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Das Spinnennetz

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31.07.2003
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Das Spinnennetz

Schon sehr bald nachdem ich nach Potsdam gezogen war, wurde mir klar, dass ich diese Stadt so schnell wie möglich verlassen wollte. Es war kein Aha-Erlebnis, das mich zu dieser Gewissheit brachte, es war vielmehr ein Gefühl. Nicht unvermittelt stellte es sich ein, sondern es entwickelte sich langsam und stetig. Erst war es ganz klein und unbedeutend, ähnlich einer Tageslaune, dann blieb es, setzte sich in meinem Innersten fest, wuchs, füllte meine Seele aus und schien die Kontrolle zu übernehmen. Ich kannte dieses Gefühl, es begleitete mich eigentlich mein ganzes Leben lang. Mal trat es stärker und mal schwächer in Erscheinung. Doch da war es eigentlich immer, selbst wenn ich es manchmal nicht bemerkte. Es war das Gefühl der Leere, für das es viele Ursachen gab. Vermutlich aber war die Enttäuschung, die totale Ernüchterung, die ich erfuhr, als ich hinter die Fassaden der Stadt blickte, dafür verantwortlich, dass ich es an guten Tagen verdrängen konnte und an schlechten Tagen wie gelähmt war. Die Wahrheit kann eine sehr bittere Erfahrung sein und nicht selten verhält sie sich fatal.

Ich war 12 als ich zum ersten Mal in Potsdam war. Zusammen mit meinen Eltern schlenderte ich durch Parks und breit angelegte Straßen entlang an alten Gebäuden, von denen jedes seine eigene Geschichte erzählte. Wie gefesselt hörte ich den Worten unserer Reiseleiterin zu als wir mit einem Sightseeing-Bus durch die Stadt fuhren. Mit ihren Geschichten über alte Kaiser und den Prunk längst vergangener Tage entführte sie mich in ein Reich der märchenhaften Phantasie. Überhaupt glaubte ich, sie würde für mich und nur für mich sprechen. „Potsdam ist die Stadt der Kulissen“ sagte sie und lächelte mir zu. Ihre Worte klangen in meinen Ohren und sie faszinierte mich. Mein Blick wanderte zwischen den Sehenswürdigkeiten und ihr hin und her. Ich hing an ihren Lippen, verschlang gierig jedes einzelne Wort. Potsdam ist die Stadt der Kulissen, dachte ich und stand wenige Minuten später tatsächlich inmitten von Kulissen. Aufgeregt und überwältigt von Emotionen und Neugierde rannte ich durch den Filmpark Babelsberg und glaubte, den Duft des Ruhmes zu atmen. Berühmte Schauspieler, erfolgreiche Regisseure, Stuntmen, bekannte Produktionen, Schminke, Kostüme, nachgebildete Schauplätze, Kameras, ein Wechselspiel zwischen Täuschung und Realität und ich war mittendrin. Es begann zu regnen und meine Eltern rissen mich aus meiner Phantasie. Sie wollten zurück nach Berlin fahren, wo wir uns für ein paar Tage in einem Hotel eingemietet hatten. Ich wollte diese Stadt nicht verlassen. Als ich im Zug nach Berlin saß und meine Nase an der Scheibe plattdrückte, um hinaus in den Regen zu sehen, wuchs der naive Wunsch, irgendwann einmal zurückzukommen und dann für immer zu bleiben.

Und gut 7 Jahre später stand ich am Fenster meiner – für einen Studenten – nahezu luxuriös möblierten Zwei-Zimmerwohnung und blickte hinaus in einen grauen, verregneten Februartag. Meine Eltern bezahlten die Wohnung und unterstützten mich auch sonst finanziell. Dafür war ich ihnen anfangs dankbar, doch mit der Zeit entwickelte ich Schuldgefühle. Indem ich das Geld von ihnen annahm, gab ich mehr oder weniger bewusst ein Versprechen ab. Das Versprechen, zu studieren und dies erfolgreich zu tun. Mein Vater arbeitete bei einem Chemie-Konzern und er hatte sich hochgearbeitet. Angefangen hatte er vor knapp 30 Jahren als kleiner Praktikant, durfte später gelegentlich in den Labors aushelfen und nahm im Laufe der Zeit jede Chance zur Weiterentwicklung wahr. Mittlerweile war er Manager in seinem Ressort, stand somit über 25 Angestellten und war der Ansicht, dass Erfolg lediglich eine Frage von Fleiß war. Wie hätte ich ihm also ein gescheitertes Studium erklären sollen? Dass ich quasi auf seine Kosten lebte machte die ganze Sache noch komplizierter als sie ohnehin schon wahr. Für mich gab es nur eine Lösung, ich musste siegen und den hohen Ansprüchen gerecht werden.

Mein Blick wanderte wieder hinaus ins graue Nass. Wie Bindfäden fiel der Regen auf den Asphalt, bildete hier und dort Pfützen, durch die wiederum Autos fuhren. Die Passanten mussten aufpassen, dass sie nicht von dem Spritzwasser getroffen wurden. Und es gab wahrlich viele Passanten, denn nur wenige Meter entfernt war der Besuchereingang zu den Filmstudios Babelsberg. Von meinem Fenster aus konnte ich ihn nicht sehen, er lag hinter einer Kurve, doch ich wusste, dass er dort war. Seitdem ich in Potsdam lebte war ich nur ein einziges Mal dort und die Studios interessierten mich auch nicht mehr. Viel lieber hielt ich Ausschau nach kleinen zwölfjährigen Jungen, die sich in Begleitung ihrer Eltern dem Kampf zwischen Illusion und Wahrheit stellten. Vielleicht waren sie schlauer als ich, vielleicht ließen sie sich nicht blenden. Vielleicht gelang es ihnen, nicht in das Spinnennetz zu geraten. In ein Spinnennetz, das der Filmpark zusammen mit historischen Gemäuern und den Storys der Fremdenführer spannte. Und war man erst einmal gefangen in diesem Netz, eingelullt und handlungsunfähig gemacht, dann kam schon sehr bald eine große, haarige und gefräßige Spinne. Potsdam vergiftete jeden und zerfraß anschließend seine Seele.

