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Das schwarze Mausoleum
Das Mondfahrzeug wirbelte eine große Staubwolke auf. Das feine Pulver flog viele Meter in die Luft und sank kaum spürbar zu Boden. Die beiden Astronauten saßen in einem hermetisch abgeschlossenen Teil des Fahrzeugs. Hier waren sie vor dem Vakuum und der starken Weltraumstrahlung geschützt. Dennoch trugen sie zur Sicherheit ihre Raumanzüge.
Yang Wenjie saß am Steuer. Auf einem Bildschirm sah sie die die grauweißen Hügel und Krater der Mondschlandschaft. Über der Landschaft lag ein schwarzer Himmel. Die Sonne und eine kleine, blaue Sphäre, die Erde, dominierten ihn.
Yang Wenjie blickte sehnsüchtig auf die kleine Kugel. Nach fast einem Jahr auf dem Mond hatte sie Heimweh entwickelt.
Ihr Beifahrer Malik Nehru beeindruckte der Ausblick nicht. Er starrte gedankenverloren auf sein Tablet und nahm oberflächliche Berechnungen für ihre Versuchsreihe vor.
Ihre Aufgabe war die Bodenbeschaffenheit eines nicht kartographierten Geländes zu untersuchen. Dazu hatten sie ein schweres Gerät dabei, das Nehru scherzhaft die Beatbox nannte. Das Gerät wurde auf dem Boden aufgestellt und sendete Infraschallwellen durch die Erde. Trafen die Schallwellen auf Hohlräume, festeres oder weicheres Gestein oder ähnliches, registrierte das Gerät diese Änderung.
„Fünf Klicks bis zu Auflagepunkt acht“, meldete der Fahrzeugcomputer. Er zeigte die bisherige Strecke an. Wenjie war um ein paar dutzend Meter von der Strecke abgewichen. Sie korrigierte ihren Kurs und fuhr etwas langsamer.
Nehru legte sein Tablet endlich weg. „Alles fertig. Wir stellen das Ding auf, warten und können weiter. Vielleicht sind wir noch vor dem Abendessen wieder zurück.“
„Ich weiß nicht. Naomi hat heute Küchendienst. Vielleicht sollten wir noch etwas länger hier draußen bleiben“
Nehru lächelte durch seinen Helm. „Es würde ihr das Herz brechen, wenn wir nicht rechtzeitig von unserem Abenteuer erzählen.“
„Was denn für ein Abenteuer? Wir machen das schon seit Tagen.“
„Ja und deshalb danken uns hunderte Wissenschaftler, die mehr über die Zusammensetzung des Mondes und die Entstehung des Sonnensystems wissen wollen. Findest du das nicht interessant?“
Wenjie verdrehte ihre Augen. „Eine kosmische Wolke verdichtete sich zu einer rotierenden Scheibe, bis sich in der Mitte genug Masse angesammelt hatte, um eine Kernfusion in Gang zu setzen. Aus diesem Zentrum wurde die Sonne. Der kleine Rest Dreck am äußeren Rändern bildete die Planeten. Habe ich irgendetwas vergessen?“
Nehru unterdrückte einen Fluch. „Das sagst du nur, weil Umoja dich von deinem Projekt abgezogen hat.“
Damit traf er Wenjies wunden Punkt. Sie seufzte. „Ich bin zum Mond gekommen um an neuen Verbundmaterialien zu arbeiten. Nach neun Monaten sagt man mir dann, dass mein Projekt eingestellt wird und ich technisch gesehen arbeitslos bin. Wie würdest du dich dabei fühlen?“
„Verarscht? In den Sack getreten?“
„Hehe, Leute benutzt bitte nicht solche Begriffe. Manche hier haben zarte Ohren.“
Nehru lachte laut. „Entschuldigung. Station, Wagen 15 wird ab sofort weniger fluchen.“
„Danke. Station Ende.“
Das Fahrzeug hielt an der vorgesehenen Stelle. Nachdem die Luft aus der Kabine abgesaugt wurde, stiegen Nerhu und Yang Wenjie aus. Ihr aller erster Mondspaziergang war etwas Außergewöhnliches gewesen. Fast so, als würde sie heiligen Boden betreten. Inzwischen war für Wenjie jede Spur von Magie verflogen.
