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Das seltsame Schicksal des Henry Milton Veda
Über das tragische Ende meines einst engsten Freundes, Henry Milton Veda, zu schreiben, fällt mir sicherlich alles andere als leicht und ich würde auch nicht auf den Gedanken kommen, wären die Umstände seines Ablebens nicht derart grotesk, seltsam und unheimlich gewesen, dass sie schier ans Unglaubliche grenzen. Allein dies ist für mich Triebfeder, wenn nicht gar Peitsche, die Geschichte um die letzten Tage meines alten Freundes, nach so langer Zeit, endlich niederzuschreiben.
Wenngleich die Ereignisse vom August 1901 nun bereits zwanzig bittere Jahre zurückliegen und der klaffende Graben eines verheerenden Weltkrieges, einer schier unüberwindlichen Barriere gleich, dazwischen prangt, sind die Ereignisse von damals noch so lebhaft in meinem Geist, wie in jenen schwülen Sommertagen da sie sich zutrugen. Sich über die Mächte des Universums zu erheben, die Naturgewalten unter den eigenen Willen zu zwingen, dies war schon immer das Ziel alchemistischer oder magischer Studien. Den Stein der Weisen, das Elixier des Lebens zu finden. Doch wie viele arme Seelen, die zwar mit dem Stab des Willens und dem fleischlichen Pentakel, doch ohne das Schwert der Vernunft und den Kelch der Erkenntnis auszogen, ihr großes Werk zu vollenden, fanden ein Ende in Leid und Kummer, von blankem Irrsinn beleckt, von höheren Mächten verzehrt. So auch Henry Milton Veda, mein einst bester Freund, jener gebildete, idealistische, doch auch größenwahnsinnige Geist, der die letzten Tage seines Lebens, allem Anschein nach, dem Streben nach kosmischen Geheimnissen widmete, denen womöglich nicht einmal der vollendete Alchemist die Stirn zu bieten vermag. Und in eben jenem blinden, bewusstlosen Streben, das bald keiner Reflexion mehr zugänglich war, fand er schließlich auch den Tod.
Alles begann vor rund zwei Jahrzehnten. Wir lebten in einem zweistöckigen Haus, im wilhelminischen Stil, Nahe der Universität Berlin, wo mein Freund als Professor der Physik dozierte und forschte und ich, da ich erst kurz zuvor mein Studium beendet hatte, als wissenschaftlicher Helfer tätig war. Trat man in die von Efeu und schmalen weißen Säulen umrankte Haustür, stand man in dem langen Flur der in einer halbrunden Treppe endete, die hinauf zur Wohnung von Henry führte; ich selbst bewohnte die Räume im Erdgeschoss. Wir hatten uns während des Studiums kennengelernt und waren schnell gute Freunde geworden; als sich dann herauskristallisierte, das wir beide in Berlin zu bleiben trachteten und er bereits einen Lehrstuhl inne hatte, beschlossen wir zusammen zu ziehen und uns so die Kosten für ein Haus vorerst zu teilen. Henry war Brite, doch bereits zu Beginn seines Studiums nach Deutschland gekommen – warum, verriet er mir nie wirklich und ich hatte den Eindruck, dass er das Thema gar tunlichst vermied. Er war ein typischer Wissenschaftler, seiner Sache ganz und gar verfallen und für so gut wie nichts sonst, außer vielleicht essen, trinken und schlafen zu haben; und selbst letztere kamen bei ihm nur allzu häufig zu kurz. Groß und hager von Gestalt, säumte sein Haupt bereits im Alter von Ende dreißig eine ansehnliche Halbglatze und sogar die wenigen dunklen Haare, die sich, dem Lorbeerkranz eines römischen Kaisers gleich, um seinen Kopf wanden, waren bereits leicht gräulich. Sein Gesicht war geprägt von den eingefallenen Wangen, den schmalen, vornehmen Lippen und den hervorquellenden, unproportional großen Augen über denen sich dünne Brauen und eine hohe, von Falten gesäumte Stirn wölbten. Über seine gelegentlichen Versäumnisse was das soziale Miteinander anging hinaus, war Henry Milton Veda einer der genauesten und zuverlässigsten Menschen was seine Arbeit anging, die ich je kannte. Er war nicht nur stets der erste in seinem Arbeitszimmer an der Universität und der letzte der es verließ, sondern er arbeitete auch zu Hause wie ein Besessener. Oft war es mir, als wären die gelegentliche Teepausen und kurzen Spaziergänge, die wir dann und wann unternahmen, seine einzige Ablenkung gewesen. Auch mit Frauen schien er nicht sonderlich viel am Hut zu haben; zumindest habe ich ihn selten mit einer gesehen. Vermutlich war er einfach immer zu vernarrt in seine Forschungen gewesen und hatte daher keine Augen für das schöne Geschlecht gehabt.
