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Das schwarze Selbst
Sie rannte. Schneller und schneller. Versuchte, immer weiter zu beschleunigen. Weg, bloß weg. Weg von alldem, was geschehen war. Ihr Atem ging schwer, ihre Beine begannen schon zu zittern, doch sie konnte nicht anhalten. Zu groß war die Angst, dass es sie einholen könnte.
Wie oft schon hatte sie sich vorgenommen, zu gehen. Hatte sich geschworen, es wäre das letzte Mal gewesen. Doch immer wieder war sie eingeknickt. War geblieben. Hatte das Elend über sich ergehen lassen, sich in ihr Schicksal gefügt. Immer und immer wieder. Die Schmach, die Verzweiflung. Die Hoffnung auf etwas anderes, das irgendwo auf sie warten würde.
Nein. Da wartete gar nichts. Nichts als die pure, undurchdringliche Schwärze des Seins. Niemals würde sich etwas ändern. Sie hatte es immer schon gewusst, doch irgendetwas hatte ihren Glauben aufrechterhalten, daran, dass da noch was sein musste. Sie konnte nicht benennen, was es gewesen war. Doch es hatte sie schlussendlich auch verlassen. Das Gefühl der Besserung, die Hoffnung. All das war tot. Begraben in der Dunkelheit. Unmöglich wieder aufzusteigen.
Sie fühlte weder Hoffnungslosigkeit noch Trauer oder sonst irgendwas. Sie fühlte nur die Gewissheit des Nichts. Die absolute Ruhe in sich.
Ihre Schritte wurden langsamer, sie kam zum stehen. Dann knickten ihre Beine weg und sie landete auf dem Boden. Drehte sich auf den Rücken. Stumpf blickten ihre Augen nach oben. Da war nichts.
Sie horchte, doch sie konnte nichts vernehmen. War wie in Watte verpackt. Als würde sie unter einer Glocke liegen. In einem gläsernen Sarg. Plötzlich blieb ihr die Luft weg.
Sie schreckte hoch und war umschlossen von Dunkelheit. Es war wieder nur ein Traum gewesen. Immer noch saß sie in diesem Loch, ohne auch nur die Hand vor Augen erkennen zu können. Immer noch war sie hier. Bei ihm. Nichts würde das jemals ändern. So oft sie auch ihre Flucht erträumte. Es endete immer so. Sie wachte auf.
Sie erinnerte sich an die Anfangszeit. Als sie noch Träume und Wünsche hatte. Mann, Haus, Kinder. Ein richtiges Bilderbuchleben. Doch tief im Innern wusste sie immer, dass das nicht ihre Bestimmung war. Schon ihre Eltern hatten ihr das seit frühester Kindheit eingebläut. Und doch waren diese Träume lange ihr Begleiter gewesen. Der Wunsch nach einem besseren Leben, einem schönen. Einem Leben mit Liebe und Geborgenheit und all den Dingen, die für so viele so selbstverständlich waren. All das war sie nie wert gewesen.
Schlussendlich hatte man ihr die Augen geöffnet. Das war nicht ihr Leben, würde es nie sein. Für sie gab es nur die Dunkelheit, die Schwärze, das absolute Nichts. Und nach langer Zeit hatte sie es akzeptiert. Es ging ihr gut. Sie hatte das, was ihr zustand. Sie sollte dankbar sein. Das hatten sie ihr immer wieder gesagt. Dankbar für ein Dach über dem Kopf und eine regelmäßige Mahlzeit. Sie war ein undankbares Miststück. Immer wieder hatte man ihr das klargemacht. Und sie glaubte es. War überzeugt davon. Das hatte man für ihr Leben vorgesehen, also war es richtig.
Schmerzen durchzuckten sie und sie veränderte ihre Position. Der Versuch, sich aufzusetzen war qualvoll. Zu frisch waren die Male, die ihr zeigten, dass sie all das hier verdient hatte. Wieso musste sie auch immer wieder Momente haben, in denen sie an Flucht dachte? Wieso konnte sie nicht einfach tun, wofür sie da war? Wieso sträubte sich noch immer etwas in ihr gegen die Resignation? Sie verstand es selbst nicht. Sie hatte sich doch lange schon mit ihrem Schicksal abgefunden. Wieso konnte ihr Unterbewusstsein das nicht auch? Wieso musste es sie immer wieder in Schwierigkeiten bringen?
