Das Streben unter der Sonne
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Unverwandt sah er sie an, blickte direkt in ihr feuriges, liedloses Auge. Golden, stoisch und zugleich verzehrend infernal war ihr Anblick. Er konnte sich ihrer Aura nicht entziehen, zu berauschend war sie. Ihre Wärme umgab ihn wie eine sorgende Mutter. Seine geblendeten Augen schlossen sich. Das durch die Augenlieder schimmernde Licht flackerte rötlich in seinen Augen. Die wohlige Wärme liess allmählich nach und das Flackern wich einem tiefen Schwarz.
Er konnte nun seinen eigenen Atem hören.
Verstört öffnete er die Augen um sicherzugehen, dass er in seinem eigenen Bett lag. Ein Blick auf den Bildschirm des Tablets verriet ihm die aktuelle Zeit: 07:20 Uhr. Schwache Sonnenstrahlen stachen durch die Öffnungen des grauen Rollladens und formten eine Leiter aus Linien, die bis zu seinem Bett reichte. Benommen schob Andreas die Bettdecke auf die Seite und setze seine Beine auf den laminierten Boden. Sein gesetztes Ziel war das Badezimmer. Tappend stieg er die Treppe hinunter, erreichte die Dusche und liess das kalte Wasser über seinen hageren Körper strömen. Danach warf er sich auf den Sessel im Wohnraum um den Tablet-Computer zu bedienen. Nachdem er die anstehenden Multiplayersessions angesehen hatte, wählte sein Zeigefinger nur zögerlich das Schule-Icon an. Die aktuellen Themen für heute wurden aufgelistet: ‘Unsere Gesundheit, das höchste Gut‘ und eine Gruppenarbeit ‚Umgang mit social media‘. Zischend öffnete er ein Energy Drink und liess die sprudelnde, ätzende Flüssigkeit seine Kehle herunterfliessen.
Unwillig setzte er die Kopfhörer auf und aktivierte die Funktion, worauf zunächst ein Videoclip erschien. Die Sprecherin präsentierte, begleitet durch graphisch eindrucksvolle Bilder, die Hintergründe der Regenerationstherapie:
„Der menschliche Organismus ist fähig sich zu einem hohen Grade selber zu erneuern und Krankheiten entgegenzuwirken. Jedoch sind diese Mechanismen begrenzt in ihrer Kapazität. Die Folgen davon sind Beeinträchtigungen, Altern und letztendlich die Mortalität. Um den humanen Organismus in diesen Regenerationsmechanismen zu unterstützen und dem Zerfall des Körpers entgegenzuwirken ist der Life Science Forschung der entscheidende Durchbruch gelungen: Die Einsetzung körpereigener Stammzellen als Regenerationstherapie. Pluripotente Stammzellen teilen sich unendlich und können sich in jede beliebige Körperzelle verwandeln. Stellen Sie sich vor, dass diese Zellen zum Beispiel ihre defekte Leber ersetzen können oder sogar verlorene Extremitäten wiederherstellen können. Die Möglichkeiten sind unbegrenzt und der Nutzen nicht hoch genug zu werten.
Dazu muss nur eine kleine körpereigene Zellprobe entnommen werden um dann in Stammzellen zurückprogrammiert zu werden. Von da an ist es möglich diese in alle Körperzellen zu differenzieren. Je nach Grösse des Defekts kann das beschädigte Gewebe mit Stammzellen stabilisiert werden oder bei Organversagen kann dieses durch ein mit Stammzellen hergestelltes Organ substitioniert werden. Damit ist quasi jedes Gebrechen therapier- und heilbar geworden.
Die Zukunft ist heute und hier, Ihr Gesundheitswesen ‚Regenatovum‘ unterstützt Sie dabei, dass Ihr höchstes Gut, die Gesundheit auf jeden Fall gewährleistet wird.“
Andreas strich über sein bekleckertes Hemd. Er hatte sein Energy Drink verschüttet.
Missmutig stand er auf, überquerte den weitläufigen Raum und gelangte zur getönten Fensterfassade. Karge, flache Terrassendächer waren zu sehen, wohinter eine kahle Betonmauer prangte, die von blitzenden Stacheldrahtrollen gekrönt war. Er fragte sich unwillkürlich wie es wohl hinter dem Eingang der Mauer sein würde, die von zwei in weissen Schutzanzügen gekleideten Männern bewacht wurde. Die Strassen waren ansonsten leer und sauber. Nach einer lohnenderen Unterhaltung suchend wandte er sich von der Scheibe ab und blickte unverhofft in das Gesicht seine Onkels.
Unwillkürlich zuckte er zusammen.
„Hey Andreas, was machen die Aufgaben?“, fragte sein Onkel ohne auf Andreas‘ Reaktion einzugehen.