In jenen Tagen des anbrechenden Augusts war er in Folge einer längeren Infektion bereits monatelang ans Bett gefesselt, was für ihn schon die Hölle gewesen sein muss. Darüber hinaus war ich selten zu Hause, nicht bloß wegen der Arbeit, sondern vor allem, weil ich meine jetzige Frau Bettina kennen gelernt hatte und daher jede freie Minute dazu nutzte, sie mit ihr zu verbringen, was seiner Langeweile sicherlich nicht zu Gute kam. Ich glaube vor seiner Krankheit hatte er sich mit den Problemen die Plancks just veröffentliche Quantentheorie in der Physik aufgeworfen hatte beschäftigt, doch im Verlauf seiner Auszeit widmete er sich zunehmend anderen, wie ich fand, weitaus merkwürdigeren Dingen. Aufgrund der Tatsache, dass er Freimaurer war, verwunderte es mich nicht sonderlich, dass er sich auch mit Themen beschäftigte, die eher in den Bereich des Glaubens, denn in den der Wissenschaft gehörten, doch die Zeit und die Intensität, die er diesen Studien bald widmete, erschreckten mich in immer gravierenderem Maße. Es waren nicht bloß die alten, zerfledderten Schriften über Okkultismus und längst vergessene Riten, welche er mit in seine Wohnung schleppte, die meinen Argwohn schürten, sondern auch die sonderbaren Klänge und Gerüche, die bald von oben herab drangen; für mich stand fest, dass Henry dort oben sonderbare Experimente betrieb und ich war mir fast sicher, dass sie mit Physik, im althergebrachten Sinne, nicht sonderlich viel, ja, vermutlich gar nichts, zu tun hatten.
Bei unseren gemeinsamen Teestunden hatten wir meist in meiner Wohnung gesessen, da er, wie er immer meinte, ein wenig Abstand von seinen eigenen Täfelungen gebraucht hätte und so hatte ich seine Wohnung zuvor nur ganz selten gesehen. Als er aber krank wurde, begab es sich, dass ich häufiger nach oben ging und wir die Zeremonien, die nun bloß noch sporadisch stattfanden, in seine Räumlichkeiten verlegten.
Über den Zustand seiner Wohnung war ich, nachdem ich einige Zeit außer Haus gewesen war, erschrocken und fasziniert zugleich. Es herrschte wüstes Chaos; die ohnehin schon vollgestopften Räume schienen beinahe überzulaufen vor Büchern, Reagenzen und seltsamen Obskuritäten; überdies lag ein eigenartiger, fauliger Gestank in der Luft, so als hätte mein Freund die Toilette wochenlang gegen eine Ecke in seinem Zimmer eingetauscht. In dem kleinen Erker zum Garten hinaus, dessen Scheiben von jenen wundervollen, farbigen Mosaiken geziert waren, deren bunte Muster die Sonne bei schönem Wetter auf die Täfelung zeichnete, fanden wir an einem runden Tischlein Platz, uns inmitten des Chaos niederzulassen. Besorgt betrachtete ich meinen Freund, der noch hagerer, älter und abgezehrter erschien als ohnehin schon zuvor; bloß seine Augen blitzten in ungewohntem Glanz. Ich kann nicht sagen, ob die Zeit nachgeholfen hat, doch wenn ich heute an seine Ausstrahlung in jenen Tagen der Krankheit zurückdenke, so überkommt mich ein eisiger Schauer, so unheimlich, ja, so unmenschlich wirkte seine Erscheinung auf mich; oder tut dies zumindest heute, im schrecklichen Lichte jener Tragödie, deren Folgen ich bereits während dieses Gespräches unausweichlich kommen sah. Auf dem Tisch fiel mir ein altes, verschlissenes Buch ins Auge, es trug den Titel „de natura rerum“ und ich verwunderte mich ob des schlechten Zustandes des Exemplars, dass sicherlich schon einiges an Jahren auf dem Buckel hatte. Ich denke, er las das Interesse aus meinem Blick und noch bevor ich etwas diesbezüglich fragen konnte, schnappte er die Schrift und brachte sie zu einem der Bücherregale, womit er sie meinen wissbegierigen Blicken entzog.
