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Das Schulgespenst
Ben, der von seinen Freunden Benni genannt wurde und von den meisten nur der Dürre, saß in der vorletzten Reihe links am Fenster, also aus seiner Sicht war es links, die Lehrerin schaute immer sofort nach rechts, wenn von irgendwoher ein Zwischenruf kam. Dabei waren es die anderen, die ihn so oft quälten. Wenn er sich dann einmal zur Wehr setzte, geriet er sofort in den Fokus von Frau Grosser, die ihrem Namen in keinem Punkt Ehre machte.
Die Sonne war noch nicht aufgegangen, schließlich war es schon Ende November und sie hatten nullte Stunde. Ben gähnte, Mathe war einfach nicht sein Fach. Jemand warf einen Papierschnipsel in seine Richtung. Er ignorierte es. Ein zweiter kam geflogen, dann ein dritter, der sich in seinen ordentlich gekämmten Haaren verfing. Während er noch versuchte, das Kügelchen zu entfernen, hörte er, wie das Klassenschönchen Katja sich zu Hauke drehte und fragte, ob er noch mehr davon hätte, sie wolle auch mal. Man konnte meinen, Frau Grosser lebte in einem Paralleluniversum, denn sie bekam von all dem hier nichts mit oder tat wenigstens so. Für Ben war es zur Normalität geworden. Solange nichts Schlimmeres geschah, er nicht die Treppe hinuntergestoßen wurde und sich ein Bein brach, wie voriges Jahr, kam er gut damit klar. Wenn er nicht gerade überlegte, ob es ein schmerzvoller Tod wäre, sich vor einen Zug zu werfen oder vom Zehnmeterbrett einen Bauchklatscher hinzulegen. Letzteres würde wohl nicht ganz ohne Schmerzen abgehen, diese Erfahrung hatte er schon aus einem Meter Höhe machen müssen.
„Ben, wie errechnet sich die Höhe eines gleichschenkligen Dreiecks, wenn seine Schenkellängen zwanzig Zentimeter betragen und die Grundseite zehn Zentimeter lang ist?“ Alle Köpfe drehten sich in seine Richtung. Leichter Schweiß bildete sich auf seiner Stirn. Er hatte keine Ahnung. Er hatte noch nicht einmal richtig zugehört. In Gedanken war er schon wieder zu Hause, in seinem Zimmer, in seiner Fliegerecke mit einem Wälzer in der Hand und las oder träumte sich in ferne Galaxien, wo Hauke, Andreas und Niklas ihn nicht erreichen konnten. Und das Klassenschönchen Katja auch nicht. Blöde Kuh. Blöde Kuh mit rehbraunen Augen.
„Wird das heute noch?“ Er zuckte zusammen, nein, das wurde heute wohl nichts mehr. Ben wollte schon antworten, dass er die Antwort leider nicht kannte, als etwas geschah, das ihn erstaunte. Als hätte jemand die Zeit angehalten, verharrten alle Mitschüler plötzlich reglos an ihren Plätzen. Frau Grosser auch. Das Zimmerlicht war erloschen und die Tür hatte sich geöffnet. Eine aschfahle Gestalt betrat den Raum und kam direkt auf Ben zu. Es war ein Junge. Etwa in seinem Alter. War er auch in der 9. Klasse? Ben hatte ihn vorher noch nie gesehen, obwohl er immer aufmerksam alle Schüler taxierte. Er wollte seine Feinde kennen und nicht versehentlich in einen Hinterhalt geraten. Etwas an dem Jungen war merkwürdig. Was war es nur? Bens Blick fiel auf die Hose des Ankömmlings. Diese sah verdächtig nach einer überdimensionalen Schlaghose aus. Das Hemd war orange und lag eng an. Wer kleidete sich so? Damit musste der Junge in jedem Fall Aufsehen erregen und würde wohl das nächste Angriffsziel für Haukes Clique werden. Noch immer war es dunkel. Erst als sich die Gestalt bis auf Armeslänge genährt hatte, sah er eine Art hellen Schimmer, der sich auch auf ihn übertrug. Prompt wurde Ben ruhig. Als wenn gerade ein Freund den Raum betreten hätte.
„Ich bin Emil“, stellte sich der Andere vor und streckte ihm die Hand entgegen. Ben starrte ihn an. Emil, was für ein komischer Name.
„Willst du dich nicht auch vorstellen?“ Ben konnte nicht gleich antworten. Was ging hier vor sich? Unversehens schoss es aus ihm hervor:
„Ich heiße Ben, okay? Einfach Ben. Jetzt ist nur leider der falsche Zeitpunkt - was auch immer du von mir willst. Frau Grosser will ein Ergebnis, und zwar subito.“ Das Wort ‚subito‘ flocht er immer wieder gern in seine Sätze ein, um cooler zu wirken. Meistens tat er das nicht. Aber bei Emil schien es zu funktionieren.