„Geht schon.“, gab Andreas etwas verärgert zur Antwort.
Er mochte seinen Onkel nicht wirklich. Sein schiefes Grinsen und seine gespielte Aufmerksamkeit bewirkten mehr Abneigung denn Zuneigung. Kaum hatte er Ruhe von seinem wohl artikulierten Geschwafel. Sein Onkel Toni war einfach da. Andreas konnte es sich damals nicht aussuchen als seine Mutter fort war.
„Hast du Lust auf Mittagessen?“
„Mal sehen, was gibt es denn?“
„Kängurugeschnetzeltes an einer Orangensauce mit Reis als Beilage, und das was du am meisten magst, Vanilleeis zum Nachtisch!“, sagte Toni mit gewinnerischem Lächeln.
Er hasste dieses Lächeln.
„Ok lass mal sehen…“, sagte Andreas gespielt gelangweilt und setzte sich an den schwarzen Marmortisch, auf dem das Gericht bereits dampfend auf ihn wartete.
Toni setzte sich dazu und fragte gleich: „Was gab’s denn zu machen?“
„So Sachen über Regeneration und so…“
„Ah so…“ Toni’s Gesicht wurde nun nachdenklich. „Weisst du, das erinnert mich wie es mal früher war, als deine Mutter noch lebte…“
Andreas schwieg betreten.
„Da warst du doch 6 Jahre alt, weisst du noch?“
Widerwillig erinnerte sich Andreas an die letzten Augenblicke mit seiner Mutter, als sie im Sterben lag. Sie war eine von vielen. Sie wurden schwer krank und starben so schnell. Er erinnerte sich noch an ihren leblosen Körper. Es war nur noch die Hülle, das was er liebte war verschwunden. Warum konnte sie bloss nicht geheilt werden? Er kämpfte gegen die Tränen an, wollte sich keine Blösse geben.
„Nicht mehr so genau…“, sagte Andreas ausweichend.
„Und das alles nur wegen diesem Stern!“, sagte Toni mit etwas pathetisch klingender Stimme.
Aufgekratzt stand Andreas auf und ging stracks in sein Zimmer. Toni’s Rufe wie ‚was ist denn los?‘, oder ‚das Essen wird kalt!‘, waren ihm dabei egal. Sehr bald würde er mit seinem Clan neue Heldentaten vollbringen.
Um 15:00 Uhr war die Gruppenarbeit angesagt. Tamara war ziemlich gelangweilt. Wobei ziemlich eher eine Untertreibung war. „So‘n Scheiss muss ich nicht haben.“, raunte sie gehässig sich selbst zu. Die ganze Rumhockerei war ihr ordentlich auf den Keks gegangen. Lieber würd ich mal wieder `nen Hassbrief an meine Eltern und die Schule schreiben. Die halten mich hier wie ein Tier im Käfig! Sie hatte bereits mehrere Verwarnungen bekommen und ihre Eltern, ja die waren auch immer so verdammt unglücklich. Wann immer möglich ging sie ihren Eltern aus dem Weg. Sie hasste jedes Stück dieses künstlichen Lebens, ja draussen musste das Leben sein, nicht hier! Widerwillig loggte sie sich für die Arbeit ein. Zunächst kam eine Einleitung, die sie geflissentlich mit Nägel lackieren und hartem Rock überbrückte. Nun kam der schwierige Part: Mitmachen…
Dann war es an der Zeit sich mit den Jungs zu balgen. Alle Jungs mochten dieses Ballerspiel. Es war banal und brutal. Nur zu peinlich, dass sie von einem Mädchen ständig erledigt wurden. Der Ladebildschirm machte der egoperspektivischen Kamera Platz. Ohne zu zögern zückte sie ihr Messer und stach die ahnungslosen Opfer stets von hinten ab, wo auch immer sie sie fand, in der Küche, im Lastwagen, auf dem Kran… Die empörten Textnachrichten überflog sie dabei mit Hochgenuss und einem höhnischen Grinsen. Nur Andreas blieb zäh. Der war kaum zu überraschen. „Scheiss Gamer! Du versaust mir die gute Laune!“, rief sie mit angespanntem Gesicht um dann über ihre eigenen Worte zu lachen. Andreas war eigentlich ganz ok. Zwar nicht sonderlich redselig aber er schien sie zumindest zu verstehen. Nach der Abreibung schrieb sie Andreas im Chat:
„Nicht übel, good game!“
„Danke.“
„Bist du immer so krass drauf beim zocken?“
„Ich tu was ich kann um mein Prestige hochzuhalten.“
„Du bist etwa nicht auf diese dämlichen Punkte aus?“
„Doch schon.“