„Ein kleiner Schritt für einen Menschen, ein großer für die Menschheit. Geronimo!“, rief Nehru höhnisch. Er machte einen großen Sprung aus den Fahrzeug und schwebte eine Zeitlang fast zwei Meter durch die Luft, ehe die Schwerkraft ihn sanft zu Boden zog. Wenjie nahm lieber die Treppe.
Gemeinsam gingen sie zur Ladefläche. Auf der Erde wog die Beatbox mehrere hundert Kilogramm. Auf dem Mond konnten zwei Menschen sie problemlos tragen. Sie stellten den schwarzen Kasten auf eine ebene Stelle. Mit einer Wasserwaage überprüfte Wenjie, ob sie geradestand. Auf ihr Zeichen hin stellte Nehru die Maschine ein.
Sie konnten die Vibrationen des Bodens mit ihren Füßen fühlen. Auf einem Display in ihren Helmen wurde der Untergrund angezeigt. Mit jeder Minute, die die Beatbox arbeite, wurden das Bild und die darin liegenden Strukturen klarer. Ein Laie sah in den unbearbeiteten Bildern nur verschiedene hell bis dunkelblaue Abstufungen. Für einen Planetologen wie Nehru dagegen waren diese Bilder sehr aufschlussreich. Er klopfte Wenjie gegen die Schulter. „Siehst du das?“ Er markierte einen großen, dunkelblauen Bereich mit einer roten Umrandung.
„Ist das eine Höhle?“
„Ja. Aber sie sieht so seltsam aus. Nicht wie ein Magmagang. Wir stehen beinahe über ihr. Warte... Ich glaube dort hinten ist der Eingang.“ Nehru hüpfte vom Fahrzeug weg. Wenjie sah ihm nach und stöhnte. Sie wollte die Beatbox und das Auto nicht alleinstehen lassen. Es gab zwar niemanden, der das Auto stehlen konnte, aber in der Landschaft konnte man sich schnell verlaufen.
Plötzlich schien Nehru wie vom Erdboden verschluckt zu sein. „Nehru wo bist du? Ich habe den Sichtkontakt verloren.“
„Hier ist Sand Wenjie. Der Höhleneingang ist mit Staub und Sand zugeschüttet. Da kommt man fast mit der Hand durch. Hilf mir mal.“
„Komm zurück zum Wagen. Dann fahren wir gemeinsam zur Höhle.“
„Jaja, keine Alleingänge, du hast ja recht. Warte eben.“
Es dauerte ein paar Minuten, bis Nehru wieder beim Wagen war, sie die Beatbox aufgeladen hatten und zum Höhleneingang fuhren. Für Wenjie war eine Höhle nichts Besonderes. Sie hatte auf dem Mond schon dutzende Hohlkammern und Höhlen gesehen. Sie wollte lieber die letzten vier Punkte mit der Beatbox bearbeiten, damit sie Feierabend machen konnte. Wenjie verstand daher auch nicht, weshalb Nehru sich wie ein Kind über seine Entdeckung freute.
Der Eingang der Höhle war nur mit einem Pulver verdeckt, das man leicht abstreichen konnte.
Auf dem Mond gab es keine Witterung, keinen Wind oder Regen, der den Staub bewegen könnte. Einzig ein Meteoriteneinschlag konnte genug Staub aufwirbeln, um Dinge zu verdecken. Aber solche Einschläge waren rar. Deshalb blieb jeder Fußabdruck und jede Reifenspur im Mondstaub für Jahrtausende erhalten.
