Das Selchen
Kann es Sterne regnen?
Für Selchen war dies eine ganz wesentliche Frage. Sie stellte sie nicht nur sich selbst, sondern auch jedem Menschen, denen sie begegnete.
Selchen hieß eigentlich nicht Selchen, sondern Giesela Rodriga Merseburger. Aber so nannte sie nun wirklich niemand, der sie kannte. Sie hatte dazu einfach ein viel zu niedliches Gesicht mit wunderschönen Sommersprossen und fröhlichen Kinderaugen, die stets neugierig in die Welt schauten. Ihre Vornamen hatte sie von ihren Großmüttern bekommen, die eine von deutscher, die andere von spanischer Abstimmung. Beide waren von ihr entzückt und von der Möglichkeit, bei ihren Kaffeekränzchen von ihrem Enkelkind berichten zu können. Freilich suchte die Umwelt rasch eine Lösung aus dem Dilemma der nicht ganz gelungenen Namenskonstellation. Und als Selchen dann begann mit Lauten zu experimentieren, bald ein „ela“ und etwas später ein „sela“ zustande brachte, da wurden ihre Versuche von der Mutter in die niedlichere Form „Selchen“ umgewandelt. Das Selchen nahm diese Wortschöpfung gerne an und hört bald nur noch darauf.
Selchens Frage wurde von den meisten Menschen sehr wohlwollend aufgenommen und ernst aufgefasst, denn sie konnte sie sehr eindrucksvoll stellen. Nie war sie dabei irgendwie aufdringlich, auch wenn ihre Hand nicht selten den Befragten sanft am Ärmel zupfte, wenn dessen Aufmerksamkeit nicht hinreichte. Es war dies aber mehr eine ganz zarte Geste, als ein fester Griff. Und ihre Stimme klang auch niemals fordernd, sondern hatte jenen freundlich bittenden Unterton und den kaum wahrnehmbaren kindlichen Schmerz der Unsicherheit, dem man sich nicht verweigern mag, wenn man nur einen Funken Kinderliebe besitzt.
Die Erklärungen, die Selchen erhielt, waren darum zumeist auch alles andere als oberflächlich. Menschen mit mehr Wissen erzählten ihr von Umlaufbahnen der Planeten um die Sonne und immensen Entfernungen zwischen Sonnen, Planeten und Monden. Menschen mit mehr poetischer Ader sprachen über die wundervolle Fügung der Schöpfung oder erinnerten sie an das Märchen vom Sterntaler. Und ängstliche Menschen führten Wahrscheinlichkeitsrechnungen und Statistiken an, mit denen zu belegen war, dass lediglich kleinere Teile von Himmelskörpern die Erden schon getroffen hätten und alles andere eine ganz große Katastrophe wäre.
Selchen bedankte sich ein jedes Mal höflich für diese Antworten. Und sie war auch tatsächlich dankbar, dass die Menschen sich die Zeit für sie nahmen. Manche hatten für sie sogar noch eine kleine Süßigkeit zur Hand oder strichen ihr zum Abschied einmal über den Kopf. Aber trotz all der Antworten erschien Selchen nicht wirklich zufrieden zu werden, denn das Wesen ihrer Frage wurde von niemandem verstanden und sie selbst hätte dies mit eigenen Worten auch nicht beschreiben können.
Selchen hatte ihre Frage erstmals einem jungen Mann gestellt, einem Sanitäter, der ihr einen dicken Verband um den Kopf gelegt hatte. Das Auto ihrer Eltern war damals den immer größer werdenden Scheinwerfern eines entgegenkommenden Lastautos ausgewichen und dabei über den Fahrbahnrand hinausgeraten. Die Fahrt endete an einem massiven Straßenbaum. Ihre stabile Kindersicherung verhinderte Schlimmeres, aber Selchens Kopf schlug dennoch hart an einer Kante auf. Sie hatte noch den Eindruck von Lichtpunkten, die vor ihr aufstiegen und rasch ihr ganzes versinkendes Erleben einnahmen, bis sie in eine gnädige Ohnmacht fiel. Sie war lange Zeit ohne Bewusstsein, so dass ihr der Anblick erspart blieb, wie ihre Eltern leblos von Feuerwehrleuten aus dem zertrümmerten Fahrzeug geborgen wurden, der Notarzt sie untersuchte und resigniert den Kopf schüttelte, sie dann unter Decken am Straßenrand abgelegt wurden.