„Paracelsus, nichts für dich,“ murmelte er harsch, als er zurückkehrte, offensichtlich in dem Bestreben, nicht weiter darüber sprechen zu müssen. Ich ließ es daher auch bleiben, das Thema nochmals aufzugreifen und ging dazu über, mich nach seinem Gesundheitszustand zu erkundigen. Bei dieser Frage huschte ein merkwürdiges Grinsen über seine Lippen, nur ganz kurz, aber doch deutlich genug.
„Keine Sorge, solange der Geist mich treibt, soll das Fleisch ruhig verderben,“ er kicherte trocken und aus seinem Blick sprach nichts als stählerner Wille, ein Wille, der nicht mehr der eines Menschen zu sein schien, und irgendetwas an diesem Blick jagte mir eine subtile Angst ein, die ich noch immer nicht zu beschreiben im Stande bin.
„Dieses, unser Universum, hält noch Geheimnisse und verborgene Pfade der Weisheit bereit, die zu beschreiten den meisten Menschen – auch vielen großen Geistern – auf ewig verwehrt blieb und bleiben wird. Nicht eine höhere Macht, oder ein Dämon fesselt sie an die eingetretenen Pfade, außer vielleicht der Dämon von Ignoranz und Gewohnheit. Schau, was für einen Wirbel Planck in der Physik verursachte; mit einem einzigen Ausflug in die unendlichen Gefilde seines Bewusstseins hat er Pforten geöffnet, an deren Existenz die klassische Physik nicht einmal im Traume zu glauben bereit gewesen wäre. Eine Schande, dass solch große Taten des menschlichen Geistes nur allzu häufig im aufgebrachten Geschrei der verwirrten Herden untergehen, ja, ihrem Schöpfer nur allzu oft zum Richtbeil werden.“
Ich blickte ihn schief an, verstand zunächst überhaupt nicht worauf er hinaus wollte.
„Du willst Beispiele, eh? Sollst du haben. Nimm Galilei oder Giordano Bruno, oder, wenn du es religiös willst, Jesus Christus. Vor zweitausend Jahren als Visionär ans Kreuz geschlagen und heute das Symbol einer Weltreligion. So ist es nur allzu oft. Gut möglich, dass Planck und seine Quanten noch Jahrzehnte brauchen werden, bis sie ans Ohr und vor allem in den Geist der Allgemeinheit vorgedrungen sein werden. Die ewige Bürde der Visionäre: heute verachtet man sie, schlägt sie an Kreuze, verbrennt sie auf Scheiterhaufen oder gibt sie der Lächerlichkeit Preis und morgen wird man ihnen Denkmäler errichten.“
Gedankenverloren glitt sein Blick zum farbigen Erkerfenster hinaus und durchdrang, scheinbar geladen mit all dem Leid, all den vergangen Schicksalen großer Geister, die er in so prosaischen Worten beschrieben hatte, die schwüle Hitze des Nachmittags. Noch immer unsicher, worauf er überhaupt hinaus wollte, oder ob seine idealistischen Ausführungen bloßer Selbstzweck waren, tat ich es ihm gleich.