Damit niemand die historischen Spuren der Apollofähren zerstörte oder unkenntlich machte, waren diese Gebiete zum Sperrgebiet ernannt worden. Wenjie hatte Fotos gesehen. Die berühmte amerikanische Flagge war inzwischen durch die intensive Strahlung der Sonne völlig ausgebleicht und weiß geworden. Ein beliebter Scherz auf der Station war, dass die Amerikaner absichtlich eine weiße Flagge gehisst hatten, damit sie schnell vom Mond fliehen konnten.
Abgesehen von der Flagge konnte man leicht den Eindruck bekommen, dass die Raumfähre erst wenige Tage zuvor dort gelandet war. Alles sah genauso aus, wie die Astronauten es zurückgelassen hatten, obwohl die erste Mondlandung fast zweihundert Jahre her war.
Inzwischen hatten die Menschen eine dauerhafte Mondbasis am Mondnordpol nahe der Berge des ewigen Lichts. Auch der Mars beherbergte seit langem menschliches Leben und erste Astronauten hatten die Jupitermonde betreten.
Mit Händen und einer kleinen Schaufel gruben sich Wenjie und Nehru durch den Mondstaub. Schließlich hörte Wenjie, wie ihre Schaufel gegen etwas Festes stieß. Neugierig entfernte sie den umliegenden Staub und fand eine glatte, dunkle Oberfläche. Sie gruben weiter, bis sie eine glatte, schwarze Wand freilegten. Sie war vier Meter hoch und drei Meter breit, und hob sich deutlich um umliegenden Mondgestein ab. „Das ist unmöglich… Das ist eine künstliche Mauer. Auf dem Mond!“
Nehru pfiff die Melodie von Strauss‘ Also Sprach Zarathustra. Er tastete die Wand mit seiner Hand ab. „Hier ist eine Art Griff“, stellte er fest.
Wenjie drängte ihn von der Tür weg. „Wir haben keine Ahnung was das ist. Wir sollten es nicht anfassen, bis Verstärkung eintrifft. Was, wenn es ein geheimes Projekt ist? Oder was wenn es….“
„Von Außerirdischen ist?“, beendete Nehru den Satz. Wenjie schluckte. Sie hatte nicht an diese Möglichkeit denken wollen, weil es ihr zu fantastisch vorkam. Als Nehru den Satz aussprach spürte sie, wie ihre Beine schwach wurden. Sie wollte diesen Gedanken nicht wahrhaben. Das Außerirdische auf dem Mond gewesen waren, klang für sie lächerlich.
Andererseits stand sie vor dieser Mauer, die kein Mensch gebaut haben konnte.
Die Station Selene an den Bergen des ewigen Lichts war das einzige Bauwerk seit der erste Mensch den Mond betreten hatte.
Aber falls diese Mauer wirklich von Außerirdischen gebaut worden war, wo waren sie? Hatten sie die Menschheit von hier aus beobachtet so wie Bakterien unter einem Mikroskop betrachtet werden?
Wenjie scholt sich sofort für solche irrationalen Gedanken.
Zu zweit konnten Nehru und Wenjie nicht hoffen, dieses Problem zu lösen. Wenjie öffnete einen Livefeed ihrer Helmkamera zur Basis. „Station, wir haben hier etwas gefunden. Könnt ihr es sehen?“
Sie konnte hören, wie am anderen Ende der Leitung nach Luft schnappte. „W-wartet. Bleibt auf eurer Position. Wir schicken euch Verstärkung. Unternehmt nichts allein. Nehru, fass nichts an.“
„Jaja“, grummelte Nehru. Wie er so ruhig bleiben konnte, war Wenjie ein Rätsel. Aber vermutlich bebte er unter seiner gelassenen Fassade genauso sehr wie sie.