„Subito? Was heißt das denn?“
„Schnell, mit Hyperschall sozusagen. Du warst wohl noch nie in Italien?“
„Nein, war ich nicht. Meine Mutter hatte kein Geld für solche Reisen. Weiter als bis zur Nordsee bin ich nie gekommen.“
„Kann ja noch werden“, bemerkte Ben, der den traurigen Blick von Emil wahrgenommen hatte und den jetzt ein unsicheres Gefühl beschlich.
„Nein, das wird nix mehr. Jetzt sollten wir aber mal das Thema wechseln und auf die Höhe des Dreiecks zu sprechen kommen. Sie beträgt genau 19,36 Zentimeter. Sie errechnet sich, indem du den Satz des Pythagoras anwendest. Kennst du, oder?“ Ben nickte.
„Die gesuchte Höhe entspricht der Länge der größeren Kathete. Die kleinere Kathete hat eine Länge von fünf Zentimetern, da das die Hälfte der Grundseite ist. Die Hypotenuse ist zwanzig Zentimeter lang, wissen wir ja. Jetzt musst du die Gleichung nur noch nach der Höhe auflösen. Hast du gestern erst gemacht. Verstanden? Und kannst du dir das merken? Ich muss gleich wieder los.“
„Ja, glaub schon, Digger, danke, woher weißt du das denn? Und wieso sagst du es mir? Mir hat hier noch nie jemand geholfen.“ Naja, Paul und Finn würden schon helfen, aber die waren leider nicht in seiner Klasse.
„Mach‘s gut. Pass nur auf, wenn du in die Pause gehst. Hauke will dir ein altes Harzerkäse-Brötchen in die Tasche legen. Er wird warten, bis du weg bist. Nimm die Tasche einfach mit. Vielleicht gehst du auch ins Sekretariat und sagst, dass dir nicht gut ist. Mit etwas Glück darfst du nach Hause.“
„Hey Alter, wieso sagst du das?“ Doch Emil hatte sich schon wieder umgedreht und ging in Richtung Tür.
„Emil, hallo?“ Die Tür fiel ins Schloss, das Licht ging wieder an und die Lehrerin beäugte ihn argwöhnisch.
„Es sind 19,36 Zentimeter. Wir rechnen …“ - hier lief Ben nach vorne an die Tafel, zeichnete ein Dreieck und beschriftete alle Seiten mit den gegebenen Werten. Dann lief alles wie von selbst. Als würde jemand seine Hand führen.
„Ist eigentlich relativ einfach“, konstatierte er am Schluss und fragte sich, woher er diese Sicherheit nahm. Frau Grosser straffte ihren Rücken, was sie ein wenig größer erscheinen ließ, und schien mit seiner Antwort zufrieden zu sein. Wenigstens machte sie im Stoff weiter und ignorierte ihn wieder. Die anderen Jugendlichen schauten enttäuscht, denn die für den Dürren erhoffte Blamage war ausgeblieben. Ach was. Der hatte einfach Glück gehabt.
Es klingelte zur Pause und Ben fragte sich noch immer, was das für ein abgefahrener Traum gewesen war und ob er jetzt wirklich zum Sekretariat gehen sollte. Trotz anwachsender Bauchschmerzen blieb er. Als er von der Hofpause in das Klassenzimmer zurückkehrte, bemerkte er den üblen Geruch, der von seinem Platz ausging, sofort.
Die nächsten drei Tage passierte nichts, was der Rede wert gewesen wäre. Ein gestohlener Radiergummi, ein hämisches Spottlied auf seine magere und hochgewachsene Gestalt – irgend so ein Vergleich mit Giraffen - und natürlich Schnipser gegen seinen Hinterkopf. Wirklich nicht dramatisch. Den Ranzen auf dem Rücken trabte er gedankenversunken in Richtung Steindamm. Von dort waren es nur noch vier Querstraßen, dann war er zu Hause. Dass sich Hauke und Andreas von hinten an ihn anschlichen, sah und hörte er nicht. Als er den Stoß spürte, war es schon zu spät. Er verlor das Gleichgewicht, glitt aus und krachte mit dem Kopf auf einen Pflasterstein. Die Welt wurde schwarz. Minuten vergingen bis Ben wieder erwachte. Emil saß neben ihm. Er trug die gleichen weit ausladenden, abgeranzten Jeans und das identische orangefarbene Hemd wie bei der ersten Begegnung im Klassenraum.
