Das Sternentier
© by Rachel Violeth 2002
Dies ist ein Märchen aus uralten Zeiten, so alt, dass kein Mensch jemals davon gehört hat. "Lächle, denn dein Lächeln bleibt dem Anderen im Gedächtnis des Herzens haften!", sprach Gott, der Herr, als er sein kleines, unendlich geliebtes Sternenkind in die Welt schickte. "Gehe nun los, ich stelle dich auf den Platz, wo du am Besten helfen kannst."
Und das Sternenkind gehorchte. Es breitete seine Glitzerstrahlen aus und ganz langsam rutschte es auf einem der leuchtenden silberfeinen Fäden hinab. Hinab auf die Welt. Wie es jauchzte, als es ankam. "Danke! Danke, mein lieber Vater, dass du mich an solch einen schönen Platz gestellt hast." Der Boden, auf dem es gelandet war, war weiß und funkelte in der Sonne. Wo es auch hinsah, überall glitzerte und sprühte es nur so von Abertausenden leuchtender Lichtpünktchen. Das Kind des Himmels sah an sich hinab und bemerkte nun, dass es selbst ganz weiß war. Es hatte rundherum ein samtiges Fell und ihm war so kuschelig warm. Und wie lustig war es, zuzuschauen, wie sein Atem Rauchfäden in die kühle Luft blies.
"Hier also soll ich helfen! Ich freue mich ja so! Ach ist das herrlich! Wenn ich gewusst hätte, wie schön es auf der Erde ist - ganz bestimmt wäre ich schon früher gekommen! Aber wo ist denn nur jemand, dem ich jetzt helfen kann? Wo nur?" Das Sternenkind sah sich um, doch nirgendwo war irgendwer zu sehen. Nicht mal die Spur von irgend etwas!
So lief es eine Weile auf der sich recht warm anfühlenden weißen Bodendecke herum und hinterließ wunderschöne Spuren im knirschenden Schnee. Auf einmal sah das Sternchen etwas in der Ferne. Ganz weit hinten, am anderen Ende des Horizontes erkannte es einen kleinen, schwarzen Punkt. Und so schnell es seine vier kleinen Tatzen, die es ja jetzt hatte, tragen konnte, lief das Kind des Himmels auf diesen dunkle Irgendwas zu. Mit jedem Meter, den es zurücklegte, wurde der Punkt immer größer. Völlig außer Atem kam es schließlich bei diesem Etwas an. Das weiße Sternchentier schnaufte tief und mit seinen großen, runden Augen sah es, was dieses "Etwas" war. Ein eingerollter, riesiger Berg Tier lag da vor ihm. Und dieser dunkle Berg Tier gab merkwürdige Laute von sich.
"Wer bist du?", fragte das weiße kleine Fellknäuel auch sogleich. "Was hast du denn nur? Warum machst du so komische Töne?"
Ganz langsam drehte sich der schwarze Berg um. Das zottelhaarige Wesen rollte sich aus seiner selbstgemachten Kugel heraus und blickte das fremde, weiße Samtfell an und murmelte: "Was willst du? Lass' mich doch in Frieden!"
"Warum bist du denn so mürrisch?", entgegnete das kleine weiche Weißtier und schaute den Riesenzottel mit seinen großen, dunklen Kulleraugen an. Der schwarze, zerzauste Tierberg drehte sich um und maulte: "Geh' schon weg! Ich will niemanden sehen und mich schon gar nicht unterhalten!"
Ganz sacht setzte sich das Sternentierchen neben den Berg und wartete schweigend, denn es dachte bei sich: 'Irgendwann wird das arme traurige Wesen bestimmt mit mir sprechen. Ich möchte doch so gerne helfen. Wenn ich ein wenig warte, werde ich schon erfahren, wer es ist und was es hat."
Der Zottelberg hatte sich mittlerweile wieder eingekugelt und hin und wieder entfleuchte ein grollender Ton irgendwo aus dessen Mitte. Die Sonne versank hinter einer kleinen, weiß schimmernden Anhöhe und langsam wurde es dunkel. Noch immer saß das Sternenkind in der Körperform eines weißen, samtfelligen Robbenbabies neben der schwarzen Kugel. Diese hatte sich bis dahin noch nicht bewegt, doch auf einmal, die Sichel des Mondes stand längst hoch am Himmel, rührte sich der zottelige Berg wieder.