Eine Stunde später kam eine ganze Fahrzeugkolonne an. Über vierzig Personen, fast die gesamte Bevölkerung Selenes, waren gekommen, um sich diese Mauer anzusehen. Umoja kam als erster zur Mauer gelaufen. Der Leiter der Mondstation verließ sie äußerst ungern und hasste es, die engen Raumanzüge zu tragen. Ihm folgte die leitende Biologin der Station, Svea Ludscholkw. Beim Anblick der Mauer stiegen ihr Tränen in die Augen. „Unglaublich!“, rief sie. „Das ist unglaublich.“
Der Rest der Astronauten bildete eine große Traube vor der Tür. Sie waren die intelligentesten Menschen der Erde, aber sie starrten die Mauer an wie Kleinkinder, die einen großen Hund sahen. Manche freuten sich, andere waren starr vor Angst und wollten am liebsten nach ihren Eltern rufen.
„Es ist übrigens keine Wand, sondern eine Tür. Dahinter ist ein großer Hohlraum.“, meinte Nehru. Seine Hand lag auf einem Griff in einer Vertiefung.
„Nicht so schnell“, meinte Umoja. Er ging die Tür von allen Seiten ab. „Habt ihr irgendetwas Besonderes darauf gefunden? Zeichen vielleicht Muster? Was ist das?“ Umoja kratzte die letzten Reste Mondstaub von einer Ecke der Tür ab. Darunter war ein Relief. Es war eine Kugel, die einen Planeten darstellte. Ein großer Kontinent zog sich auf der Kugel vom Nord und Südpol des Planeten. Ein paar kleinere bis mittelgroße Inseln waren die einzig anderen Landmassen.
„Ist das der Heimatplanet der Erbauer?“, fragte Umoja hochachtungsvoll.
Einer der Astronauten fiel Umoja ins Wort. „Nein, das ist die Erde“, sagte er mit einer zitternden Stimme. Er stolperte auf das Relief zu. Mit einem Laserpointer ummalte er ein Stück Land im dem Kontinent. „Das hier ist Afrika. Dieses Relief zeigt die Erde, als alle Kontinente noch in einer Landmasse vereint waren. Pangaea!“
„Das ist zweihundert Millionen Jahre her!“, rief Nehru. Jetzt klang auch er ernsthaft bestürzt.
Wenjie bekam kaum etwas von der darauffolgenden Diskussion mit. Ihr Geist war überfordert und sie versuchte die Ereignisse irgendwie zu verarbeiten.
Ihre logische Seite musste zugeben, dass es Sinn ergab. Falls Aliens in das Sonnensystem kamen, dann hätten sie es vor zweihundert Millionen Jahren tun können. Auf der Erde würde man keine Spuren mehr von ihnen finden.
Ihr menschlicher Geist kollabierte, als sie versuchte sich diese Zeitspanne vorzustellen. Die Dinosaurier waren eine unbedeutende Seitenart als dieses Mausoleum entstand. Ganze Kontinente wanderten in dieser Zeit über den Globus, Gebirge türmten sich auf und wurden abgetragen, Meere entstanden und trockneten aus, Eiszeiten überzogen den Planeten. Sogar manche Sterne entstanden und vergingen in dieser Zeit.
Auf dem Mond hingegen stagnierte alles. Manche Krater waren Milliarden Jahre alt und hatten sich seit ihrer Entstehung nicht verändert. Diese Anlage hier war wahrscheinlich das einzig verbliebene Relikt ihrer Erbauer.
Wenjie wurde erst aus ihrer Starre gerissen, als Nehru und viele andere Astronauten gemeinsam die Tür aufstießen. Geräuschlos schwang sie auf. Hinter ihr lag eine große, dunkle Leere.
Umoja betrat als erster die Höhle. Seine Schweinwerfer warfen das erste Licht seit Millionen von Jahren in diese Kammer. In ihren Maßen war die Kammer etwas größer als die Tür, sechs Meter hoch und sechs Meter breit. Die Kammer war hexagonisch gebaut und bestand aus demselben schwarzen Material wie die Tür. Der Raum war jedoch nicht leer. Er stand voll mit großen Tafeln, die vom Boden bis zur Decke reichen. Sie waren je zwei Meter breit allerdings nur wenige Zentimeter dick. Hinter jeder Tafel war etwas Platz, ehe die nächste begann.