„Das ist doch albern, es muss Besseres geben als den ganzen Tag im beschissenen eigenen Haus rum zu gammeln und in Scheinwelten abzutauchen.“
„Warum spielst du denn überhaupt, warum machst du überhaupt bei der Schule mit?“
„Na um euch Vollpfosten kleinzukriegen!“
„Und was ist mit der Schule?“
„Hab ich mir vorgenommen vor den Haufen zu werfen!“
„Bist du übergeschnappt? Was passiert wenn deine Eltern das rausfinden?“
„Pffff… ich pfeif auf die, die sind eh ne Lachnummer. Weisst du, ich will hier sowieso weg…“
„Was? Ich weiss ja, dass du dir keine Mühe gibst, dass du deine Eltern abgrundtief hasst, warum auch immer, aber hey, das ist eine ganz andere Nummer die du da aufziehst!“
„Nein ich meins ernst. Ich will wissen wie es da draussen ist, will raus aus diesem Loch!“
„Du bist verrückt, da kommt niemand einfach so raus, die Mauer ist ein Hindernis, das du nicht überwi…“
„Warum erzähl ich dir das überhaupt? Ich dachte du bist anders als diese Trottel und Schafe… Ich hatte gedacht du würdest mitmachen.“
„Nenn mich was auch immer, da zieh ich nicht mit, das ist doch Wahnsinn.“
„Also gut, Feigling, behalt‘s wenigstens für dich. Dann bleib doch bei deinem öden, ätzenden Leben.“
„Lieber öde, als vom Stacheldraht runtergeholt zu werden.“
Tamara liess das Tablet auf ihr Bett plumpsen. Dann wohl doch allein. Enttäuscht kauerte sie sich im Bett zusammen und versuchte zu schlafen. Eine Träne rollte über ihre Wange, die sie verärgert wegwischte.
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Andreas wand sich in seinem Bett hin und her. Es konnte einfach nicht wahr sein. Warum sollte er da mitmachen. Würde er wirklich so verzweifelt sein um bei einer Flucht wie dieser mitzumachen? War er nicht etwa froh hier zu sein, bei den Privilegierten? Er hatte alles was er brauchte und noch viel mehr. Aber was hielt ihn wirklich hier? Sein Onkel? Die Computerspiele, was? Dann dachte er wieder darüber nach, wie es wohl hinter dem Tor sein würde. Er lag noch eine ganze Weile wach bis sein Körper ihm den Schlaf aufzwang.
Diesmal war da kein Traum, kein Licht, keine Gestalt. Müde blickte Andreas auf seine Tablet: 07:30 Uhr. Schwache Sonnenstrahlen drangen durch die Öffnungen des Rollladens und formten die üblichen Linienmuster. Ein Tag wie jeder andere, dachte er sich. Tamara war nicht mehr online. Die Schule war wie immer, sein Onkel derselbe. Seine Gedanken drehten sich um den gestrigen Chat. Dann bleib doch bei deinem öden, ätzenden Leben. Sie hatte recht. Er war nur zu ängstlich es einzugestehen. Sein Onkel brauchte ihn nicht, der würde ganz gut mit dem Geld und dem Haus zurechtkommen. Seine übertriebene Freundlichkeit war doch eh nur eine Maskerade.
Aufgeregt nahm er sein Tablet in die Hand und rief Tamara an.
„Geh schon ran!“, sagte Andreas unruhig zu sich und starrte auf den Bildschirm. Mit jedem verstrichenen Piepton wuchs seine Angst, nie mehr etwas von ihr zu hören.
Dann sah er sie. Mit Kapuzenpullover. Ihr rundliches Gesicht zeugte von Entschlossenheit. Ihre dünnen Lippen waren angespitzt.
„Was willst du, Andy?“
„Ich hab’s mir nochmal überlegt... Ich möchte doch mitkommen.“
„Und wie kommt’s?“, sagte sie mit etwas unentschlossener Stimme, als ob sie nicht wüsste ob sie sauer sein oder sich freuen sollte.
„Spielt das eine Rolle? Ich möchte einfach mitkommen.“
„Na dann.“, sagte Tamara diesmal mit immer noch ungläubigen Tonfall, „Aber du schuldest mir die Erklärung noch!“
„Also wie sieht dein Plan aus?“
„Wir packen unsere Sachen, du weisst schon, Proviant und so…“, erzählte Tamara jetzt ganz aufgeregt. „Das ist wie bei den Abenteurerromanen, in denen die Leute ausziehen um neues Land zu entdecken, hinaus aus ihrer Enge zu den Weiten… Und vergiss nicht den Anzug und den Food.“, fuhr sie fort.
„Du liest Bücher?“
„Ja ein paar hab ich zu Hause… Alle schon gelesen.“
Andreas schwieg ungläubig.