"Du bist ja noch immer da! Bist wohl allein, was? Ich bin auch allein! Ich bin immer allein! War noch nie anders!", murmelte das schwarze zerzauste Etwas vor sich hin.
"Wie schön, du redest ja wieder mit mir! Ich freue mich so, dass du mit mir sprichst! Ach, ist das herrlich!" Und der kleine Stern machte einen Luftsprung.
"Herrlich?", brummte es zurück, "Was soll denn bitte herrlich daran sein, dass ich mit dir spreche?"
"Na, es ist doch schön, wenn man miteinander redet. Es ist ein solch wunderbares Gefühl, wenn du dich mit mir unterhältst! Aber bitte, sag' mir doch, wer du bist, ja? Ich kann dich ja nicht "Berg" nennen - oder möchtest du das?" - "Ist mir ganz egal, wie du mich nennst. Alle sagen 'Ungeheuer' zu mir! Macht mir nichts aus! Wegen mir kannst du das ruhig auch zu mir sagen, ist mir egal..."
Das weiße Robbensternchen machte noch größere Augen, als es ohnehin schon hatte und es sah so niedlich aus, dass das Ungeheuer anfing zu lachen. "Hahaha, du siehst ja vielleicht drollig aus. So riesengroße dunkle Augen habe ich ja noch nie gesehen! Die sind ja bald größer als dein Kopf! Hahaha!". Und es lachte dem Fellknäuel, dessen Körperchen im Mondenschein so wunderbar leuchtete, mitten ins Gesicht. Auch das Sternentier musste jetzt lachen, denn der Bauch des Ungeheuerberges wackelte die ganze Zeit dabei hin und her.
Endlich beruhigte sich der schwarze Zottel wieder und fragte: "Sagst du mir zuerst, wie du heißt? Dann werde ich dir meinen richtigen Namen auch verraten."
"Ich heiße Schönster Stern am Himmel und du?" Jetzt konnte das Ungeheuer nicht mehr an sich halten und prustete los: "Du bist ja vielleicht ein lustiges Kerlchen! So etwas Komisches habe ich ja noch nie gehört!" Und das schwarze Zotteltier fing abermals an zu lachen. So lange, bis ihm fast der Bauch weh tat vom vielen Hin- und Herwippen.
"Na gut, Schönster Stern am Himmel, dann werde ich dich eben ab sofort genau so nennen. Ich heiße - aber lach' jetzt bloß nicht - Gustav! Eigentlich bin ich ein Eisbär... - sicher weißt du doch, dass Eisbären weiß sind, nicht wahr? Als ich noch klein und schneeweiß war - und das ist schon viele Jahre her - war ich damals in ein Teerloch gefallen, eines, das die Menschen gemacht hatten. Und seit diesem fürchterlichen Tag trage ich das schreckliche Teerzeug rundherum an meinem Körper. Die Farbe ging einfach nicht mehr ab! Und deswegen ärgerten mich damals die anderen Eisbärenkinder immer sehr. So bin ich dann eines Tages einfach weg gegangen, sehr weit weg, und nun lebe ich schon seit vielen Jahren hier einsam und alleine. Ist ja auch kein Wunder, wer mich sieht, hält mich schließlich für ein Ungeheuer. Tja, und seither meiden mich alle anderen Eisbären, von den Eisbärenfrauen ganz zu schweigen! Denn hier in der Gegend weiß keiner von meinem Schicksal und wie es dazu kam, dass ich so schwarz wurde. - Und weil mein Fell immerzu juckt, könnte ich mich den ganzen Tag nur kratzen. Der Teer, weißt du? Deswegen hängt das Fell auch an mir wie ein alter zotteliger, verdreckter Pelz. Aus diesem Grund lege ich mich tagsüber ganz ruhig hin und warte bis es Nacht wird. In der Nacht juckt es nicht so..."
An dieser Stelle hielt Gustav, der schwarze Eisbär, inne und Schönster Stern am Himmel empfand tiefstes Mitgefühl mit dem schwarzen Tier. Der arme, verteerte Bär tat ihm so unendlich leid.
"Du armer Gustav, du! Weißt du, warum ich hier bin? Ich bin extra gekommen, um dir zu helfen! Du wirst es vielleicht nicht so ganz verstehen, doch es ist wirklich wahr! Glaube mir! Gott selbst hat mich gesandt!"
"Mir kann niemand helfen! Aber es ist lieb von dir, dass du das sagst. Wirklich lieb..." Traurig wandte sich der schwarze Eisbär nun ab und erhob sich. "Ich werde jetzt ein wenig fischen gehen. Ich habe Hunger. Also, mach's gut, kleiner Freund."