Wie von einer unsichtbaren Hand geführt, lief Wenjie in die Kammer. Auf den ersten Blick waren die Tafeln schwarz und eben. Als sie die Ausschnitte der Wand mit ihrer Helmkamera vergrößerte, entdeckte sie winzig kleine Symbole, die in die Wand eingelassen waren. Ein waagerechter Strich und ein diagonaler Strich, ein Kreis und ein Kreis, der von einem Strich durchzogen wurde. Scheinbar willkürlich wechselten sich die Muster ab, aber Wenjie entdeckte ein Muster. „Das ist ein Code“, raunte sie. „All diese Tafeln… Sie sind beschrieben!“
„Dann könnte diese Tafel ein Programm verschlüsseln, auf dem ihre Spezies ihre gesamte Geschichte aufgeschrieben hat“, meinte Ludscholkw. Sie warf einen genauen Blick auf die Muster.
„Sind sie sicher?“, fragte einer der Anwesenden.
„Weshalb nimmt man den ganzen Weg zum Mund auf sich, baut unter enormen Kosten eine unterirdische Anlage, die die Ewigkeit überdauert und stellt darin beschriftete Tafeln auf? Um seine Lieblingsrezepte zu verewigen?“, erwiderte sie barsch. „Wir wissen nicht, welchen Zweck diese Anlage hat, aber falls die Erbauer ähnlich denken, wie wir, werden sie versucht haben sich zu verewigen, einen Teil ihrer Kultur zu bewahren, so wie wir es mit den Pioneer- und Voyagersonden gemacht haben.“
„Ein gewagter Schluss.“, meinte Umoja. „Aber er hat Hand und Fuß. Festplatten, Kristalle, DNS, all diese Datenträger verfallen mit der Zeit. Aber solider Stein im Vakuum überdauert.“
Wenjie löste sich von ihrer Tafel und rannte durch den Gang in der Mitte der Kammer. Links und rechts von ihr tauchten immer neue Tafeln auf. Der gesamte Gang war fast einhundert Meter lang und stand voll mit diesen Tafeln. Vierundsechzig waren es insgesamt. Jede war beidseitig beschrieben.
Trotzdem wirkte die Ansammlung an Daten viel zu klein. Wie groß mochte der Speicher für diese Daten sein? Ein Dutzend Terrabyte? Vielleicht mehr?
Diese Tafeln waren alles, was von dieser Kultur und Spezies übriggeblieben war. Wie mussten die Aliens entscheiden haben, was aus den Jahrtausenden ihrer Existenz erhaltenswert war und was nicht? Welche Form der Kunst sollte überdauern? Welche geschichtlichen Ereignisse wurden verschwiegen? Welche Ideen und Konzepte waren verloren?
Am Ende des Tafelgangs lagen sechzehn große Sarkophage. Sie lagen in Viererreihen nebeneinander. Die Äußersten waren zum Teil in die Wand eingelassen. Sie waren sehr groß und breit. Was immer darin lag, es war deutlich größer als ein Mensch. Wie bei den Tafeln waren auch sie mit den Codezeichen übersät.
Ludscholkw und Nehru holten Wenjie schließlich ein. Ein paar andere Astronauten kamen ebenfalls. Der Rest war noch von den Tafeln abgelenkt.
„Sollen wir die Sarkophage öffnen?“, fragte Nehru. Seine Hand lag schon auf einer Steinplatte. Ludscholkw trieb ihn weg. „Niemand öffnet sie Sarkophage oder fasst sie an“, bestimmte sie.
„Aber die Knochen darin könnten noch existieren. Vielleicht sogar DNS.“
„Und wenn du sie mit deinen groben Pfoten anfasst, zerfallen sie sofort. DNS wird keine mehr da sein. Die zerfällt schon nach wenigen hunderttausend Jahren vollständig“, erklärte Ludscholkw barsch. Stattdessen ging sie vorsichtig alle Sarkophage ab. Bei einem blieb sie überrascht stehen. Der Deckel lag etwas schief und ein kleiner Spalt des Sarkophags war offen.