„Mensch Ben, was machst du denn für Sachen? Du musst besser aufpassen, wenn du läufst. Diese Dinger auf deinem Kopf solltest du stecken lassen. Hast du es eigentlich deinen Eltern schon erzählt?“
„Was erzählt?“, fragte Ben und wollte es wirklich wissen.
„Was sie mit dir tun. Das ist nicht in Ordnung, weißt du?“
„Wer tut was?“ Jetzt war nicht ganz klar, ob Ben nicht doch wusste, wovon hier die Rede war, ob es ihm peinlich war, dass jemand erkannt hatte, dass ihm die unselige Opferrolle zugedacht worden war, die wie Pech und Schwefel an ihm haftete, während sich alle anderen ihres Schullebens freuten. Er fixierte Emil und beschloss, erst einmal nichts zu sagen. Wer etwas sagte, ging aus der Defensive und das endete oft schlecht.
„Ach Ben, das ist doch schon dabei, schlecht zu enden und das weißt du auch. Du wirst das nicht aushalten. Das kann keiner. Du brauchst Hilfe.“ Ben zog die Stirn in Falten.
„Woher willst du das denn wissen? Wer bist du überhaupt? Ich komme gut allein zurecht. Ich brauche dich nicht. Ich brauche NIEMANDEN.“ Die letzten Worte hatte Ben fast geschrien, so hatte er sich in Rage geredet und so angenehm war es, einmal in der stärkeren Position zu sein. Doch gleich darauf tat es ihm wieder leid, denn in den Augen von Emil standen Tränen.
„Ben, hol dir Hilfe, sonst endest du so wie ich. Glaub mir. Das willst du nicht.“ Ben schloss die Augen, atmete tief ein und wollte gerade zu einer Antwort ansetzen, doch als er die Augen wieder öffnete, war Emil verschwunden.
Natürlich hatte er es niemandem gesagt. Seine Mutter hatte skeptisch geschaut, als er von einem Ausrutscher gesprochen und sich mit Kopfschmerzen ins Bett gelegt hatte. Am Ende hatte sie nicht weiter nachgefragt und Ben war es recht. Er wollte sich nicht erklären; wenn er nicht darüber sprach, dann konnte er sich vorstellen, alles wäre in Ordnung.
Die nächsten Tage wollte er nicht aufstehen und seine Mutter schrieb ihm eine Entschuldigung für die Schule. Als er auch in der darauffolgenden Woche nicht aus dem Bett wollte, machte sich seine Mutter doch langsam ernste Sorgen und vereinbarte für den nächsten Tag einen Termin beim Arzt. Er hatte also noch vierundzwanzig Stunden Gnadenfrist. Die würde er nutzen. Nein, der Doktor würde ihn nicht zu Gesicht bekommen.
Vier Stunden später, seine Mutter war gerade einkaufen, schrieb er noch ein paar Zeilen, zog seinen Lieblingspullover an, nahm Mütze, Schal und Jacke und eilte hinaus. Wo er hin wollte, wusste er nicht so genau, aber es zog ihn fort, in eine ganz bestimmte Richtung. Züge waren schon immer seine Leidenschaft gewesen. Es hatte eine Zeit gegeben, da hatte er Lokführer werden wollen. Früher einmal. Später dann Pilot und irgendwann wusste er, dass er für all das zu dumm war.
Nachdem er eine halbe Stunde in Richtung des Hauptbahnhofs gelaufen war, beschlich ihn das Gefühl, dass er verfolgt wurde. Er lief schneller. Der Typ hinter ihm auch. Als er das orangefarbene Hemd sah, wusste er, wer ihn aufhalten wollte. Aber das würde er nicht schaffen. Ben rannte jetzt, es war nicht mehr weit. Er kannte die ungesicherte Stelle seit langem. Nachdem er sie erreicht hatte, zwängte er sich hindurch. Sein Herz raste, gleichzeitig war er innerlich vollkommen ruhig oder leer, ja leer traf es wohl eher. Den Verfolger hatte er abgehängt. Vor ihm lagen die Gleise. Das erste war tot. Er lief weiter. Noch drei Minuten. Dann würde der Zug aus Lübeck kommen und würde ihn mitnehmen. Für immer.
„Bleib stehen, Benni, bleib stehen. Du kannst mir nicht entkommen. Wo auch immer du hinwillst. Ich bin schon dort.“ Ben versuchte, noch einen Zahn zuzulegen, aber er schniefte bereits selbst wie eine Dampflock. Auch Sport war nicht so seins.
„Emil, bleib weg, das ist meine Sache, das geht dich nichts an.“
„Hört, hört, das geht mich nichts an.“ Emil zwang sich zur Ruhe.
