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Das Seesilber zerschlagen
Gerda steht in der Küche, hantiert mit Kaffeetassen. Mich hat der Geruch des Kaffees aus dem Bett geholt. Lange davor schon lag ich wach, starrte zur Decke hoch, zählte die vielen Risse, in deren Zentrum der Lampenhaken im Putz verschwindet. Wieder ein Sonntag und ich hatte vor, länger zu schlafen. Die Träume von schwarzen Algen haben mich wachgerüttelt, weit vor dem Dämmer, der am Morgen in den Nebeln über dem See aufsteigt und jetzt mit seiner Blässe die Risse im Putz schwarz färbt. Die Decke über dem Bett ist das Netz, unter dem ich gegen meine Träume ankämpfe, in das ich mich nie werde fallen lassen können, weil es wie ein Damoklesschwert über mir zu schweben scheint. Ich glaube an meine Schuld und ich ängstige mich vor dem Moment, Gerda wieder beim Tisch sitzen zu sehen. Gerda mit ihrem Schweigen, das mich anklagt, mich gegen alle Wände dieses leeren Hauses drückt. Danach über das zu sprechen, das beeinflussbar und damit vielleicht vermeidbar gewesen wäre, ist blanker Hohn. Wir hatten es immer wieder versucht und hatten uns bei diesen Versuchen im Kreis gedreht. Unsere Tochter ist nicht mehr. Ich suche müde nach den Hausschuhen. Der Wind hebt die Blätter des Kirschbaums vor dem Fenster. Als ob er darunter schnüffeln möchte. Als röche er immer noch die Ekstase, in der sich Gerda und ich befanden, während die letzten Schreie unserer Tochter als bunt schillernde Luftbläschen an den Rändern der Seerosenblätter zerplatzten. Als gelte es, alle zu findenden Schätze dieses Morgens unter den Zweigen aufzuspüren, so streicht der Wind durch das Gras.
Gerda ist meine Frau.
Das Licht aus dem Garten ist schon recht kräftig, dehnt das Rosarot des Vorhangstoffes wie eine Hängematte quer durch den Raum. Alles ist rosarot. Dabei habe ich die Brille mit dieser Eigenschaft gar nicht mehr dabei. Jetzt, wo Gerda dort bei der Anrichte steht und im obersten Regal nach der Zuckerdose sucht, spüre ich wieder die Illusion, in der wir damals lebten. Irgendwann einmal hatte ich sie auf der Nase sitzen, diese rosarote Fehlkonstruktion, diese fehlerhafte Beschaffenheit, auf die ich hereinfiel wie ein Ministrant auf die Worte des Priesters. Weil ich glaubte, dass sich die guten Dinge bewahren lassen. Gerda war im vierten Monat und hatte schon lange von einem Kirschbaum gesprochen. Als Gerda und ich den Kirschbaum vor dem Fenster gepflanzt hatten und dieser seine ersten Blüten trug, rosarote Blüten, hatte ich die Brille noch bei mir. Ich glaubte, was ich sah. Wir hatten erfahren, dass es ein Mädchen werden würde. Alles sah gut aus und nach Zukunft.
Die ersten Blüten.
Das liegt lange zurück.
Die Liebe ist im Schlamm des Sees begraben.
Gerda sitzt mir gegenüber, eingehüllt in ihren Frotteemantel. Wieder ein Sonntag. Ich werde ihr vorschlagen, gemeinsam an den See zu fahren. Ich muss es wieder versuchen. Ich registriere das dumpfe Geräusch, als ihre Vorderzähne gegen den Rand der Kaffeetasse schlagen. Sie hat das Haar zerwühlt und sie hat lange Wimpern. Wie ein kleines Mädchen sieht sie mich an. Sie merkt nicht den Speichelfaden, der ihr aus dem Mundwinkel rinnt, der dann am Rand der Tasse klebt. Butterbrote hat sie uns zurecht gemacht.
Wir fuhren an den heißen Wochenenden immer mit den Rädern an den See. Ich habe Gerda auf meinen Armen durch das Schilf getragen, lange, bevor unsere Tochter zur Welt kam. Wir hatten die Sommertage am See zelebriert, wir wollten nirgendwo anders die Sonne auf unserer Haut zergehen lassen. Wir hatten unser Plätzchen und wir waren verrückt aufeinander. Und wir waren verrückt genug, nicht genug davon zu bekommen. Von den Stunden, in denen wir uns wieder ertasteten, neu erfuhren, nicht von einander lassen konnten, bis uns das Abendläuten aus dem noch knisternden Schilf trieb.
Grünes Wasser. Seerosen. Weiter draußen schnellen Fische hoch. Mitten in die Mückenschwärme, die über der Wasseroberfläche wie silbrige, surrende Geschwader tanzen.
Unsere Zehen graben sich in kühlen Schlamm, wir stehen bis zu den Hüften im Wasser.
Sie ist alles, was ich jemals wollte. Sie hat mir zugehört, ist bei mir geblieben.
Es ist Sonntagmorgen. Niemand ist hier.