Hatten die Erbauer dieser Kammer diesen Spalt absichtlich offengelassen? War vor den Menschen schon einmal jemand hier? Diese Fragen brannten Wenjie auf den Fingernägeln, als Ludscholkw ein kleines Kabel mit einer Lampe und einer Kamera durch das Loch in den Sarkophag ließ.
Wenjie sah sich auf dem Helmdisplay die Bilder der Kamera an. Im Sarkophag lagen tatsächlich große Ansammlungen von Knochen. Sie waren von den Erbauern in eine lebensnahe Position gelegt worden. Der Schädel der Erbauer bestand aus massiven Knochen. Er endete in einem schmalen, runden Hornschnabel. Aus dem Oberkiefer wuchsen zwei lange Zähne ähnlich wie die Hauer eines Wildschweins. Ansonsten war der Kiefer völlig zahnlos. Das Wesen hatte einen kurzen Nacken und sehr kräftige Schultern. Davon gingen lange Arme aus, die in vier kräftigen Fingern endeten. Der Brustkorb war ebenfalls sehr groß. Die Beine waren viel kürzer als die Vorderarme und hatten ebenfalls vier Finger. Der Schwanz war nur ein kurzer Stumpf. Aufgerichtet hätte das Skelett von seiner Haltung her Ähnlichkeit mit dem eines Gorillas gehabt. Seine Schulterhöhe würde dann einen Meter siebzig betragen. Damit war der Erbauer etwa so groß wie ein Mensch. Aber seine Struktur war deutlich massiger und breiter.
„Was ist das?“, fragte Nehru. Er wollte sich am Kopf kratzen und vergaß dabei, dass er einen Helm trug. Ludsckolkw wusste ebenfalls keine Antwort.
Da meldete sich Jenny Luen zu Wort über Funk. Sie war auf der Mondbasis verblieben, hatte aber alle Entdeckungen per Video verfolgt und als Livestream zur Erde geschickt. Wissenschaftler, Politiker und Journalisten schickten tausende Anfragen zum Mond, die wegen der enormen Entfernung mit einer kurzen Verzögerung eintrafen. Einer dieser Wissenschaftler war ein südafrikanischer Paläontologe, den Luen mit Ludscholkw und den anderen Astronauten verband. „Das Skelett gehört ohne Zweifel zu einem Dicynodontier! Der Schädel ist eindeutig, der Hornschnabel, die Vorderzähne. Nur die Anzahl der Finger passt nicht. Dicynodontier haben fünf Finger an den Vorderhänden. Sie…“
„Entschuldigung, wer sind sie?“, fragte Ludscholkw. Wegen der Verzögerung fiel sie dem Mann ins Wort.
„Paul Heedhoven, Paläontologe der Universität Johannesburg. Ich bin Experte für die Triaszeit, die Zeit, in der das Relief an der Tür geschnitzt wurde.“
„Moment… Luen seit wann schickst du unsere Daten zur Erde?“
„Seit wir wissen, dass die Mauer künstlich ist.“
„Aber wir wissen doch selbst noch nicht, was wir hier haben.“
„Weshalb wir jede Hilfe brauchen können.“
Ludschoklw schnaufte verächtlich. „Also Heedhoven, was ist ihre brillante Theorie? Das hier sind keine Aliens? Das hier sind Lebewesen von der Erde?“ Wenjie kam diese Idee noch seltsamer vor als Aliens.
Paul Heedhoven schwieg eine Zeit lang. Ludschoklw lief inzwischen unruhig vor dem Sarkophag hin und her. Als Heedhoven sich wieder meldete, bekam sie einen großen Schreck.