Hatte man den Leuten auch erzählt, dass Potsdam die Stadt der Kulissen wäre? Ich fragte mich manchmal, wie dieser Satz gemeint war. Sollte er eine Drohung sein, sollte er heißen: Pass auf, was du siehst ist nur Lug und Trug, das wahre Gesicht der Stadt erkennt man erst, wenn es zu spät ist? Oder war er eine schöne Floskel, die Reiseführer auswendig lernen und den Besuchern immer wieder vorbeten sollten? Potsdam ist die Stadt der Kulissen. Zufällig traf ich die Frau, die damals unsere Reiseleiterin war. Sie lebte mittlerweile in Berlin, schob einen Kinderwagen die Fasanenstraße entlang und war ein wenig pummeliger als früher. Obwohl ich sie Jahre lang nicht mehr gesehen hatte, erkannte ich sie gleich wieder. Es war das Lächeln, das sich rund um ihre Mundwinkel abspielte, das sie verriet. Damals dachte ich, sie lächelte mir zu, sie lächelte aus Freundlichkeit. Als ich sie wieder traf, wusste ich, dass es Spott war, der das Lächeln hervorrief. Vielleicht war es auch Schadenfreude, darüber, dass sie mich hereingelegt, dass sie mich in das Spinnennetz eingelullt hatte. „Wieso haben Sie mich angelogen?“, fragte ich sie. Es entwickelte sich ein merkwürdiges Gespräch. Sie antwortete nicht, blieb wie angewurzelt stehen und wirkte irritiert. „Was meinten Sie, als Sie sagten, Potsdam sei die Stadt der Kulissen?“, setzte ich nach. In ihren haselnussbraunen Augen war für den Bruchteil einer Sekunde ein stumpfes Glänzen zu sehen. Dann folgte ein Vortrag über die historischen Bauten in Potsdam, über Kaiser und Könige, über deren Bauvorgaben und die damalige Umsetzung. „Man wollte repräsentieren und gleichzeitig sparen. Also ließ man nur Fassaden bauen“, schloss sie ihren Vortrag. Ich drehte mich um und ging weg. Die Antwort, die ich mir erhofft hatte, bekam ich nicht. Eigentlich bekam ich überhaupt keine Antwort. Potsdam ist die Stadt der Kulissen. War dieser Satz wirklich nicht mehr als eine Bemerkung zu der Architektur der Preußen? Nach diesem unverhofften Treffen fuhr ich zurück nach Potsdam und sah die junge Frau nie wieder.

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Anmerkung: Der Text dient eigentlich weniger als Kurzgeschichte, sondern viel eher als Anfang für einen längeren Text, evtl. für einen Roman. Ich habe mich aus folgenden Gründen entschlossen, ihn dennoch zu posten:

1. Von der Länge her und auch von der Geschlossenheit der dargestellten Thematik eignet sich der Text - meiner Meinung nach - als Kurzgeschichte.

2. Gerade die ersten Seiten nehmen bei einem Roman einen hohen Stellenwert ein, deshalb interessiert mich, wie der Text bei Euch ankommt.

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Zuletzt bearbeitet:

Hi,

was mir an deiner Geschichte aufgefallen ist, ist folgendes: Du verweilst oftmals lange an einem Gedanken, von dem du nur die Oberfläche preisgibst. Dabei bleibt der tiefere Hintergrund der geistigen Abläufe deiner Hauptfigur im Verborgenen. Dies muss nun nicht unbedingt schlecht sein, aber ich bin der Ansicht, dass man zumindest Spuren hinterlassen sollte, die auf die Hintergründigkeit des Gedankengangs hinweisen. Es ist natürlich nicht auszuschließen, dass du deine Spuren "übersubtil" (für meinen Geschmack) ausgestreut hast, doch ich denke, du solltest ein wenig mehr aus dir herausgehen, damit keine Langeweile entsteht, was natürlich nicht heißen muss, dass es "krass" sein muss/soll. Auch würde ich mir wünschen, dass du versuchst, etwas mehr mit deiner Sprache zu spielen/experimentieren.
Inwiefern mein Kommentar jetzt brauchbar ist, möchte ich nicht bewerten, da ich ja selbst ein absoluter "Grünschnabel" auf dem Gebiet bin und meine Bewertung mit Sicherheit etwas zu sehr auf subjektive Faktoren zurückgeht.

MFG Cage

 

Danke für den Kommentar, ich würde mich freuen, wenn du deine - mit Sicherheit brauchbare Kritik - präzisieren würdest. Falls du z.B. ein Exemplum nennen würdest und genau schreiben würdest, wie du in diesem speziellen Fall anders formulieren würdest, könnte ich deine Gedanken besser nachvollziehen.

Du solltest jedoch bedenken, dass es sich hierbei erst um die ersten 5 Seiten handelt. Ich arbeite daran, die Sache auf mind. 100 - 120 Seiten auszudehnen. Im weiteren Textverlauf gehe ich also eindeutig viel weiter in die Tiefe. Am Anfang soll tatsächlich nur ein oberflächliches Bild skizziert werden, das im weiteren Verlauf stärker und vor allem bunter gezeichnet wird.

 

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