Voller Vorfreude packte Tamara nun ihre Sachen. Sie blickte um sich in ihrem Zimmer: Poster von uralten Rockbands, wildes Getümmel von Wäsche, abgegriffenen Büchern und sonstigen Gegenständen auf dem Boden. Erleichtert seufzte sie, da die Freiheit nicht mehr weit war. Heute Abend würde ihr Plan ausgeführt werden. Die letzten Sonnenstrahlen erkämpften sich den Weg durch das beschichtete Zimmerfenster. „Du hältst mich nicht davon ab mein Leben zu leben!“, flüsterte sie zur unweigerlich schwächer werdenden Sonne.
Die Zeit rückte näher, das Abendessen war das Ende und zugleich der Anfang. Es war ihr alles egal, ihr wütender Vater wegen ihrem Fernbleiben von den Schulaktivitäten, ihre traurige Mutter; es war einfach vorbei.
Als ihr Vater sich in seinem Büro einschloss und ihre Mutter im Wohnzimmer fern sah, war die Zeit gekommen. Sie schlich bepackt nach unten und öffnete die Garderobe ihres Vaters. Wie gewohnt war sein Ausweis in seiner Jacke. Dann hörte sie die Stimme ihres Vaters durch die verschlossene Türe: "Verdammte Scheisse! Jetzt machen die ernst!" Als sie hastig die verriegelte Tür öffnete, strömte ihr kühle Luft entgegen, die sie willkommen hiess. Doch noch etwas anderes brachte sie mit sich, Lärm, Rufe, Schreie. Behutsam schloss sie die Tür hinter sich. Auch er würde sie nicht mehr aufhalten. Geduckt rannte sie an protzigen Gebäuden vorbei, in denen noch Licht brannte. Sie konnte Silhouetten an den hellen Fenstern erkennen. Ihre Schritte wurden vom dunklen Asphalt verschluckt. Keuchend, mehr vor Aufregung als vor Anstrengung, erreichte sie den vereinbarten Treffpunkt. Eine schemenhafte Gestalt wartete bereits. Es musste Andreas sein. „Andreas?“ „Ja, ich bin’s.“ Kurz musterte sie den Jungen. Er überragte sie um beinahe einen Kopf. Sein Haar war krause, seine Figur eher schmächtig. Eine Brille prangte auf seiner schmalen Nase.
„Lass uns gehen, ich hab den Ausweis zur Hintertür.“, sagte Tamara mit erleichterter Stimme.
„Hey Tammy, weisst du was da los ist?“, fragte Andreas verhalten besorgt.
„Du meinst den Lärm? Keine Ahnung aber lass uns endlich gehen, schnell!“
Tamara hielt den Ausweis an einen Schlossapparat, worauf, begleitet durch ein Piepsen, das Schloss aufsprang.
„Komm!“, sagte Tamara ungeduldig, als Andreas noch ein letztes Mal zurückblickte. Als sie die Türe öffnete sprang ihnen flackerndes Licht entgegen. Vor ihnen spielte sich eine unglaubliche Szene ab. Schwer ausgerüstete Sicherheitskräfte drängten eine aufgebrachte Menge von Menschen von dem Tor zurück. Steine prasselten auf sie nieder, woraufhin mit Gummischrot und Knüppelschlägen erwidert wurde. Mitten im Getümmel standen brennende Wagen. Tamara und Andreas versuchten durch das Gedränge in die Stadt zu fliehen. Plötzlich wurde Andreas von einem Beamten gepackt und festgehalten. Tamara schrie. Der Mann schleppte den sich hilflos windenden Jungen zu den Reihen der Uniformierten. „Hilfe! Macht was!“, schrie Tamara wütend und griff nach einem Stein. Dann traf sie etwas Hartes, dass sie zurücktaumeln liess. In ihrer Nähe schlug ein Molotow Cocktail ein und worauf sie brennende Sicherheitsleute, die verzweifelt versuchten die Flammen zu löschen, sah. Benommen nahm sie blutüberströmte und hasserfüllte Gesichter um sich wahr. Ein rasender Mann schlug wild mit einem Metallrohr auf den Beamten ein, der sich mit Andreas versuchte sich in die eigenen Linien zurückzuziehen. „Macht ihn fertig!“, kreischte sie den aufgewiegelten Demonstranten zu. Der Uniformierte taumelte, lockerte den festen Griff um Andreas, wodurch dieser sich frei rang. Geistesgegenwärtig packte Tamara den wankenden Andreas und zog ihn aus dem Gedränge. Wütende Rufe ertönten von überall: „Schweine!“, „Mistkerle!“, „Reiche Pisser!“ Im Augenwinkel konnte Tamara noch erkennen wie Demonstranten den Mann mit Tritten und Schlägen zu Boden zwangen. „Lass uns schnell hier verschwinden!“, rief Tamara dem noch geschockten Andreas zu. Gewalt hatte der sich anders vorgestellt.