Sie konnte sich nicht mal mehr erinnern, wie lange sie schon hier war. Wann hatten ihre Eltern entschieden, dass es Zeit war? Wann wurde sie abgegeben, wie etwas, das man nicht mehr wollte? Das einem zur Last fiel. Sie konnte es nicht mehr sagen. Waren es Wochen, Monate, Jahre? Ihr kam jeder Tag wie eine Ewigkeit vor. Ihr Zeitempfinden hatte sie sehr schnell verlassen. Die ewige Dunkelheit machte es ihr unmöglich, die Zeit zu bestimmen. Wie gerne würde sie mal wieder etwas Tageslicht sehen. Nur für einen Moment. Den Duft des Waldes in sich aufnehmen. Den Regen prasseln hören. Vogelgezwitscher. Nein, er verabscheute all das. Und so musste auch sie ohne leben.
Sie zuckte heftig zusammen, als sie ein Poltern über sich vernahm. Sie hörte Stimmen. Das war nicht gut. Da waren zu viele Stimmen. Das passierte nie. Es war immer nur eine. Seine. Und er sprach auch nicht, bevor er sie holte. Er sprach generell sehr wenig. Quietschend öffnete sich die Luke an der Decke. Panik durchfuhr sie. Panik, wie sie sie schon lange nicht mehr gefühlt hatte. Die nackte Angst vor dem, was jetzt geschehen würde.
„Da ist sie. Wir haben sie gefunden.“ Sie wurde von grellem Licht geblendet und musste ihre Augen schließen. Es dauerte lange, bis sie sich an die Helligkeit gewöhnte.
„Miss, können sie mich hören? Ich bin von der Polizei. Ich komme jetzt zu Ihnen runter.“
Er sprach mit ihr. Doch sie begriff nicht, was er sagte. Was passierte hier? Das war falsch. Wer waren all diese Menschen? Das war zu viel. Ihr wurde schwarz vor Augen.
Sie schlug die Augen wieder auf, um sie sofort wieder zu schließen. Das grelle Licht brannte fürchterlich. Langsam wagte sie einen erneuten Versuch. Es dauerte lange, bis sie sich an die Helligkeit gewöhnte. Um sie rum war alles weiß, sie lag in einem Bett. Ein Schlauch hing aus ihrem Arm und führte zu einem Beutel, der an einem Ständer neben ihrem Bett hing. Daneben stand ein großer Apparat, mit Linien drauf, der ab und zu piepte.
Erst jetzt bemerkte sie den Mann, der neben ihr stand. Er war auch in weiß gekleidet, musste wohl ein Arzt sein. Seine Lippen bewegten sich und er sah sie erwartungsvoll an. Er schien mit ihr zu reden. Sie versuchte, sich auf die Worte zu konzentrieren.
„Miss? Hören Sie mich? Nicken Sie, wenn Sie verstehen, was ich sage.“
Ein leichtes Nicken von ihr.
„Ok. Wissen Sie, wo Sie hier sind?“
Erneut ein leichtes Nicken.
„Gut. Wissen Sie auch, warum Sie hier sind?“
Jetzt ein leichtes Kopfschütteln.
„Man hat sie endlich gefunden und befreit. Sie waren stark dehydriert und unterernährt. Wir haben Sie in ein künstliches Koma versetzt. Sie waren drei Wochen weg- Wir sind sehr froh, dass Sie endlich aufgewacht sind. Sie werden keine bleibenden Schäden zurückbehalten, was nahezu an ein Wunder grenzt. Sie haben wirklich Glück gehabt.“
Sie sah ihn verständnislos an. Befreit? Endlich gefunden? Wer hatte denn nach ihr gesucht und warum? Keine bleibenden Schäden. Das alles machte keinen Sinn für sie.
Der Arzt runzelte die Stirn. „Können Sie sich erinnern, warum Sie da waren? Und wie lange Sie da waren?“
Sie überlegte. Warum genau sie dort war, wusste sie nicht. Sie war davon ausgegangen, dass ihre Eltern sie loswerden wollten. Aber wie lange das her war, konnte sie beim besten Willen nicht sagen. Also schüttelte sie den Kopf.
Der Arzt seufzte, nahm sich einen Stuhl und setzte sich an ihr Bett. Behutsam, um sie nicht zu verschrecken, nahm er ihre Hand.