„Ich sehe keine andere Möglichkeit“, sagte der Paläontologe. Er klang selbst fassungslos. „Ich bin es mit meinen Kollegen durchgegangen. Seit dreißig Jahren studiere ich die Fauna der Trias. Wie gesagt, der Schädel dieses Wesens dort besitzt alle eindeutigen Anzeichen für einen Dicynodontier, einer Tierfamilie, die in der passenden Zeit lebte. Das einzige Problem ist, dass Dicynodontier fünf und nicht vier Finger haben und wir haben kein Anzeichen für eine derartige Intelligenz bei ihnen gefunden. Es müsste sich um eine Seitenlinie handeln, von der wir keine Fossilien gefunden haben.“
Ludscholkw schüttelte ihren Kopf. „Das kann nicht sein. Diese Kreaturen sind bis zum Mond gekommen. Sie müssen gewaltige Städte gebaut, künstliche Materialien erzeugt haben. Es muss doch irgendwelche Spuren geben. Skelette, Ablagerungen künstlicher Materialien in Bodenschichten. Wir leben schließlich im Plastikzeitalter.“
„Ich fürchte nein. Die Chancen, dass ein Lebewesen überhaupt zu einem Fossil wird, sind enorm gering. Vielleicht von jedem tausendsten bleibt in Knochen übrig, jedes millionste bleibt vielleicht als vollständiges Skelett erhalten. Und auch dann muss es nahe genug an der Oberfläche sein, um gefunden zu werden, aber weit genug entfernt, um nicht zu verwittern. Und alle künstlichen Ablagerungen, die sie vielleicht erzeugt haben wirken nach so langer Zeit vermutlich vollkommen natürlich auf uns.
Vielleicht interpretieren wir sie als die Spuren eines natürlichen Ereignisses wie eines Supervulkanausbruchs. Vielleicht sind wir auf indirekte Spuren gestoßen. Möglicherweise haben sie etwas mit dem Massenaussterben am Ende des Perms zu tun. Vielleicht ist der Lystrosaurus im Fossilbericht deshalb so häufig, weil er eine Art Nutztier für diese Wesen war, so wie Kühe und Schweine wegen uns heute weltweit verbreitet sind.
Nach allem was ich hier gesehen habe, gibt es für mich zwei Hypothesen. Entweder die Erbauer sind Außerirdische, die zu der Zeit im Sonnensystem waren, als eine nahezu identische Tierfamilie auf der Erde lebte, die nichts mit ihnen zu tun hat, oder sie entstammen dieser Tierfamilie und sind bis zum Mond gekommen. Ohne genauer Untersuchungen ist beides reinste Spekulation.“
Wenjie musste sich auf dem Sarkophag abstützen. Wenn Heedhoven recht hatte, waren die Erbauer deutlich älter als die Dinosaurier, die erste intelligente Spezies der Erde. Was sagte das über die Menschheit aus? Jahrtausende lang glaubte sie, sie sei die einzige intelligente Spezies gewesen.
Jahrhundertelang suchte sie in den Sternen nach Spuren außerirdischer Intelligenz.
Mit diesem Mausoleum änderte sich das.
Was, wenn die Erde bereits andere Kulturen hervorgebracht hatte? Aber wieso sollten sie so ein Mausoleum auf dem Mond errichten? Wenjie sah zu den Tafeln. Dort musste die Antwort stehen. Bis es möglich war diese Daten zu übersetzen, würden jedoch noch Jahre vergehen. Falls es überhaupt möglich war.
Umoja und die restliche Gruppe hatte das Gespräch zwischen Ludscholkw und Heedhoven mitgehört und sich umgehend auf den Weg zu den Sarkophagen gemacht. Sie bestaunten die Objekte und die Bilder des Skeletts.
Da meldete sich Nehru. „Leute, hier stimmt etwas nicht.“ Er stand am Ende der Kammer und beleuchtete den Boden. Der glatte, scharfe Stein hörte in einer geraden Linie auf und gab etwas Mondboden preis. Dahinter ging die Mauer weiter. Während sich die Leute fragten, was dieser Schnitt im Bauschema zu bedeuten hatte, beleuchtete Nehru die Wand.