„Ich schweife ab,“ schreckte mich seine brüchige Stimme auf, „alles was ich damit sagen möchte, mein lieber Rudolf: sorge dich nicht um meine Gesundheit, solange mein Gehirn noch in der Lage ist, Großes zu ersinnen. Pfeif erstmal auf Planck und seine Physik, wenn das Experiment, an dem ich arbeite glückt, wird er sich neben mir wie ein Waisenknabe ausnehmen, und das ist es, worum es mir eigentlich geht; ich muss mein Schicksal, mein großes Werk erfüllen. Ich werde die Mächte des Universums unter meinen Willen zwingen und mich einreihen in den langen Strom ehrwürdiger Weiser, der sich in verwobenen Mäandern machtvoll durch die Tiefen des kollektiven Bewusstseins schlängelt.“
Solche und ähnliche schier größenwahnsinnig anmutende Andeutungen machte er, reagierte aber auf mein Nachfragen stets mit Groll und weigerte sich, die Dinge, über die er sprach, weiter zu erläutern. Dennoch fuhr er fort, immer wieder solche Andeutungen in unser Gespräch einzustreuen. Er sprach davon, die Wissenschaft zu revolutionieren und gar die Naturgesetze, wie wir sie kannten, zu entkräften. Bei meinem Abschied war ich noch besorgter als zuvor, doch er versicherte mir, es sei alles in Ordnung und ich solle nur abwarten, dann würde er mir seine Entdeckung schon irgendwann offenbaren. Als ich aber auf der Treppe war, vernahm ich seine gehauchte Stimme hinter der geschlossenen Tür, die aus einem hin und her laufenden, ruhelosen Körper zu sprudeln schien; das Gesagte durchfuhr mich wie ein eisiger Schauer:
„Und der Allmächtige blies ihm den lebendigen Atem in die Nase und das Menschlein erwachte zum Leben...“
Das war es, was er immer wieder sagte und in einem Tonfall wie man ihn sonst nur in finstersten Träumen vernimmt; unheilsschwanger tönte seine gebrochene Stimme durchs Treppenhaus und ich war froh, als ich sie nicht mehr mit anhören musste. Von diesem Tag an war mir klar, dass etwas Furchtbares mit meinem Freunde vor sich ging, bloß konnte ich mir keine Vorstellung davon machen, was.
Aufgrund des bedauernswerten und unberechenbaren Zustandes, in dem sich Henry befand und der sich, je weiter die Tage verstrichen, noch steigerte, unterließ ich es, Bettina mit in unser Haus zu nehmen. Einmal hatte ich sie kurz mitgenommen, als ich sicher war, dass mein Freund außer Haus war und auch dann hatten wir uns auf mein unterschwelliges Drängen hin nicht lange dort aufgehalten. Und auch wenn sie mich immer wieder nach meinem Mitbewohner fragte, wich ich ihr aus und sagte, er sei ein vielbeschäftigter Mann und nicht sehr kontaktfreudig, was sie natürlich nicht befriedigte, doch was sollte ich machen? Ich weigerte mich, ihr einen Geisteskranken vorzustellen. Zu alledem steigerte sich der beißende Geruch im Treppenhaus, mit der Zeit, beinahe zur Unerträglichkeit, was mich vor Bettina sicher in zusätzliche Erklärungsnöte gebracht hätte.