„Sie wurden entführt. Vor sechzehn Jahren. Sie sind jetzt 23.“
Er ließ diese Informationen erstmal auf sie wirken. Sie sah ihn an, durch ihn hindurch. Entführt? Sechzehn Jahre? Hm. Konnte das sein? Sie sah ihn fragend an.
Seine Gesichtszüge wurden weicher. „Ihre Eltern haben nie aufgehört, nach Ihnen zu suchen. Sie waren davon überzeugt, Sie zu finden. Sie sind hier. Wollen Sie sie sehen?“
Wieder überlegte sie. Ihre Eltern hatten sie gesucht. Sie sollten sie also nicht weggeschickt haben? Das war schwer zu verstehen. Wollte sie sie sehen? Der Arzt sah sie erwartungsvoll an, also nickte sie.
Er stand auf und ging zur Tür, um diese zu öffnen. Kurze Zeit später traten ein Mann und eine Frau in den Raum. Die Frau hatte Tränen in den Augen und zitterte, der Mann hielt ihre Hand. Sie erkannte ihre Eltern.
Vorsichtig trat ihre Mutter näher und berührte sanft ihre Hand. In diesem Moment brachen all die Erinnerungen über ihr ein. Der Tag der Entführung, die Angst, die Verzweiflung. Die Sehnsucht nach ihren Eltern, ihrem behüteten Zuhause. Wie konnte sie all das vergessen haben. Sie zitterte und schluchzte. Dann begann sie zu schreien. Schrie alles heraus. Die Lügen, die Ängste, die Schmerzen. Einfach alles.
Ihr Mutter riss erschrocken die Augen auf und wich zurück. Der Arzt kam mit einer Spritze, zwei Schwestern hielten sie fest. Ein kurzer Pieks, dann war Ruhe. Sie fühlte sich leicht wie eine Feder, als sie einschlief.
„Keine Sorge. Ihre Tochter wird wieder gesund werden. Es wird ein harter Weg und sie wird Sie brauchen. Aber das grade, so beängstigend es auch sein mag, war ein großer Schritt in die richtige Richtung. Man konnte sehen, wie die Erinnerungen wieder kamen. Der Entführer hat zugegeben, dass er ihr eingeredet hat, ihre Eltern wollten sie nicht mehr. Sie hat es geglaubt, weil es einfacher war, als sich mit der schmerzhaften Wahrheit zu beschäftigen. Sie hat sich selbst geschützt, indem sie sich aus diesen Lügen eine Mauer gebaut hat. Mit viel Zeit und Geduld wird sie irgendwann wieder ein halbwegs normales Leben führen. Sie ist stark, sonst hätte sie all das nicht so lange überstanden.“
Am nächsten Morgen erwachte sie. Irgendwas war anders. Sie nahm ihre Umgebung plötzlich bewusster war. Neben ihr stand ein Fenster auf kipp. Sie konnte Vogelgezwitscher hören. Es roch nach frisch gemähtem Gras. All diese Gerüche und Geräusche, die sie verloren geglaubt hatte, waren wieder da. Sie lächelte. Nach so langer Zeit hatte sie es noch nicht verlernt. Und noch etwas hatte sich verändert. Sie spürte wieder Hoffnung. Hoffnung auf ein schönes Leben. Denn das hatte sie gehabt, bevor dieser Mann es ihr genommen hatte. Doch all das war nicht mehr wichtig. Sie wollte nicht mehr daran denken, sondern ihr neues Leben genießen. Sie wollte raus und wieder an der Welt teilhaben. Die Natur, die Tiere, all das hatte sie so lange vermisst und jetzt war es endlich wieder da.
Es klopfte an der Tür, bevor diese vorsichtig geöffnet wurde. Ihre Eltern traten zögerlich ein. Sie lächelte weiter. „Mama, Papa. Können wir raus gehen? Ich möchte die Wiesen sehen und die Vögel. Ich hab das alles so vermisst.“
Ihre Eltern sahen sie erstaunt an. Ihre Mutter lächelte mit Tränen in den Augen. „Ja Liebes, wir können raus gehen.“
Sie musste sich sehr beherrschen, um ihre Tochter nicht in die Arme zu reißen, doch die Ärzte und Psychologen hatten ihnen nahegelegt, sie nicht zu überfordern. Sie sollten ihr das Tempo überlassen und abwarten. Irgendwann würde sie auf sie zu kommen. Und dass sie raus wollte, war schonmal ein sehr gutes Zeichen.