„Machen wir einen Deal, du hörst dir meine Geschichte an und dann kannst du gehen. Siehst mich nie wieder. Versprochen.“ Ben wurde langsamer. Das klang fair. Er hatte schon so viele Stories gehört, die er nicht hatte hören wollen, dass es auf diese eine auch nicht mehr ankam. Wenn er dann nur seine Ruhe hatte.
„Okay, erzähl schon. Aber beeil dich, ich habe keine Zeit.“
„Nun, zum einen scheint das bei dir immer so zu sein und zum anderen sehe ich das anders. Aber wenn du meinst. Komm, gehen wir dort rüber, hier ist es zu gefährlich. Und pass auf die Stromschiene auf. Sie ist zwar abgedeckt, aber man kann ja nie wissen.“ Emil trug wieder die gleiche Kleidung, aber als Ben genauer hinsah, bemerkte er jetzt Blutflecken auf dem Hemd und das rechte Hosenbein hing in Fetzen. Er fröstelte.
„Was ist mit dir passiert?“
„Oh Ben, du kennst meine Geschichte, denn es ist auch deine Geschichte. Es war 1979. Mein Unglücksjahr. Oder nein, die Jahre davor waren auch schon ziemlich schlimm. Aber da hatte ich noch Peter.“ Emil seufzte, dann besann er sich, dass er schnell machen musste.
„Peter war mein einziger Freund. 1979 bekam sein Vater ein Jobangebot in München. Den Rest kannst du dir denken. Nachdem Peter weg war, hatte ich niemanden mehr. All diese Hyänen in meiner Klasse. Jetzt war ich Freiwild. Das Martyrium wollte kein Ende nehmen. Ich dachte, ich hätte es verdient. Die Welt war besser dran ohne mich. Es war ein Montag und ich wusste, dass ich den Rest der Woche nicht mehr durchstehen würde.“ Ben rührte sich nicht. Wieder starrte er Emil an. Dieses Mal gab es keinen Heiligenschein. Dieses Mal fühlte es sich nicht gut an.
„Und dann? Was hast du gemacht?“ Aber eigentlich wusste Ben es schon. Er sah auf Emil hinab, der kaum wiederzuerkennen war. Sein rechter Unterschenkel fehlte und überall war Blut. Unmengen Blut. Alles drehte sich. Die Schienen wurden zu Wellen und die Wellen bildeten Kreise. Wurde er ohnmächtig? Er hörte, wie Emil röchelnd weitersprach.
„Es war eine Kurzschlusshandlung. Ich bin einfach gesprungen. Mitten auf die Gleise, dann kam der Zug. Ich lebte noch, bis der Notarzt eintraf. Aber sie konnten das Blut aus meinem Bein einfach nicht stoppen. Ich hatte noch nicht einmal einen Abschiedsbrief geschrieben. Meine Mutter weint noch heute. Sie ist mittlerweile 78 und erzählt jedem, wie sehr sie sich auf den Tod freut. Sie war keinen Tag seit damals mehr glücklich. Verstehst du das? Ich weiß, ich war ein Opfer und ich war ein Kind. Aber meine Mutter will seit 16.425 Tagen zu mir und wenn es ihr irgendwann gelingt, auf die andere Seite zu kommen, werde ich noch immer in dieser Schule sein.“ Ben hatte sich jetzt hingesetzt. Das klang wirklich alles nach seiner Geschichte. Zumindest hatte er einen Abschiedsbrief geschrieben. Ein Bild seiner Mutter tauchte vor seinem inneren Auge auf. Eine kleine, todtraurige Frau in einem schwarzen Mantel. Gab es denn keine andere Lösung? Musste sich das Schicksal immer und immer wiederholen? Das Geräusch des herannahenden Zuges verstärkte sich, von Windhauch zu Orkanstärke. Ben konnte nicht mehr denken, nur noch fühlen. Er fühlte sich kalt, ohne Trost, ohne Liebe. Doch er wurde geliebt. Emil, der mittlerweile wieder eine rosige und vollständige Gestalt angenommen hatte, zeigte es ihm. In tausend Bildern. Jetzt rannen Tränen über Bens Gesicht. Er begann, den Weg zu sehen, von dem er dachte, dass es ihn gar nicht gab. Dann kollabierten die Wellen und rissen ihn davon.
Ein Pfleger beugte sich über sein Krankenbett.
„Mensch Junge, was hast du für ein Glück gehabt. Der Lokführer hat dich gerade noch rechtzeitig gesehen.“ Am Fußende des Bettes stand seine Mutter. Sie versuchte vergebens, die Tränen zurückzuhalten. Ben streckte die Hand zu ihr aus. Es würde eine lange Nacht werden.