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Das Spaniensouvenir
Als Mara sich in Spanien das Bein brach und nach Deutschland ausgeflogen wurde, war es vorbei mit Sonne und Strand. Für Mara zumindest. Aber Jan sollte da bleiben. Allein an der Costa Brava, mit sechzehn - das wäre doch die Gelegenheit fürs erste richtige Abenteuer!
„Das hätte ich früher auch gern gemacht“, sagte sie in munterem Tonfall zu ihrem protestierenden Sohn, dessen anhängliche Fürsorglichkeit sie heimlich rührte. „Und schade, um unsere tollen Zimmer wäre es doch auch.“
Jan ahnte, dass es ihr nicht wirklich um die Zimmer ging. Und Mara wusste, dass Jan sie durchschaute. Aber es reichte, wenn sie nach Hause musste. Und das schon am zweiten Urlaubstag.
Abends im Hotel fühlte sich Jan todmüde und gleichzeitig so allein wie noch nie. Es war ein Fehler gewesen, hier zu bleiben. Wie gern er jetzt Maras Stimme hören würde! Er sah sich in seinem Zimmer um. Alles um ihn herum war ungewohnt grell. Seit Mara weg war, schien sich alles zu verändern. Das Bett kam ihm noch weicher vor, das nach oben dringende Gelächter durch die weit offenen Fenster noch lauter. Die Party draußen hörte nie auf. Die Leute hier konnten bis zum Frühstück durchfeiern. Und vielleicht war es der zweite Fehler an jenem Tag, als er beschloss, sich wieder anzuziehen und nach unten zu gehen, in die immer noch flirrende Hitze.
Wenn Mara damals gewusst hätte, was passieren würde, nach ihrer Abreise - aber sie würde es nie erfahren. Von ihm zumindest nicht. Und auch nicht von Mila. Obwohl Mara ihn bei Mila selbst angemeldet hatte, besorgt, mit einer leichten Vorahnung, nach dieser Spaniengeschichte. Noch im Krankenhaus hatte seine Mutter sich um alles gekümmert, sie fand, dass er Gespräche bekommen sollte, acht schreckliche Wochen war das jetzt her.
Mila sah gar nicht aus wie eine Psychologin und sie sprach mit ihm wie mit einem Erwachsenen. Als ob noch alles in Ordnung wäre. Als hätte er nicht einen heimlichen Mitbewohner im Kopf. Der immer etwas sagen mußte, wie eine verschluckte Bauchrednerpuppe.
Oft spielten Mila und er nach ihrer Stunde Tischtennis. Jan starrte auf ihre leicht hüpfenden Brüste, sie registrierte es lächelnd, aber sie kannte auch nicht die Kommentare seines Untermieters. Jan überlegte, ob er das Tourettesyndrom entwickelte oder schizo wurde, auf jeden Fall konnte es nur etwas Uncooles sein, sein lästiges Spaniensouvenir.
Leider konnte man die Stimme nicht einfach ausschalten wie den Toaster. Den konnte man zur Not gegen die Wand hauen. Ertränken wäre auch eine Lösung. Besonders nach der Meerschweinchengeschichte, die ihm eine Sonderstunde bei Mila eingebracht hatte. Die Stimme hatte ihm Ungeheuerliches eingeflüstert. Das Meerschweinchen, das durch die Fingerfarbe seines kleinen Neffen gerobbt war, hatte buntgefärbt vor ihm gelegen.
Und während Jan es sorgfältig mit Babyshampoo badete, befahl sie ihm doch tatsächlich, es zu ertränken!
„Und natürlich wurdest du gebissen!“, meinte Mila und in ihren tröstendprofessionellen Blick mischte sich etwas Schalk „und nicht die Stimme. Nicht gerade fair.“ Mila haute gar nichts um.
„Stimmen kann jeder hören“, sagte sie, während sie ihm noch eine Tasse von ihrem tollen Mila-Cappucino eingoss. „Das ist nicht das Privileg von ein paar Verrückten.“
Jan musste lachen, wenn auch etwas freudlos.
„In bestimmten Situationen hört fast jeder Stimmen“, fuhr Mila weiter aus. „Hochseefischer zum Beispiel oder Extrembergsteiger.“
Aber er war weder Hochseefischer, noch Extrembergsteiger.
Jan dröhnte sich lautstark mit Youtube-Songs zu, während er recherchierte, was die Stimme ironisch kommentierte.
Kopfhörer - was für eine passive Bewältigungsstrategie! Aber das Lachen sollte ihr schon in der nächsten Therapiestunde vergehen.
Auch Jan war von Milas Vorschlag geschockt.