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In der Stadt war die Hölle los. In den Strassen waren behelfsmässige Barrikaden errichtet worden. Überall lagen Dreck und brennende Gegenstände. Aufgebrachte Leute schrien sich wüste Parolen aus dem Leib. Im orangenen Schein der Flammen konnten man ihre schaurig faltigen Gesichter erkennen.
„Hast du das gesehen? Diese Gesichter? Was ist hier bloss los?“, meinte Andreas entsetzt.
„Ich weiss wo’s langgeht.“, keuchte Tamara, Andreas Bemerkung nicht wahrnehmend.
Sie rannten bis ihre Beine müde wurden.
„Ich glaube hier irgendwo sollte es sein.“
„Wirklich, woher zum Teufel weisst du das?“
„Hier wohnt ein Verwandter von mir.“
„Ah so, sonst noch irgendwelche netten Überraschungen?“, bemerkte Andreas gereizt.
„Hey ich hab an alles gedacht, Mann. Und ich hab dir gerade den Arsch gerettet!“
Andreas sah in ihre trotzigen, braunen Augen.
„Schon gut, du weisst wo’s langgeht.“, gab er geschlagen zu und folgte ihr. Nun bogen sie in eine andere Strasse ab. Tamara suchte etwas unschlüssig die Hausnummern ab. Dann trat sie vor eine Tür mit schummerigem Eingangslicht und klopfte zögerlich an. Es schienen Minuten zu vergehen bis das Schloss gedreht und die Türe geöffnet wurde. Ein etwas untersetzter Mann stand an der Schwelle.
„Oh Tammy, was machst du hier? Wie bist du bloss hier her gekommen? Da draussen ist es extrem gefährlich!“
„Wir wussten nicht, dass die Leute aus der Stadt sowas machen würden.“, sagte sie und umarmte beschwichtigend den Mann.
„Das ist mein Onkel Arthur.“, erklärte sie mit feuchten Augen Andreas.
„Hallo, ich bin Andreas.“, konnte er noch ausser Puste sagen.
„Kommt schnell rein.“, raunte der Mann und schloss hastig die Tür hinter sich zu.
„Die Leute sind wütend, wisst ihr. Sie wollen nicht länger benachteiligt sein.“
„Benachteiligt bei was?“
„Na vor allem bei der medizinischen Behandlung. Es sterben massenhaft Menschen, weil ihnen die medizinische Heilungstherapie versagt bleibt. In den überfüllten Hospitälern der Stadt können wir nur den Tod hinauszögern, falls die Leute überhaupt das Geld dazu haben… Gestern wurde in unserem Krankenhaus randaliert. Es war eine riesen Sauerei.“
Tamaras Onkel führte sie ins Wohnzimmer. Ein Junge sass auf dem Sofa und starrte auf den Fernsehbildschirm.
„Hey Paul, das ist Tamara, deine Cousine und Andreas, ein Freund von ihr.“
„Hallo.“, antwortete Paul mehr abwesend als aufmerksam.
„Warum darf ich bloss nicht raus?“, fragte er Arthur, die Besucher nicht weiter beachtend.
„Es ist gefährlich da draussen, das weisst du.“, mahnte Arthur.
„Ganz recht, wir haben auch einen Grund gefährlich zu sein.“
„Hör mal, nicht jetzt…“
„Meine Cousine, sagst du?“, fragte er nun, den Blick auf Tamara gewandt. „Aber nicht von dem Onkel, oder?“, meinte Paul mit abschätziger Miene.
„Doch, und jetzt krieg dich wieder ein.“
„Warum sollte ich?“, zischte Paul wütend.
Tamara wurde unruhig.
„Weisst du, dass dein Vater ein elender Feigling ist. Nur durch seine Sicherheitsdienste wurde er zum Reichenviertel zugelassen, wir durften hier ganz gemütlich die Scheisse aussitzen!“, sagte Paul mit lauter werdender Stimme.
„Was mein Vater angeht ist mir egal.“, gab Tamara kühl zurück.
„Als meine Mutter im Sterben lag, hat er sich nicht ein bisschen um sie geschert, geschweige denn um uns.“
„Es ist genug, Paul!“, ermahnte Arthur seinen Sohn erneut.
Mit einem wütenden Schnauben wandte Paul seinen Blick wieder auf den Fernseher, auf dem zu sehen war wie sich der Pulk aus Demonstranten panisch auflöste und sich in alle Winde zerstreute, als scharfe Schüsse fielen.
„Ich glaub‘s nicht!“, rief Paul entsetzt aus und stürmte aus dem Wohnzimmer.