Einmal traf ich Henry, als er eine Wanne voll dampfender Pferdeäpfel die Treppe hoch in seine Wohnung trug und sofort war mir klar, woher dieser furchtbare Gestank kam, der da im Flur bereits seit Wochen gärte. Obwohl sich ein heftiger Streit entwickelte und ich ihm drohte, auszuziehen, blieb er kalt und ließ sich nicht im geringsten beirren. Wenn dem so sein müsse, sagte er, dann solle es so sein, jedenfalls hätte er die oberen Räumlichkeiten angemietet und könne dort treiben was er wolle. Er gestand mir letztlich lediglich zu, ein feuchtes Handtuch unter seine Tür zu legen, damit der Gestank wenigstens nicht allzu heftig ins Treppenhaus zog; mehr Verständnis zeigte er jedoch nicht. Im Gegenteil, zunehmend vermeinte ich selbst tief in der Nacht sein mysteriöses Treiben über mir zu vernehmen und die tiefen, blau unterlaufenen Ringe unter seinen Augen gaben meinen Vermutungen wohl recht. Selbst ich konnte mich bald nicht mehr recht auf meine Aufgaben innerhalb des Universitätsbetriebs konzentrieren, zu abgelenkt war meine rege Phantasie von den Machenschaften, die da nur wenige Meter von mir entfernt Tag und Nacht stattfanden. Da ich jedoch sein aufbrausendes Temperament seit je her kannte und wusste, dass, so sehr er in der Forschung zumeist kühl und überlegt handelte, er im sozialen Miteinander zu gewissen Impulsivitäten neigte, traute ich mich nicht, ihn noch einmal anzusprechen. Im Nachhinein kann ich nicht mehr wirklich sagen, was genau ich fürchtete, doch wie oft ist es so im Leben, dass man sich vor etwas ängstigt, ohne genau zu wissen, wovor; jedenfalls brachte ich es nicht übers Herz, obwohl die glühendsten Fragen meine Seele plagten. Welch dunkles Geheimnis verbarg der Professor nur, das ihn veranlasste sich in solch offener Weise über seine Kollegen zu erheben und gar zum Revolutionär der Wissenschaft auszurufen. Und was, um alles in der Welt, hatte das alles mit Pferdedung zu tun? Die einfachste Erklärung wäre wahrlich der Wahnsinn gewesen, doch es war mir ein Rätsel, was einen solch standfesten und gebildeten Menschen, wie Henry es stets war, binnen weniger Monate in die Geisteskrankheit hätte treiben können. Eine Erklärung wären Rauschmittel gewesen, doch dem widersprach sein seit je her asketischer Lebensstil, der es ihm nicht einmal gestattete gelegentliche Sorgen oder Verkrampfungen mit Alkohol zu mindern, oder seinen Antrieb durch eine Prise Kokain zu stärken oder, wie es, besonders unter Dichtern und Freidenkern gang und gäbe war, seine Fantasie mit ein wenig Opium zu beflügeln. Nein, damit konnte es nichts zu tun haben, auch wenn es mir durchaus recht gewesen wäre. Selbst die schädlichsten Drogen wären wohl noch besser gewesen, als jene finsteren Machenschaften, denen er im Verborgenen nachging.
In den Tagen, bevor das Unheil geschah – von dem ich noch heute nicht genau weiß, was sich tatsächlich zugetragen hat – sah ich meinen Freund gar nicht mehr, sondern vernahm lediglich noch das Gerumpel und Getöse und den unsäglichen Gestank, der trotz des feuchten Handtuchs nicht sonderlich abgenommen hatte. Das letzte mal als ich ihn sah, schlurfte er abgezehrt und buckelig die Treppe hinauf, warf mir noch einen müden Blick zu und sagte unter sanftem Nicken:
„Bald wirst du es wissen, Rudolf. Die Zeit naht, da sich meine Arbeit auszahlen wird; ich werde es unter die Götter schaffen, mein Name wird in goldenen Lettern zwischen den ihren stehen. Nein, über die Götter noch werde ich mich erheben“, lallte er trunken. Dann verschwand er in seinem Zimmer und ließ mich mit jenem Erinnerungsbild eines abgezehrten, binnen Monaten um Jahre gealterten Mannes zurück, der einst ein so glänzender Forscher und wacher Geist gewesen war. Nun war er endgültig dem Wahnsinn anheim gefallen; dieser brennende Gedanke verfolgte mich so lange, bis ich in den frühen Morgenstunden endlich Schlaf fand. Doch auch in meine Träume schlich sich Henrys Schatten, der bald wie ein Leichentuch über meinem Leben lag, alle Freude, alle Hoffnung auf Besserung zu ersticken drohte.