"Halt, warte, ich komme mit. Ich werde dir helfen, glaube mir! Du wirst es schon sehen!"
Der Zottelberg drehte sich zu dem kleinen weißen Samtfell um und sprach: "Hast wohl auch niemand, was? Na gut, dann komm' eben mit."
Schweigsam liefen das kleine weiße und das große schwarze Tier nebeneinander durch die Nacht. Als sie die Stelle erreichten, an der das große Meer auf das Land traf, sprang der Eisbär in das Wasser und begann zu fischen. Schwupps, da landete auch schon ein Fisch direkt neben dem Sternentier. Gustav hatte es ihm zugeworfen und rief: "Du hast doch bestimmt auch Hunger, kleine Robbe, nicht wahr?" Und so angelte sich der schwarze Bär noch einige fette Fische und warf sie alle auf die Eisscholle. Während er das tat, überlegte das kleine Sternchen fieberhaft, wie es dem armen Gustav denn nur helfen könnte. Und so betete es: "Hallo Vater, hörst du mich? Ich bin hier unten bei Gustav. Aber das weißt du ja. Ihm geht es nicht gut. Er muss sich immer so fürchterlich kratzen. Außerdem ist sein Fell so entsetzlich zottelig und es ist auch schwarz, wo es doch weiß sein müsste! Helf' ihm bitte! Ich warte auf deine Antwort und danke dir schon jetzt, mein lieber Vater."
Gustav hatte Bärenhunger und so angelte er mit seinen langen Krallen noch immer in dem seichten Wasser nach Fischen. Wieder flog etwas auf die Eisscholle, direkt vor die weißen Tatzen von Schönster Stern am Himmel. Die Robbe bückte sich, denn der vermeintliche Fisch schimmerte im Mondenlicht. Sternchen staunte nicht schlecht. Dies war gar kein Fisch! Es war ein großes Stück Kernseife. Aufgeregt hob es die Seife auf, lief auf den Rand der Eisscholle zu und hüpfte voller Freude auf und nieder. "Gustav, komm' schnell, ich werde dir jetzt helfen, wie ich es versprochen habe!"
Der Eisbär kam aus dem Wasser heraus und fragte: "Meinst du denn, wir haben jetzt genug Fische zusammen, so, dass wir beide auch satt werden?" "Ach was, Fische. Ich habe etwas viel Besseres! Schau nur! Weißt du, was das ist?" Und die kleine weiße Robbe zeigte dem schwarzen Tier das Seifenstück. "Das ist Seife! Hm, und wie die riecht! Hier, schnupper mal!" Sternchen hielt sie dem verdutzten Zottelbär ganz dicht unter die Nase. "Komm', lass' dich einreiben!"
Ehe Gustav irgendetwas erwidern konnte, fing das kleine Tierchen an, das zottelige Fell des großen, neuen Freundes mit dem Seifenstück zu massieren. Es klappte gut, denn der Bär war klitschenass. "Oh, tut, das gut, hm, hm hm! Gut, Ja..., oh wie gut! Hm, hm, hm..." Wohlig ließ sich Gustav diese Prozedur gefallen und als Schönster Stern am Himmel schließlich anfing, das ganze Fell mit seinen kleinen weißen Tatzen zu bearbeiten, so, dass es nur so schäumte, reckte und streckte sich der Bär wie eine gekraulte Katze. Bald sah Gustav richtig weiß aus. Überall! Das Sternchen knetete und knetete in dem Fell herum und der große Bär genoss dies über alle Maßen.
"Toll, so viel Schaum!, entfuhr es jetzt dem kleinen Einseifer. Bin ja mal gespannt, wie es aussieht, wenn das alles abgewaschen ist! So! Ich glaube, jetzt ist es soweit! Spring' noch mal ins Wasser, ja?"
"Ich danke dir, mein lieber, kleiner Freund! Ich danke dir so sehr! So gut hat mir noch niemand getan! Ich habe überhaupt kein Jucken mehr!" Und mit einem Satz sprang der Schaumberg ins Wasser hinein, tauchte ganz unter und als sein Kopf schließlich wieder herauslugte, hüpfte das haarige Sternenkind in die Höhe. Es machte Luftsprünge vor Freude! "Ja, ja, ja! Es hat geklappt!"