„Scheisse ist der mies drauf…“, bemerkte Tamara aufgebracht.
Andreas blickte betroffen zu Boden. Das Schicksal dieser Familie liess ihn unwillkürlich an seine Mutter denken. Niemand konnte sie retten. Er erinnerte sich wie er sie am Arm festhielt, damit sie nicht weggehen würde… Der Boden wies übrigens ein quadratisches Muster auf. Die dunkleren Steifen kreuzten sich miteinander um dann wieder ihres Weges zu gehen.
„Was machst du Andreas?“ Tamaras Stimme erlöste ihn von den Qualen.
„Ach nichts.“, sagte er mit unschuldigem Blick.
„Es wird Zeit zu Bett zu gehen. Wir können Morgen weiter reden.“, meinte Arthur.
„Ja, das ist eine gute Idee!“, pflichtete Tamara ihm etwas übereifrig bei.
„Nanu, Leute in deinem Alter pflegen doch länger aufzubleiben“, sage er etwas skeptisch.
„Der Tag war echt irre heute, stimmt‘s Andy?“
„Ja schon…“, sagte Andreas unsicher und versuchte sich Tamaras Stimmung zu erklären.
„Also gut ich mach euch die Betten bereit.“
Andreas wälzte sich unruhig im Bett, als die Tür zu seinem Zimmer sich leise öffnete.
„Mach dich fertig, wir gehen.“
„Was?“, gab Andreas schlaftrunken und halblaut von sich.
„Klappe!“, zischte Tamara. Sie dürfen es nicht merken.
Widerwillig machte sich Andreas bereit und gemeinsam huschten sie in das Erdgeschoss. Nach einer Weile suchen und herumtasten, fand Tamara den Eingang zur Garage.
„Mal sehen was hier steht… Bingo, ein Motorrad!“, sagte sie aufgeregt.
„Bist du übergeschnappt?!“
„Warum? Ich hab gesehen wie man sowas bedient.“
„Wo denn?“
„Na, im Internet!“, gab sie mit entwaffnendem Lächeln zurück.
„Ohne mich, nochmal so was halsbrecherisches und wir sind erledigt.“
„Komm schon.“
„Nein!“
„Ich werde ohne dich gehen, wenn es sein muss.“
Im Halbdunkeln konnte er ihre enttäuschten Augen erkennen.
„Du wirst mir als Feigling in Erinnerung bleiben.“, sagte sie mit bitterer Stimme.
„Bist du dir da sicher, ich hab da ein mieses Gefühl...“, gab Andreas nach.
„Na komm schon.“
„Und was ist mit Arthur?“
„Der braucht weder das Ding hier, noch uns.“
„Na gut, aber sei vorsichtig.“
„Klaro“, jauchzte sie erfreut.
Selbstsicher setzte sie sich auf das Motorrad.
„Was ist mit dem Schlüssel?“
„Daran gedacht.“
„Du miese Diebin.“, kommentierte Andreas sarkastisch .
„Steig auf.“, sagte sie ohne darauf einzugehen.
Nach mehreren Anlaufversuchen und grossen Ausreden, brachte Tamara das Motorrad an.
Die Stadt war noch immer im Aufruhr. Nur mit Mühe und Not konnte Tamara den betrunkenen und verzweifelten Menschen ausweichen, von denen ein paar versuchten mit Hieben sie von der Maschine runterzuholen. Es lag eine tiefe Depression auf der Stadt.
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Sie fuhren. Wer hätte es gedacht. Die kühle Luft schlug Tamara entgegen. Andreas klammerte seine Arme notgedrungen um ihre Taille. Ihre blonden Haare wehten ihm ins Gesicht. Er suchte nach einem Begriff, der den Duft ihrer Haare beschreiben würde, fand aber keinen. Die Stadt war nun tatsächlich hinter ihnen. Der Mond schien sanft auf sie herab und beleuchtete die Umgebung. Freundliche, weitläufige Hügel umgaben die Strasse auf der sie entlangfuhren. Die vorbeirauschenden Häuser wiesen ihnen den Weg, immer weiter weg von zuhause. Ihn fröstelte und er drückte sich mehr an Tamaras wärmendem Körper.
Innerlich musste er lachen, eine Sorglosigkeit überkam ihn. Das musste die Freiheit sein. Keine Schule, kein ätzender Onkel, keine Grenzen...
„Schau mal da!“, rief Tamara ihren Kopf leicht nach hinten geneigt. „Sieht aus wie ein Kieswerk. Lass uns da hin gehen.“
Ohne auf Andreas Reaktion zu warten, bog sie von der Strasse ab. Das Gelände lag friedlich in den sanften Strahlen des Mondes. Das Werk war von grossen Kieshügeln umgeben. Ein Förderband ragte in die Höhe und daneben stand ein Metallgerüst, das wie ein Turm in den blossen Himmel stach.