Das unsägliche Grauen, jener Schrecken, der mich noch heute verfolgt und dessen Echo wohl zu meinen Lebzeiten nicht mehr abebben wird, brach dann einige Abende später über das Haus herein. Ich hatte eben gehört – und es ist mir, als wäre es gestern gewesen – dass die große Standuhr im Treppenhaus Mitternacht geschlagen hatte und wollte zu Bett gehen, als plötzlich ein fürchterlicher Lärm von Oben heruntertönte. Obgleich die Geräuschkulisse aus Henrys Wohnung bereits seit Wochen, wenn nicht gar seit Monaten, alles andere als friedlich und ruhig gewesen war, nahm sich das Getöse, welches in diesem Augenblick ertönte, nochmal als erhebliche Steigerung aus. Erschrocken eilte ich sofort in den Flur und horchte. Der Schlag traf mich, als ich sogleich die gellende Stimme meines Freundes vernahm, die hysterisch schrie:
„Und der Allmächtige blies ihm den lebendigen Atem in die Nase und das Menschlein erwachte zum Leben...“
Immer wieder brüllte er diesen Satz aus voller Kehle, so laut, dass es vermutlich die gesamte Nachbarschaft gehört hat. Und unter sein Geschrei mischte sich langsam ein eigentümliches Zischen und Blubbern, wie ich es nie gehört habe; selbst nicht in den Laboratorien der Chemiker.
„Und der Allmächtige blies ihm den lebendigen Atem in die Nase und das Menschlein erwachte zum Leben...“
Ein Rauschen wurde laut, gleich dem Getöse tausender Stürme, bis es sich in einem Knall, keiner Explosion, brach und verebbte und nur mehr Henrys hysterisches Freudengebrüll die Treppe herab hallte.
„Geboren, geboren!“ schrie er von Sinnen; und: „es atmet, bei den Göttern!“
Ich stand noch immer wie angewurzelt da, als sich die Stimme meines Freundes plötzlich überschlug und die Freude verdächtig in Richtung Panik glitt.
„Nicht, nicht! Nein, nicht die Augen!“
Das Blut stockte mir in den Adern, ich war wie paralysiert; unfähig mich zu rühren. Der Schlag der großen, haselnussbraunen Standuhr vor mir hallte bleiern in den fiebernden Schlägen meines Herzens wider; vibrierte drohend durch meine Schläfen, gleich dem treibenden Rhythmus des Untergangs, dem Metronom des Unausweichlichen, das uns mit jedem Schlag die Vergänglichkeit vor Augen führt, vor der es letztlich für niemanden ein Entrinnen gibt.
„Nicht meine Augen!“ kreischte Henry von Sinnen, dann folgte nur noch unartikuliertes Geschrei, das nichts als unsägliche Pein in sich barg. Dazwischen meinte ich etwas wie ein grelles Kichern vernommen zu haben, eine hohe, sarkastische Stimme, wie sie nicht aus einer Menschenkehle entstammen konnte; ein Fenster zerbrach, dann folgte Stille. Langsam befreite ich mich aus meiner Starre und wankte in Richtung Treppe. Noch heute höre ich das schwerfällige Ächzen der hölzernen Stufen, wie es die bedrückende Stille, in der einzig das einsame Ticken des Metallpendels verhallte, durchbrach. Mein Herz pochte so laut in meiner Brust, dass ein permanenter Druck meinen gesamten Körper erfasst zu haben schien. Oben angekommen stieß ich zögerlich die Wohnungstür auf und sofort schlug mir wieder dieser bestialische Gestank entgegen – diesmal ungefiltert und ich fragte mich, wie Henry das überhaupt aushielt. Die Unordnung war noch schlimmer als bei meinem letzten Besuch und ich hatte Not, überhaupt einen Schritt zu tun, ohne auf etwas zu treten. In der Stube sah ich es dann: ein merkwürdiges Konstrukt aus Glas, einem großen Kolben gleich und darin Pferdedung. Der Kolben war zerbrochen, Scherben lagen überall auf dem Boden verteilt und vollendeten das Bild der Verwüstung. Erst als ich vollends den Raum betreten hatte, sah ich jenes Bild, das sich in meiner Seele festgebrannt hat und mich bis heute peinigt. Dort lag, mit dem Rücken an die Wand gelehnt und die Beine von sich gestreckt, der leblose Körper von Henry Milton Veda. Er war blutüberströmt und mit Schrecken stellte ich fest, dass dort, wo zuvor seine Augen gewesen waren, nunmehr bloß noch zwei tiefrote Löcher prangten, aus denen sich dickflüssig der Lebenssaft über die Wangen ergoss. Eine leichte Brise brachte die Vorhänge hinter der zersprungenen Scheibe im Erker, zu gespenstischem Tanz. Ich eilte ans Fenster um vielleicht noch einen Blick auf den Mörder erhaschen zu können – denn selbst hatte sich mein Freund sicherlich nicht die Augen ausgerissen – doch es war weit und breit nichts zu sehen, außer alles umschließende Dunkelheit. Zitternd wandte ich mich wieder um, als mir jenes Buch auf dem kleinen runden Tisch auffiel, das mein Freund einige Zeit so plump versucht hatte vor mir zu verbergen. Darunter lag ein vergilbter Zettel mit handschriftlichen Notizen. Ich hob ihn auf und begann zu lesen.