„H-hier ist ein zweites Relief“, stöhnte er. Eine zweite Abbildung der Erde war in die Wand eingelassen. Der Urkontinent war auseinandergebrochen. Ein schmaler Atlantik trennte Nord- und Südamerika von Afrika und den europäischen Inseln. Südamerika, Australien wurden nur durch schmale Meere von der Antarktis getrennt. Indien war eine große Insel oder eigener Kontinent, und Teile Nordamerikas und Ostasiens waren überflutet.
Ein ehrfürchtiges Schweigen erfüllte die Halle. Nehru und vier weitere Personen fanden die Tür in die nächste Kammer. Diese sah der ersten sehr ähnlich. Auch hier war der Raum hexagonisch und bestand aus demselben Material. Aber die Tafeln hatten eine andere Breite und Dicke. Es waren auch nicht vierundsechzig, sondern einundachtzig Tafeln.
Wenjie verlor keine Zeit. Sie lief die ganze Halle entlang. Auch hier lagen am Ende wieder mehrere Sarkophage, zwölf Stück in Dreierreihen. Ludscholkw gab den Befehl einen Sarkophag ein Stück weit zu öffnen. Dann führte sie ihre Minikamera hinein. Dieses Skelett stammte von einem Dinosaurier. Vom Kopf bis zur Schwanzspitze maß er etwa drei Meter. Auf seinem Kopf hatte das Wesen einen schmalen Knochenkamm. Mit seinem kurzen aber starken Schnabel und den zierlichen Knochen wirkte das Skelett sehr vogelähnlich. Der Kopf lag an einem langen, beweglichen Hals. An den langen Armen hatte das Wesen drei Fingern mit scharfen Krallen an den Enden. Die Beine wirkten straußenartig und kräftig.
„Heedhooven, was haben wir hier?“, wollte Ludscholkw wissen. „Heedhoven, sagen sie bitte etwas.“
Es dauerte eine Weile, bis der Paläontologe sich meldete. „Das ist unglaublich! Ich habe mit einem Kollegen gesprochen. Er sagt, dass dieser Dinosaurier zur Gruppe der Oviraptorsauria gehört. Sie lebten in der späten Kreide in Asien.
Wissen sie, was das bedeutet? Falls meine Hypothese, dass die Erbauer dieser Anlage eine vorherige Kultur waren, zutreffen sollte, dann hätten sich innerhalb von zweihundert Millionen Jahren drei intelligente Spezies auf der Erde entwickelt, die Raumfahrt entwickelt haben und bis zum Mond gekommen sind. Wie viele Kutluren könnten sich dazwischen entwickelt haben und sind untergegangen, bevor sie soweit kamen? Was, wenn Intelligenz gar keine Ausnahmeerscheinung ist? Was, wenn sie völlig normal ist? Wieso denn auch nicht? Den großen Intelligenzschub hatte unsere Art in den Letzen zwei Millionen Jahren erhalten. Das vielzellige Leben hingegen hatte fünfhundert Millionen Jahre Zeit Intelligenz zu entwickeln.“
Ludscholkw verzog angespannt ihr Gischt. „Bleiben sie ruhig Heedhoven. Sie stürzen sich Hals über Kopf in die Sache hinein.“
„Sicher, sicher. Aber bedenken sie folgendes: von 99% aller Arten die je gelebt haben, haben wir kein Beweis ihrer Existenz. Sie haben keine Fossilien oder sonstige Spuren hinterlassen. Bedenken sie, was alles darunter sein könnte.“
Wenjie löste sich langsam von den Sarkophagen. Wie in Trance lief sie weiter durch die Kammer. Das Mausoleum war finster, aber für sie wirkte es ebenso herrlich und klar wie eine Kathedrale. Am Ende der Kammer befand sich eine Wand. Sie bestand aus rohem Mondgestein.
Wenjie legte ihre Hand darauf und lächelte. Hier begann der Abschnitt für die Menschheit, hier würde sie sich verewigen.