Sie massiert mein Geschlecht, dreht sich um, drückt sich an mich. Ich dringe behutsam in sie ein und sie hilft mir dabei. Es ist unser Augenblick. Ihr Haar glänzt wie Schildpatt. Alle Farben des Regenbogens haben sich zwischen ihren Schulterblättern eingenistet. Wir bewegen uns kaum. Der See bewegt uns. Kleine Fische stehen neugierig an unseren Beinen, stieben weg, ungläubig und scheu vielleicht, vielleicht wissend. Sie presst ihre Hände gegen meinen Bauch, sie zittert, ich kenne ihr Zittern kurz davor. Ich umschließe die schönsten Hüften meiner Welt, spiele mit ihren Brüsten, die nur wenig das Wasser berühren. Dann tauchen sie ganz ein, wir kommen beide, wir reiten im Regenbogen, denn der Regenbogen ist der See. Das Wasser trägt unseren Schrei ins Schilf. Wir sind das Zentrum der Wellenkreise. Jede Welle trägt die Überzeugung an unsere Liebe mit ans Ufer. Die Überzeugung schließt den Kreis unseres Wollens. Ich liebe sie und nur damit kann ich leben.
Wir hatten unsere Tochter mit dem See gezeugt. Er hat sie uns wieder genommen. Sie kam damals nicht mit den anderen Kindern zurück. Niemand wollte sie zuletzt gesehen haben. Wir rannten zu spät los. Sie hatte sich mit den Beinen im Unterwassergestrüpp der Seerosen und Algen verheddert, war panisch geworden, zog sich selbst immer tiefer.
Gerda gab mir die Schuld.
Ich hätte das Baden mit den anderen Kindern erlaubt, schrie sie in einem fort. Ich hätte damit unsere Tochter getötet. Ich wäre der gewesen, der gemeint hätte, sie mit den Kindern gehen lassen zu können.
Es ist wahr. So oder so. Ich war der, der Gerda mit Küssen beruhigt hatte, sie überzeugt hatte, dass unsere Tochter zurecht käme und wir Zeit für uns hätten. Es war heiß gewesen und im Gras unter den Kirschbaumzweigen lag es sich kühl und angenehm. Irgendwann begann Gerda sich zu entspannen, wurde weich und kam mir entgegen. Zwischen unser Keuchen mischte sich nach einer Weile die tiefe, eigenartig aufgeregte Stimme von Jakob, unserem Nachbarn. Er stand draußen auf der Auffahrt zu unserem Haus, als es bei uns dem Höhepunkt zuging. Wir merkten, dass er uns suchte, dass er den Namen unserer Tochter rief, doch ich war gegen den Willen meiner sich sträubenden Frau wild entschlossen, das hier zu Ende zu bringen.
Es wird ein heißer Tag, sage ich zu Gerda. Lass uns an den See fahren.
Sie antwortet nicht. Sie kann nicht mehr. Sie hat alles verloren mit dem Tod unserer Tochter. Als dem Haus das Lachen unserer Kleinen fehlte, begannen ihre Krämpfe. Sie wurden schlimmer und Gerda ließ sich darin fallen. Ich kann sie daraus nicht zurückholen. Während der Sommergewitter gehen Blitze auf den See nieder.
Es hat keinen Sinn. Der Bruch zwischen uns kann nicht endgültiger sein. Ich streichle über die Knöchel ihrer Hand, spüre die Spannung darin, die Trauer dahinter. Wenn sie die Tischplatte anstarrt, verdecken ihre Wimpern den Blick ins Nirgendwo. Sieht sie unsere Tochter in dieser Leere?
Sieht sie den mit schwarzen Algen verstopften Mund, das stumpf gewordene Augenglas, das verschlammte Haar? Unsere Kleine musste mit einer wahnsinnigen Angst vor dem Tod erstickt sein. Niemand war da, um sie aus dieser beginnenden Schwärze zu ziehen.
Ich habe damals begonnen, den Kirschbaum zu hassen, wollte ihn umsägen, seinen Schatten vernichten, der für uns damals diese Kühle im Gras geschaffen hatte. Gerda hat es nicht zugelassen.
Ich glaube, sie ekelt sich vor mir.
Ich habe versucht, unsere Tochter wiederzubeleben. Ich habe sie angebettelt, angeschrieen, nicht zu gehen. Gerda war losgerannt, den Arzt zu holen, konnte ihn nirgends finden. Ich habe unserer Tochter, ihrem wächsernen Puppengesicht, das sich begann, in seine letzte Starre zu fügen, den Schlamm und die Algen aus dem offenen Mund gekratzt, habe versucht, ihr mein Leben auf die schon kalten Lippen zu legen und bin kläglich gescheitert.
Gerda spricht kaum mit mir. Sie hat im Zimmer unserer Tochter nichts verändert und doch ist alles anders geworden. Ihr Frotteemantel hat Kaffeeflecken an den Ärmeln. Das Hängemattenrosarot ist über die Decke gekrochen und im Hausflur verschwunden. Sie wird den Tag mit dem schnüffelnden Wind unter dem Kirschbaum verbringen. Es ist kühl dort. Vielleicht glaubt sie, unter seinen Zweigen unsere Tochter zu finden.
Ich sehe sie dort nicht. Ich fahre mit dem Rad an den See und trage Gerda auf meinen Armen durch das Schilf. Ich zerschlage das Seesilber, bis ich hinter all dieser falschen Nässe unsere Tochter finde und mir einbilde, doch noch zurechtgekommen zu sein.
Grünes Wasser. Seerosen. Weiter draußen schnellen Fische hoch. Mitten in die Mückenschwärme, die über der Wasseroberfläche wie silbrige, surrende Geschwader tanzen.