Die Erschaffung eines Homunculus:
Man gebe die männliche Saat gemeinsam mit Urin vierzig Tage in ein Gefäß mit wärmendem Pferdemist, den man hin und wieder erneuere, worauf ein durchsichtiges Menschlein entsteht. Um ihm Form zu verleihen, nähere man es weitere vierzig Tage mit dem Arkanum des menschlichen Blutes und die Erschaffung des leibhaftigen Menschleins ist vollendet.
Zunächst hielt ich es für einen schlechten Witz, doch als ich mir nochmals die Apparatur betrachtete, war ich mir dessen nicht mehr so sicher. Hat mein Freund Henry Milton Veda ein künstliches Menschlein aus seinem eigenen Sperma, seinem Blut, Urin und Pferdedung gezüchtet? Diese Frage treibt mich bis heute um. Die Rezeptur ist sicher belegt und es ist auch klar, dass sie von dem großen Paracelsus stammt, von dem ich bis dahin bloß wusste, dass er die grandiose Definition für Gift aufgestellt hat, wonach jeder Stoff prinzipiell ein Gift ist und es lediglich auf die Dosierung ankommt, welcher tatsächlich giftig wirkt. Wie kann ein so großer Geist wie Paracelsus bloß auf solch abwegige Formeln, wie die für die Erschaffung eines Homunculus, gekommen sein? Auch diese Frage wird wohl ungeklärt bleiben müssen. Fest steht, dass irgendetwas meinem alten Freund in jener finsteren Nacht, in der weder Mond noch Sterne das Firmament zierten, das Leben raubte und seinen Leichnam ohne Augen zurückließ, bevor es spurlos in der Finsternis verschwand. Nachdem ich den Vorfall der Polizei gemeldet hatte, verdächtigte man mich zunächst lange Zeit, da ich für die Behörden, allem Anschein nach, der einzige Anhaltspunkt in diesem makabren Akt war. Die Anschuldigungen waren jedoch nicht lange haltbar, nicht bloß, weil Indizien jeglicher Form fehlten, sondern vor allem, weil kein offensichtliches Motiv vorlag, das mich hätte zum Mörder machen können. Die Folgen der Anklage aber bekam ich noch Jahre später in Form von misstrauischen Blicken zu spüren, die mich dann und wann in der Universität oder bei bestimmten Anlässen trafen. Ich selbst begab mich nach den Ereignissen in eine mehrjährige Therapie, die angefangen bei einigen knöchernen Freudianern, erst mit meinem Zusammentreffen mit Carl Gustav Jung, wirkliche Erfolge zeitigte; und nicht bloß für mich, sondern besonders für meine Frau, einen langen Leidensweg bedeutete.
Ich denke, der Fall um Henry Milton Vedas seltsames Schicksal landete schließlich auf einem Haufen Akten ungeklärter Ereignisse und hat sich damit für die Behörden erledigt. Ich jedoch wache noch heute manches mal schweißgebadet aus wirren Träumen von kleinen, künstlichen Männchen auf, die mir des Nächtens klammheimlich die Augen stehlen, aus deren leeren Höhlen sich dann Henrys purpurnes, kaltes Blut über meine Wangen ergießt und noch immer höre ich sein verzweifeltes Geschrei, durch die Wogen der Zeit zu mir hindurchdringen. Und jedes Mal, wenn in der Presse eine Meldung auftaucht, über eine Leiche der die Augen fehlen, schaudere ich in mich hinein, denn insgeheim weiß ich, welch grausige, von Menschenhand geschaffene Macht womöglich noch immer dort draußen ihr Unwesen treibt.