Und Mara war noch entsetzter. Mittlerweile war sie - zumindest in groben Zügen - über Jans Spanienproblem informiert, auch wenn er ihr die häßlichsten Details lieber verschwieg. Besonders von der Nacht, in der sie ins Krankenhaus kam.
„Mila ist noch so jung“, sagte sie „ so frisch von der Uni. Lass dich nicht für solche Ideen mißbrauchen.“
„Aber es wäre doch cool“, entgegnete Jan. „Eine Antistigmatisierungskampagne ist so wichtig.“
Mara nahm ihm in die Arme: „Mach keinen Fehler.“
Jan fragte sich später, ob Mara Recht hatte. Eigentlich wollte er sich nicht outen.
Zwei Wochen später besuchten Mila und er eine Klasse in der Nachbarstadt, wo ihn hoffentlich niemand kannte.
Es war ein Mittwoch, 12. 00 Uhr, Pädagogik-Leistungskurs. Hier würde es aufmerksam zuhörende Gutmenschen geben. Jan hatte die Nacht zuvor nicht schlafen können. Aber als er später vor der Klasse stand, fühlte er sich überraschend locker. Ein paar der Mädels schauten ihn freundlich an. Die Kleine in der ersten Reihe lächelte ihn sogar an und für Momente sah er sich durch ihre Augen: ein durchtrainierter Mann mit dunklen, etwas widerspenstigen Locken. Es könnte alles so schön sein. Und er war erleichtert, dass sein Untermieter diesmal keine Kommentare von sich gab. Dabei hätte er bei der süßen Kleinen durchaus Grund gehabt.
„Das hast du toll gemacht!“, lobte Mila ihn später anerkennend, während sie ihn zu einem Eis einlud. „So souverän und eloquent. Ich bin mir ganz sicher, dass du bald alles überstanden hast:“
Jan freute sich, auch wenn er bezweifelte, dass alles „gut“ würde. Aber immerhin hatte er eine nie für möglich gehaltene Mutprobe bestanden.
Zuhause kochte Mara ihm sein Lieblingsessen und er war vom Prosecco glücklich benommen, als er sich später bei Facebook einloggte. Doch er wurde schnell so nüchtern wie ein Abstinenzler.
Jan traute seinen Augen nicht.
Das konnte doch nicht wahr sein!
Den Begriff Shitstorm hatte er bisher für ein Phänomen gehalten, das mit ihm nichts zu tun hatte.
Und jetzt las er von dem Besuch des „missionierenden Stimmwunders“. Und wegen der „Stimmenkanone“ würde man noch die Klausur verhauen. Und die häßliche „Dreadlockfotze“ führte dressierte Patienten vor. Ein heimlich geschossenes Handyfoto zeigte, wie er unvorteilhaft sein Gesicht zu einem „verführerischen Lächeln“ verzog, wie jemand anzüglich kommentierte und 61 Likes nach sich zog.
Auch die Kleine wurde in den Dreck gezogen, was Jan empörte.
Oder steckte sie mit drin?
Ein unangenehmer Schwindel erfasste ihn.
Jan fragte sich, wie schnell, man ihn geoutet hatte.
Er hatte seinen realen Namen in der fremden Schule doch gar nicht genannt.
Vielleicht war er Mila herausgerutscht, im Lehrerzimmer, vor der verdammten Stunde.
Mila konnte so unvorsichtig sein, so unbedacht.
Mara hatte Recht gehabt. Mila war einfach zu unprofessionell.
Und er würde nicht nur ein Hühnchen mit ihr rupfen, sondern einen ganzen verfluchten Hühnerstall.
Von wegen: Stimmen seien etwas Hilfreiches, wie ein Frühwarnsystem vor einem Tsunami. Als ob Maras Beinbruch und sein großer Absturz ein Tsunami gewesen wären.
Am liebsten hätte Jan geheult, aber das hätte Mara auf den Plan gerufen, sie hatte eine Antenne für sowas und er hatte weder Lust auf ihren sorgenvollen Blick, noch ihre reuevollen Selbstvorwürfe.
Sie hatte ihn ja nicht allein lassen wollen.
Und außerdem wusste er, dass sie sich ihr Bein nicht beim Wandern gebrochen hatte, sondern im Swimmingpool.
Mißlungene Verführungsversuche lagen in der Familie, was Mara nie zugeben würde.
Ob er die Kleine noch mal wiedersehen würde?
Auf dem Foto, das jetzt in der Chronik auftauchte, sah sie so unwiderstehlich aus wie am Morgen und was sie schrieb, ließ ihn zittern, sie war nur einen Klick entfernt und er bedauerte fast, dass sein Untermieter nicht mehr da war und ihm ein aufmunterndes Hey, Kumpel, nimm sie dir zuraunte.