Als der Eisbär dem Wasser wieder entstieg, sah er fast genauso aus, wie kurz zuvor, als er hineingesprungen war. Weiß!!!! Sein ganzes Fell war strahlend weiß geworden! Das Wasser perlte nur so von ihm ab und es schimmerte wie der weiche Pelz eines neugeboren Bärchens. Nicht ein einziger Zottel war übrig geblieben! Das kuschelige Fell glänzte wie die Oberfläche des weiß schimmernden Schnees, von der Sonne angetaut.
Gustav sah seinen Freund liebevoll an. Noch wusste er nicht, wie reinweiß und seidig glatt sein Fellkleid jetzt endlich wieder war. Doch schnell schob das Sternenkind den großen weißen Eisbären zum Rand der Eisscholle und rief: "Komm' nur! Schau' hinein! Guck' es dir genau an dein Spiegelbild! Wie schön du bist!"
Mit großen, weit aufgerissenen Augenlidern blickte der weiße Koloss nach unten und starrte in sein eigenes Gesicht. Ein Bild von einem Eisbar sah ihm da staunend entgegen. Das Weiß des Felles war weißer noch als Schnee. Es leuchtete geradezu überirdisch! Doch länger konnte Gustav den eigenen, überwältigenden Anblick nicht ertragen und so wandte er sich abrupt ab, fiel auf die Knie, steckte seinen Kopf in den Schnee. "Mein großer, allmächtiger Gott, ich danke dir! Ich danke dir für deine Liebe! Für deine Hilfe, für diesen kleinen, doch allergrößten Freund, den sich ein Eisbär überhaupt nur vorstellen kann! Oh Gott - und ich hatte schon nicht mehr geglaubt, dass es dich wirklich gibt!"
Gustav, der schneeweiße, bildschöne Eisbärmann fing an zu weinen. Er weinte dicke Tränen der Freude, aber auch der Schmach, die er all die Jahre ertragen musste, die ihm das Leben weiß Gott nicht einfach machte.
Ganz sacht setzte sich das Sternenkind neben den neuen, erlösten Freund und wartete. Wartete geduldig, bis die Tränen versiegten. Doch es dauerte. Es dauerte lange, hatten doch die vielen ungeweinten Tränen - all der vergangenen Jahre - endlich ihren Weg nach draußen gefunden.
Irgendwann endete der Augenwasserstrom und Gustav, der blitzweiße Eisbär, rieb sich mit einem seidig glänzenden Unterarm über das Gesicht und als er wieder sehen konnte, sagte er: "Du bist ja immer noch da, mein Schönster Stern am Himmel!" Dabei schmunzelte er liebevoll die kleine weiße Robbe, die still wartend neben ihm saß, an." Wahrlich, jetzt glaube ich dir! Dich hat wirklich der Himmel gesandt! Du bist wahrhaftig Gottes schönster Stern am Himmel!"
Lange saßen das kleine und das große weiße Tier nebeneinander auf der Eisscholle und als der Morgen graute, wurde es Zeit für die kleine Robbe, wieder heimzukehren. "Lieber Gustav, sei nicht traurig, wenn ich auch jetzt wieder gehen muss, aber du bist und bleibst von nun an so strahlend schön wie heute und du wirst ganz sicher der begehrteste Eisbärmann in diesen Landen sein, wie es die Welt noch nicht gesehen hat! Glaube mir, mein Freund. Dort oben, am Himmel, werde ich zu dir herunter schauen und dir zublinzeln. Blicke nur hinauf, des Nachts, du wirst mich erkennen! Wir beide werden für immer Freunde sein! Mach's gut! Gehe los und suche dir eine wunderschöne, liebe Eisbärenfrau! Du wirst mit ihr Kinder haben und ihr werdet euer Leben lang glücklich sein! Das verspreche ich dir! Die Zeit des Leidens ist vorbei, jetzt bist du frei!"
Da verwandelte sich die kleine Robbe blitzartig in einen Stern, sauste den langen, leuchtenden Strahl hinauf, der bis zum Himmel reichte.
"Mach's auch gut, mein allerschönstes Sternchen am Himmel, und sage unserem Vater von mir nochmals vielen Dank!"
Noch lange an diesem Tag saß Gustav, der große, majestätische, strahlendweiße Eisbär am Rande der Eisscholle und blickte hinauf in den hellblauen, sonnigen Himmel.
Dort oben blinkte doch tatsächlich ein silbrig glänzender Stern - und dies am hellichten Tage!