Das Tagebuch
Emilie blätterte in ihrem alten Tagebuch. Es war ihr beim Ausmisten der Wohnung zufällig in die Hände gefallen.
Sie musste schmunzeln. Wie oft hatte ihr dieses unscheinbare Büchlein psychologische Hilfe geleistet? Es tat ihr damals gut, sich das Geschehene von der Seele zu schreiben. Manchmal dachte sie das Tagebuch würde ihr die dringend benötigten Antworten liefern, denn am Tag nach dem Eintrag, waren ihre Gedanken oft klar und sie wusste genau, was zu tun war.
Im Dezember 2010 hatte sie die letzten Einträge vorgenommen.
Damals war sie seit 3 Jahren mit Tobias zusammen gewesen. Als sie sich in dem kleinen Hotel in Hrensko kennenlernten hatten, hatten sie beide eine Trennung mit viel Wut und Enttäuschung hinter sich gebracht. Sie waren zu diesem zauberhaften Ort in der böhmischen Schweiz gekommen, um ein wenig abzuschalten. Sie trafen sich dort völlig unerwartet, genau wie Amors Pfeil, der sie beide mitten ins Herz traf.
Im Dezember 2010, reisten sie erneut dorthin um ein romantisches Wochenende in ihrem Hotel zu verbringen.
17.12.2010
Ich werde dieses Gefühl nicht los! Tobias hat mir etwas zu verheimlichen!
Heute morgen, als er im Bad war, packte ich unsere Sachen aus. Ich fand doch tatsächlich ein blondes langes Haar an seinem Schal!
Ich würde mir wohl nichts dabei denken, wenn er nicht die ganze Zeit schon so komisch gewesen wäre. Er kam letzte Woche oft spät aus dem Büro, hatte dafür seltsame Ausreden und er wirkte ständig wie ein gehetztes Reh.
Was soll ich denken? Fange ich schon an zu spinnen? Mein Bauch sagt mir, dass alles in Ordnung ist. Tobias würde mich nie betrügen.
Aber komisch ist das Ganze, oder?
18.12.2010
Ich habe Tobias mehrmals gefragt, warum er so komisch sei und ob mir was zu erzählen habe, doch er wich jedes Mal aus!
Ich kenne ihn sehr gut und weiß genau, dass er etwas verheimlicht. Was kann das für ein Geheimnis sein? Hat er eine andere?
19.12.2010
Ich habe etwas gemacht, was ich noch nie zuvor getan habe und ich bin nicht stolz darauf. Als Tobias duschen war, habe ich heimlich in sein Handy geschaut. Es lag ganz unauffällig und harmlos auf seinem Bett als wollte es unentdeckt bleiben, doch als ich es sah, konnte ich einfach nicht widerstehen.
Ich kam mir total schäbig vor, doch ich redete mir ein, der Zweck heilige die Mittel. Ich öffnete seine Kurznachrichten App und machte mich auf die Suche. Wonach wusste ich selbst nicht genau. Doch tatsächlich wurde ich fündig. Melanie! Das war sie also, die Hexe, die mir meinen Freund auszuspannen versuchte. Mal sehen, was sich die beiden so zu schreiben haben, dachte ich mir.
„Meine Freundin darf auf keinen Fall von unseren Treffen Wind bekommen!“.
„Keine Sorge, das wird sie nicht. Schließlich mache ich so etwas nicht zum ersten Mal!“
Was für ein Miststück!!! Nicht zum ersten Mal?!
Beim schnüffeln in seinem Handy war ich mir total sicher jetzt den Beweis für seinen Betrug zu haben. Doch jetzt, mit ein paar Stunden Abstand, bin ich gar nicht mehr so sicher. Vielleicht gibt es doch eine Erklärung?
Heute Abend gehen Tobias und ich in das kleine Wirtshaus an der Ecke. Vielleicht werde ich dort mit ihm in Ruhe reden. Oder werden wir uns trennen?
Emilie ließ das Tagebuch sinken. Damals war sie völlig durcheinander gewesen. Ihr Kopf hatte viele Argumente und Beweise gefunden, die dafür sprachen, dass sie betrogen wurde. Ihr Bauch aber hatte noch Zweifel an diesem Betrug. Das war auch der Grund, warum sie zunächst augenscheinlich gelassen blieb: Doch beim Essen wollte sie es knallen lassen, ihm alles an den Kopf werfen! Alles oder nichts.
Ihre Gedanken wanderten erneut zurück.
Die fröhlichen und hellen Farben der Tischdecke wollten so gar nicht zu ihrem Gemütszustand passen. Sie hielt es nicht mehr aus! Sie wollte aus seinem Mund hören, was los war. Wenn er sie wirklich hinterging, sollte er jetzt Manns genug sein, es ihr ins Gesicht zu sagen.
Doch noch bevor sie etwas sagen konnte, übernahm er das Wort.
„Emilie“, sagte er und schaute ihr tief in die Augen. „Ich wollte es dir eigentlich erst nach dem Essen sagen, aber...“ Er schluckte.
„Nach dem Essen?!“, äffte sie ihn nach. War er jetzt völlig übergeschnappt? Ist sein Betrug nicht schon schlimm genug, wollte er sie jetzt auch noch quälen?
Er ließ sich nicht beirren: „Wir sind jetzt seit drei Jahren ein Paar. Du bist die Frau meines Lebens! Nie habe ich eine, wie dich, kennengelernt, eine mit der ich lachen und weinen kann und alles teilen kann.“
Seine Worte hallten in ihrem Kopf, als wollten sie sie verspotteten. Was redete er denn da, fragte sie sich, nun total verwirrt.
„Ich liebe dich. Ich möchte den Rest meines Lebens mir dir, liebe Emilie, verbringen. Willst du mich heiraten?“ Erwartungsvoll sah er sie an.
„Heiraten?!“ Sie war irritiert. Hatte er ihr eben einen Heiratsantrag gemacht?
„Emilie?“ Er wirkte nervös. „Alles in Ordnung mit dir?“
Die ganze angestaute Wut machte wollte nun mit einem Mal aus ihr heraus.
„Und was ist mit Melanie?“, platzte es aus ihr heraus. Wütend starrte sie ihn an.
„Melanie? Du weißt von ihr?“ Er lief rot an.
„Ja, allerdings! Was sagt sie denn dazu, dass du mich heiraten willst?“ Das Wort 'heiraten' spuckte sie ihm förmlich entgegen.
„Sie findet es toll, schließlich verdient sie damit ihr Geld. Emilie, was um Himmels Willen ist los mit dir? Hab ich was falsch gemacht?“
„Sie verdient damit ihr Geld? Wie meinst du das?“
„Sie ist Wedding Planerin! Ich habe mich letzte Woche mehrmals mit ihr getroffen um dich zu überraschen. Sie ist auch hier, um dir, vorausgesetzt, du sagt ja, eine paar Ideen, für eine Hochzeit hier in Hrensko vorzustellen.“
Emilie wurde aus ihren Erinnerungen gerissen, als ein kleines 6-Jähriges Mädchen fröhlich ins Zimmer gerannt kam.
„Mama, wir sind wieder Zuhause!“, rief das Mädchen lachend und flog Emilie die Arme.
Tobias kam herein und lächelte. Sie lächelte zurück. Sie hatte damals seinen Antrag natürlich angenommen und ein halbes Jahr später hatten sie in Hrensko geheiratet. All die bösen Gedanken hatten sich mit einem Mal in Luft aufgelöst.
Manchmal ist es vielleicht doch besser auf seinen Bauch zu hören, dachte sie und legte das Tagebuch beiseite.