freundin. Die wie eine Schwester ist, seit frühesten Kindertagen. Die alles mit ihr geteilt hat, die Tüte Bonbons, die erste Verliebtheit, die Liebe zur Natur. Blumen. Farben. Wind und Meer. Die Freundin, die immer wusste, was gut und richtig war. Bei der sie sich immer verstanden gefühlt hatte.
Das Telefon klingelt. Zu gern hätte sie gewusst, wer am anderen Ende wartet. Es geduldig klingeln lässt. Immer und immer wieder. Um diese Zeit. Zu dieser Zeit. Vielleicht ist es niemand. Vielleicht nur jemand, der sich verwählt hat. Falsche Nummer – tut mir leid. Sie haben sich verwählt. Sie ist neugierig. Vielleicht sollte sie… einen Schritt auf das Telefon zu… Nur einen kleinen Schritt…. Nein, noch immer ist sie wie erstarrt. Sie steht nur da. Und hört die plötzliche Stille.
Das Zimmer ist dunkel. Die Sonne längst untergegangen. Es dämmert. Es ist kalt. Die Kälte kriecht an ihr hoch, wie eine Schlange. Schlüpft unter ihre Haut. Dringt ein ihn ihre Adern, und windet sich entlang ihrer Adern nach oben.
Das Telefon klingelt erneut. Noch immer ist sie nicht fähig, den Hörer zu nehmen, zu antworten, ein Gespräch zu beginnen. Starr steht sie in der Tür. Die Versuchung, sich einfach umzudrehen, und zu gehen, ist unbeschreiblich stark. Doch sie bleibt und schaut nicht auf. Sieh nicht hin, vielleicht ist alles gar nicht wahr.
Das Telefon klingelt noch immer. Wie gern würde sie reden. … Wie gern eine Stimme hören. Das Klingeln scheint dringlicher zu werden. Lauter. Immer lauter. Sie möchte sich die Ohren zuhalten. Es verstummt. Die Stille brüllt ihr laut ins Gesicht. Weglaufen. Sich umdrehen und laufen. Doch sie kann nicht. Sie bleibt.
Das Telefon klingelt. Es ist egal, wer es ist. Nicht mehr wichtig. Es ist viel zu spät. 3 Tage sind vergangen. Sie schaut auf, und betrachtet den Körper, der einmal ihrer war. Vor Äonen von Jahren, wie es scheint. Der Teppich hat sich rot gefärbt. Eine wunderschöne, kräftige Farbe.
Sie hatte weglaufen wollen – er hatte sie nicht gehen lassen.
Die Versuchung, sich umzudrehen und zu gehen, ist überwältigend. Sie gibt nach und geht.
Das Telefon fängt an zu klingeln.