Tamara stellte den Motor ab und rannte zu den Hügeln. „Fang mich, wenn du kannst!“, rief sie vergnügt. Andreas, angesteckt von ihrer Freude, jagte ihr lachend nach. Sie stieg auf einen der Hügel um dann dahinter in der Dunkelheit zu verschwinden. Als Andreas keuchend die Hügelspitze erreichte, hatte er sie aus den Augen verloren. „Tammy! Du, ich finde dich noch!“ Er konnte das kaum unterdrückte Lachen im Busch am Fuss des Haufens hören. „Da bist du ja!“, rief Andreas theatralisch und stürmte den Hang hinab. Diesmal hatte er sie eingeholt und packte sie und warf sich mit ihr auf den Boden. Kichernd versuchte sich Tamara loszulösen, hatte aber keinen Erfolg. Dann wurden sie beide ruhig und sahen sich lange gegenseitig an.
„Warum bist du mitgekommen?“, fragte Tamara schliesslich, gegen die Stille ankämpfend. Diese behielt zunächst jedoch noch die Oberhand.
„Weisst du noch als du mir gesagt, hast, dass ich in meinem öden Leben bleiben soll… Das hat mir die Augen geöffnet…“, begann Andreas zögerlich.
„Ach ich rede viel, wenn ich verärgert bin und dazu noch blöde Dinge.“, sagte Tamara kopfschüttelnd.
„Nein… es wurde mir klar, dass mein Leben wirklich öde war. Du hast mir gezeigt, wie aufregend das Leben doch sein kann.“
Tamara strich sich nervös durch die Haare.
„Ich weiss, dass ich Menschen oft wehtue. Irgendwie hast du aber das alles ausgehalten. Du bist anders als die anderen. Du hast Geduld mit mir…“
„Schon ok.“, sagte Andreas unruhig.
„Lass uns auf den Turm da drüben gehen.“, meinte sie und zog Andreas hoch.
Zusammen stiegen sie auf den Turm und sassen auf der obersten Plattform. Schweigend sahen sie in die Ferne und konnten sehen wie die Sonne allmählich aufging.
„Waren wir wirklich so lange weg?“, wollte Tamara wissen und lehnte sich behutsam an Andreas.
„Es scheint so.“, gab Andreas knapp zurück.
„Die Sonne macht mir keine Angst mehr, sieh wie schwach sie doch ist.“, sagte Tamara gedankenversunken. Nach einer längeren Pause wandte sie sich zu Andreas und fragte: „Warum eigentlich bist du so schweigsam?“
„Ich geniesse den Augenblick. Erzähl mir doch von deinen Träumen.“, lenkte Andreas ab, das Kinn auf seine Hand gestützt.
„Ich möchte ein neues Leben anfangen…“, begann Tamara, während sie mit der Hand durch ihr schulterlanges Haar fuhr. „…Dann wünsche ich mir einen grossen Garten mit vielen Bäumen. Und einen Verstärker, dass ich so laut abrocken kann wie ich will. Und ich will schwimmen gehen in kühlem, klarem Wasser. Dann möchte ich eine Bibliothek haben, mit vielen, vielen Büchern und auch selbst welche schreiben.“
Andreas grinste.
„Für den Anfang habe ich auch schon ein Buch dabei.“, sagte Tamara und zog beiläufig das Buch aus dem Rucksack. Sie schlug es auf und meinte mit verschmitztem Lächeln: „Hier hab ich aufgehört. Ich les dir mal vor: Milo war so weit entfernt von zu Hause wie noch nie. Seine Augen hatten den Nordpol gesehen, den Himalaya, die Rocky Mountains und das Kaspische Meer. Nun setzte er sich zur Ruhe am einem geruhsamen Ort irgendwo nahe dem Mississippi. Er schrieb schon eifrig an seinen Memoiren als er eine reizende Dame kennenlernte. Nicht viel später war er nicht mehr allein sondern zu zweit. Lebenssatt und glücklich verbrachte er seinen Lebensabend fern seiner angestammten Heimat, verspürte jedoch keinerlei Reue diesen Schritt getan zu haben…“
Während Tamara noch las wurde die Landschaft langsam in das gleissende Licht der Sonne gehüllt. Erst jetzt nahm Andreas die Kahlheit der Umgebung so richtig wahr. Der Traum von der Nacht wich den unbarmherzigen Strahlen des triumphierenden Sterns. Begierig jede Nische einzunehmen und dem Schatten zu spotten, erhob sie sich höher und höher.
„Wir sollten langsam mal unsere Anzüge anziehen.“, bemerkte Andreas unruhig.