Als Selchen wieder in die Gegenwart zurückkehrte, nahm sie als erstes das blaue Blinken von Lichtern vieler Autos wahr. Ohne zu Begreifen, was geschah, war sie erstaunt, dass die kleinen Lichtpunkte verschwunden waren und nun fremde Menschen um sie herum standen. Man hatte sie auf eine Trage etwas abseits von der Unfallstelle gebettet und der Notarzt hatte ihre Verletzungen, die nicht bedrohlich waren, untersucht. Ein junger Sanitäter war beauftragt worden, die blutende Wunde an ihrer Stirn abzudecken, bis sie im Krankenhaus versorgt wer-den würde. Er hatte seine Arbeit vorsichtig erledigt, so dass das Selchen bis auf ein dumpfes Pochen hinter ihrer Stirn keinen Schmerz verspürte. Das Unbekannte und ihre frischen Erinnerungen aber machten ihr Angst und sie suchte nach Vertrautem in dem Durcheinander. Und als der Verband fertig war, fiel ihr suchender Blick auf das gelbe Entenküken und mit dem Schriftzug „Selchen fährt mit“, das ihre Eltern an der Heckscheibe des nun seltsam in sich verdrehten Familienautos angebracht hatten.
Noch mehr wurde das Selchen von Angst ergriffen und sie sah den Sanitäter mit weiten Kin-deraugen an. Und weil der junge Mann darin ihre Frage erkannte, schon bevor sie ausgesprochen war, ergriff ihn eine unendliche Traurigkeit und tiefes Mitleid. Gerne hätte er sich abgewendet und wäre davongelaufen, hätte die Antwort lieber jemanden anderes überlassen. Dabei war er wirklich kein ängstlicher Mensch und er hatte in seinem noch kurzen Berufsleben bereits viele schlimme Situationen erlebt, schwere Entscheidungen zu treffen gehabt und auch schon traurige Nachrichten an Angehörigen überbringen müssen. Aber das Selchen war noch ein Kind und erschien ihm so sehr verletzlich. Er war darauf einfach nicht vorbereitet gewesen, einem Kind die entsetzliche Tatsache beizubringen, dass seine Eltern nicht mehr lebten. Eine solche Situation hatte er sich auch noch nie vorgestellt gehabt.
Doch es gab für ihn keinen Ausweg. Er musste zu einer Antwort finden, die dem kleinen Mädchen eine Hilfe war, die Situation irgendwie zu bewältigen, dass Unfassliche irgendwie fassbar zu machen. Endlich fand er seinen Mut wieder und fragte sie: „Wie heißt Du?“ Und als das Selchen geantwortet hatte, war er trotz des schlimmen Augenblicks von ihrem Namen überrascht. Vielleicht war es gerade dieser Name, der ihm half, seine Worte zu finden: „Selchen, Deine Mami und dein Papi sind nicht mehr hier. Sie sind jetzt zwei Sterne dort oben. Aber sie können immer auf Dich sehen.“ Dabei deutete er mit dem Zeigefinder in den Himmel.
Selchens Blick folgte seiner Geste und sie konnte in diesem Moment tatsächlich zwei ganz helle Sterne erblicken. Aber sie begann auch zu weinen und nach ihrer Mutter zu rufen, so dass der junge Mann sie tröstend in seine Arme nahm. „Es wird wieder gut“, sagte er, „es wird alles wieder gut“. Doch Selchen weinte eine sehr lange Zeit. Und selbst als die Kollegen des jungen Sanitäters vorsichtig zum Aufbruch drängten, lies er Selchen einfach nicht los und gab ihr all die Zeit, die sie brauchte. Als ihre Tränen schließlich versiegten, da sah sie den jungen Mann an und sagte: „Mami und Papi sind hochgeflogen, mit den anderen“. Und nach einer Weile fragte sie mit allen Anzeichen einer verzweifelten Hoffnung zum ersten Mal: „Kann es Sterne regnen?“
Doch der junge Mann antwortete nicht. Er ließ sie aber auch nicht los. Nur seinen Blick musste er abwenden, denn er wollte nicht, dass sie sah, wie er weinte.