Das Selbst
Vorsicht war sein Hauptgedanke, das bestimmende Element in seinem Leben.
All sein Handeln und Wirken war von Vorsicht geprägt. Die Zeit hatte es ihn gelehrt.
Er kannte sich und seine Schwächen, die Gefahren denen er täglich ausgesetzt war, wie auch seine Ängste und Verzweifelungen nur zu gut. Und er kannte die Menschen.
Doch all das kümmerte ihn nicht mehr, da er wusste, dass, wenn er vorsichtig sein würde, zurückhaltend, darauf achtete, dass er keinen Fehler beging, unscheinbar blieb, ihm nichts geschehen konnte. Und dafür tat er alles.
Er lebte allein und wie in seine Freizeit, verbrachte er auch seine Arbeitszeit, selten unter Menschen. Und so verstand er es mit der Zeit immer besser, jeden, sogar – nein, erst recht - seine Familie von sich fernzuhalten. Von ihr hatte es er ja schließlich gelernt, in Vorsicht vor sich selbst und anderen zu Leben. Dreiundzwanzig Jahre hatte es gebraucht, in denen ihm klar wurde, oder vielmehr beigebracht wurde, wie er sich zu verhalten im Umgang mit anderen hatte, doch er hatte es geschafft. Niemand vermochte nun mehr zu ahnen was er dachte, was er tat.
Er konnte sie alle täuschen, Freunde, Familie, die Leute auf der Strasse, sogar die Polizei, die ihn einmal bei einer Verkehrskontrolle anhielt. Sie alle ahnten nichts, er war einfach zu gut geworden. Und mittlerweile schaffte er es, selbst sich, wenn er wieder einmal Spürte das er schwach wurde und das Bedürfnis nach einem Gespräch mit anderen übermächtig schien, vollends zu bekämpfen und zu kontrollieren. Dann erinnerte er sich, wie an die Geburtstagsfeier einer seiner Arbeitskollegen. Wie alle tranken und lachten und das immer öfter und immer lauter, je später der Abend wurde und daran wie sie sich schließlich verrieten. Er begann zu Lachen bei dem Gedanken daran, wie sie sich und ihr Leben, ja ihre ganze Sicherheit preisgegeben hatten. Sie hatten ja keine Ahnung, welchem Risiko sie sich da preisgaben.
Einer erzählt sogar dass er Angst vorm Fliegen hätte und ein anderer sprach von seinen Ängsten gegenüber Spinnen. Diese Narren, ging es ihm da durch den Kopf, wie konnte man nur so leichtsinnig sein, sich anderen so Ausliefern und jeden persönlichen Schutz aufgeben, wo man doch wusste wo das hinführen konnte. Zu immer neuen und neueren Fragen über einen, ohne Ende. Man würde immer mehr über sich erzählen, ja, erzählen müssen! Schließlich hat man dann alle Geheimnisse preisgegeben und wäre ein offenes Buch für andere. Und dann?
Was wenn jemand sich entschließen würde dies Auszunutzen, jene wunden Punkte zu nutzen, wie damals als er seinen Vater gestand das er ...- nein! Er konnte das nicht Verstehen, schon bei an den Gedanken daran, begannen seine Hände zu zittern. Nein!
Er schob diese Gedanken beiseite, auch das hatte er gelernt. Sie machten schwach und verunsicherten, das wusste er. Und Schwäche war gefährlich. Einmal, es war im Winter, da hatte er sie auch, so eine Situation. Auf Einladen und Drängen eines Arbeitskollegen ging er mit ihm und der Neuen, mit der er zusammenarbeitete ins Kino- heute erschien es ihn unverzeihlich das er sich einem solchen Risiko aussetzte, als es geschah. In der Mitte des Films berührte sie seine Hand. Er erinnerte sich, an den Schock und wie ihm der Atem stockte, wie er in Panik geriet, innerlich zusammenzuckte, als hätte ein Blitz ihn getroffen und wie sich alles zu verkrampfen begann. Die Hilflosigkeit die sich in ihm ausbreitetet, auch daran erinnerte er sich noch, es hatte nicht viel gefehlt und er hätte versagt. Ertappt, verraten, alles hätte geschehen können, wäre erzählt worden, alle Geheimnisse verraten und er hoffnungslos verloren! Einzig ihrer Gnade ausgeliefert, ohne Chance sich zu schützen. Nein das hätte er nicht zulassen können, nicht nach all der Zeit, all dem erlebten, all dem Kampf. Doch er schaffte es, sich unter einem Vorwand zu entschuldigen und verschwand. Seit diesen Zeitpunkt verdoppelte seine Anstrengungen und schaffte es Feiern und Einladungen aus den Weg zu gehen. Und es wurde einfacher mit der Zeit.
Mann lies ihn in Ruhe. Ja, er war sicherer und vorsichtiger geworden. Er ging nicht mehr weg, lebte allein, trank nicht, hatte sich jederzeit und überall unter voller Kontrolle. Und doch, manchmal an bestimmten Tagen im Winter erinnerte er sich zurück an das Kino und daran das da noch etwas war, in dem Moment als die seine Hand nahm. Irgendetwas das er nicht beschreiben konnte, ein Gefühl das er schon lange nicht mehr wahrnahm, das er schon lange nicht mehr gefühlt hatte und das er vermisste. Doch es hielt nicht lange an, und schließlich besann er sich wieder auf das was wirklich wichtig war, wichtig seinen musste: den Schutz seines Selbst.
[ 23.05.2002, 16:55: Beitrag editiert von: Epikur ]