Tamara sah in widerspenstig an, als hätte er gerade alle ihre Träume zerstört.
„Ich will hier bleiben, mit dir. Lass uns einfach vergessen was war.“
„Sie ist gefährlich, dass weisst du doch. Und wie wollen wir hier überleben?“, bemerkte Andreas mit wachsenden Zweifeln.
„Sie ist nur gefährlich, wenn du sie dafür haltest.“, gab Tamara trotzig zurück.
„Hör mal ich muss dir nicht in Erinnerung rufen, was geschieht wenn wir uns ihr aussetzen.“
Tamara stand auf und ging zum Geländer. Das erstarkende Sonnenlicht drang durch ihre hellen Locken und ergab ein beeindruckendes Muster aus geschwungenen, elliptischen Flächen, die sich von dunkel zu hell wandelten.
Als Andreas aufstand um sie in den Arm zu nehmen, stürzte sie mit dem Geländer in die Tiefe. Er konnte ein dumpfes Geräusch vernehmen. Er stand wie versteinert da. Mit schweren Schritten bewegte er sich zu der Stelle an der Tamara noch kürzlich gestanden hatte. Sie war nicht mehr da.
Sein Blick richtete sich nur zögerlich nach unten. „Alles klar?!“, rief er fassungslos nach Tamara. Als keine Antwort kam, rannte er hastig die Steige hinunter. Alles wurde still um ihn, nur noch sie zählte. Angsterfüllt erreichte er sie schliesslich. „Sag was!“, wimmerte Andreas, als er ihre geöffneten Augen sah. Sie sahen nicht zu ihm sondern in den Himmel. „Was soll ich tun?“, fragte er unschlüssig. Zitternd ergriff er ihren Arm und drückte fest zu. Er wollte sie nicht gehen lassen. Diesmal musste es gelingen. Er konnte ihren Puls spüren. Sie blinzelte und Blut trat aus ihrem Mund und ihrer Nase. Sie sahen sich an. „Bleib da!“, sagte er mit tränenerstickter Stimme. Ihr Mund versuchte Worte zu formen, aber ihre Stimmbänder versagten ihr den Dienst. Er hätte sie davon abhalten sollen. Wenn sie nur zuhause wären, könnte sie wieder gesund werden und alles wäre gut.
Doch alles was blieb war ihr Blick, ihre braunen Augen. Der Trotz war gewichen. Es legte sich ein Schleier der Gleichgültigkeit über ihre ansonsten so ausdruckstarken Augen. „Nein, nicht! Ich hätte es nicht tun sollen!“, schrie Andreas verzweifelt und zerrte an Tamaras regloser Hand. „Nein, bleib‘!“, flehte er.
Dieses Mal war der Zufall der Sonne zuvorgekommen. War dies der Preis der Freiheit? Er sah direkt zur Sonne, zu ihrem liedlosen Auge, konnte aber keinen Boshaftigkeit noch Schadenfreude in ihr erkennen, vielmehr erschien es ihm Mitleid zu sein, das sie ausstrahlte. Er dachte an seinen Traum. Sie wartete auf ihn, sie wartete schon immer auf ihn. Er war nun endlich bereit sich ihr auszusetzen, sich ihr hinzugeben.
Epilog
Die Sonnenstrahlen drangen nur noch mässig durch die getönten Spielzeugplastikscheiben hindurch, die Andreas vor seinem Gesicht hielt. Würde er die Sonne sehen wie sie ist? Normalerweise erscheint sie nur als weisse Scheibe am Horizont… Enttäuscht legte er die Plastikscheiben auf den Sims nebenan. „Hey Andreas, was machst du da?“, erklang die gewohnte Stimme seiner Mutter hinter ihm.
„Mm nichts, wollte nur mal ausprobieren ob ich die Sonne wirklich sehen kann.“
„Na, mein kleiner Wissenschaftler, neue Erkenntnisse gewonnen?“, erklang es sanft aus dem Mund seiner Mutter währenddessen sie ihren Arm um ihn schlang.
„Nein, die sieht gar nicht so aus wie es in den Fotos gezeigt wird. Es ist immer noch eine weisse Scheibe, nur etwas dunkler“, sagte Andreas mit einem Seufzer.
„Tja Andreas, das liegt daran, dass die Fotos erstens ausserhalb der Erde gemacht wurden und zweitens wurde das Foto nachbearbeitet. Weisst du eigentlich wie wichtig die Sonne für unsere Erde ist?“
„Nein, wie wichtig ist sie denn?“
„Ohne Sonne gäbe es kein Leben auf der Erde!“
„Oh das wäre schlimm.“, bemerkte Andreas entsetzt…
„Und jetzt cremst du dich mal schön ein, ja?“
Andreas nickte gefügig.